Im Parlament und in den Ausschüssen wird zur Zeit über einen zwischen den Fraktionen abgestimmten Gesetzesentwurf zur anonymen Geburt verhandelt. Verzweifelten Müttern soll es möglich gemacht werden, ihr Kind zur Welt zu bringen, ohne dass sie sich namentlich als Mütter zu erkennen geben müssen. Die Mutter und das Krankenhaus sowie die Hebammen wären von der bisher gesetzlich notwendigen Nennung des Mutternamens bei der Meldung der Geburt befreit. Die Mutter kann dem Kind in einem verschlossenen Umschlag eine Nachricht bei einem Standesbeamten hinterlassen, die dem Kind auf seinen Wunsch hin nach seinem 16. Geburtstag ausgehändigt wird. Das Jugendamt wird zum amtlichen Vormund des anonym geborenen Kindes bestellt, das auch zuständig ist für eine evtl. Adoption. Eine Pflicht-Beratung ist nicht vorgesehen.
Bei den bisherigen Beratungen und Anhörungen sind erhebliche Einwände gemacht worden. Dabei wollen viele grundsätzlich eine solche oder ähnliche Lösung schwieriger Fälle, um solche Frauen in einer besonderen Not überhaupt zu erreichen, um das Leben des Kindes und auch der Mutter nicht zu gefährden, vor allem durch eine medizinische Entbindung, und um einen späteren Abstammungsnachweis für das Kind sicherzustellen. Der Haupteinwand richtet sich gegen die naheliegende Gefahr, dass der Entwurf dem verfassungsrechtlich verbürgten Recht des Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung nicht im gebotenen Umfang Rechnung trägt. Die Befürworter der anonymen Geburt sind der Meinung, ein einziges gerettetes Leben sei eine ausreichende Begründung, das Grundrecht des Kindes zu verletzen, nämlich seine Herkunft genauer zu kennen.
Dies ist gewiss ein sehr ernstzunehmender Grund, den gerade die bedenken müssen, die sich auch sonst für den Lebensschutz des ungeborenen Kindes einsetzen. Aber die bisher geltende Norm, sich als Mutter beim Standesamt eintragen zu lassen, ist nicht eine bürokratische Schikane, sondern ist vor allem ein Ausdruck der Verantwortung für ein Kind, und zwar nicht nur zum Zeitpunkt der Geburt, sondern für das ganze Leben. Die vorgesehene Regelung könnte leicht dazu beitragen, sich vor dieser elterlichen Verpflichtung zu drücken. Gewisse Väter oder Zuhälter könnten so die Frau unter Druck setzen, sich auf jeden Fall von ihrem Kind unwiderruflich zu trennen (Frau Andrea Fischer MdB).
Es gibt auf diesem Feld noch sehr wenige Erfahrungen und erst recht Auswertungen. Es ist (noch) nicht sicher, ob man die betroffenen Frauen überhaupt erreicht. Die aus der Verfassung begründeten Bedenken wiegen schwer. Elementare Voraussetzung wäre eine Pflichtberatung, um der Frau in einer besonders riskanten Situation Beistand zu leisten und so auch das Recht des Kindes auf das Wissens einer eigenen Herkunft zu sichern. Dies ist nach meinem Urteil ein Minimum, um die Verfassungswidrigkeit auszuschließen. Es ist ganz und gar unverständlich, warum der interfraktionelle Entwurf dies nicht vorsieht. Gewiss spielen hier auch finanzielle Belastungen eine Rolle. Aber was ist das menschliche Leben dann außer Beteuerungen wirklich wert?
Die Abgeordnete Frau Margot von Renesse - Familienrichterin und bekannte Expertin für aktuelle Fragen zwischen Medizin, Recht und Ethik - hat den überlegenswerten Vorschlag gemacht, die Identität der Mutter vertraulich an das Standesamt zu melden (ohne Anspruch einer Behörde oder eines Gerichtes auf Offenlegung), wobei das Kind auch hier nach Vollendung des 16. Lebensjahrs die Kenntnis der Daten verlangen kann. In diesem Konzept wäre eine Beratung der Frau zwingend vorausgesetzt.
Es ist nicht sicher, ob die Sache bis zum Ende der Legislaturperiode inhaltlich wirklich ausdiskutiert werden kann. Zwar ist eine verlässliche Regelung auch angesichts weniger Fälle notwendig – es gibt hier im Augenblick schwierige Grauzonen –, aber wenn die Sache jetzt nicht solide beraten und entschieden werden kann, sollte sie eher verschoben werden. Auch hier gilt: Eile mit Weile.
(c) Karl Kardinal Lehmann
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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