(aus: Karl Kardinal Lehmann 2001: Dokumentationen, Erinnerungen und Informationen zur Kardinalserhebung des Bischofs von Mainz, mit einer Darstellung der Geschichte des Kardinalats und der ersten Biografie Karl Lehmanns, herausgegeben im Auftrag des Bistums Mainz von Barbara Nichtweiß, 176 Seiten, 172 Abbildungen, Mainz 2001, S. 111 - 117)
Sie haben im Zusammenhang der Neuberufungen in das Kardinalskollegium am 22. Februar 2001 allen deutschen Kardinälen einen umfangreicheren Brief geschrieben, der auch vom Apostolischen Stuhl ungekürzt veröffentlicht wurde und in der deutschen und internationalen Presse große Beachtung gefunden hat. Ich habe Ihnen nach Erhalt des Briefes kurz gedankt, aber auch eine ausführlichere Antwort angekündigt, die ich mit diesem Schreiben versuchen möchte. Wir deutschen Kardinäle, ob sie in Rom residieren oder in Deutschland ihre Verantwortung ausüben, haben unabhängig von unseren Aufgaben jeweils Ihren Brief persönlich erhalten, der freilich denselben Wortlaut hat. Auch wenn ich die Aufgabe eines Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz innehabe und mich deshalb an einigen Punkten Ihres Schreibens besonders angesprochen fühle, so möchte ich meine Antwort als ganz persönliche Reaktion verstanden wissen, für die kein anderer irgendeine Mitverantwortung trägt.
1. Heiliger Vater, zuerst möchte ich Ihnen aber nochmals von ganzem Herzen für die Berufung in das Kardinalskollegium danken. Ich habe dies nicht erwartet, umso größer war meine Freude, als ich die Nachricht von der Ernennung am 26. Januar erhielt, die dann am 28. Januar veröffentlicht wurde. Von Anfang an habe ich darin nicht nur eine Anerkennung meiner persönlichen Bemühungen, sondern auch der deutschen Bischöfe mit den Schwestern und Brüdern des Glaubens in unserem Land gesehen. Darum war diese Berufung auch eine Auszeichnung für viele und gewiss ein Ansporn zum Zeugnis unseres Glaubens in Kirche und Welt sowie zur tieferen Gemeinschaft mit Ihnen als dem Nachfolger Petri. Überall ist auch dankbar vermerkt worden, dass die jetzt hohe Zahl von deutschen Kardinälen, die noch nie so groß war, einen Ausdruck Ihrer besonderen Wertschätzung und Ihrer väterlichen Zuneigung zu den Menschen in unserem Land darstellt.
2. Sie heben die "solide organisatorische Struktur" und die Vielzahl von Institutionen unserer Kirche im öffentlichen Leben hervor. In der Tat sind wir dankbar, dass wir mit einer Vielfalt von Einrichtungen und Mitarbeitern die Kirche und ihren apostolischen Auftrag im Dienst für die Menschen in unserem Land und darüber hinaus umfassend, differenziert und deutlich gegenwärtig machen können. In der komplexen Gesellschaft von heute, die auch Auswirkungen hat auf die innere Vielfalt der Kirche, ist es ein Gewinn, viele kompetente Ansprechpartner aus allen Lebensaltern, Berufen und Regionen, Männern und Frauen verfügbar zu haben. Wir können so der individuellen Prägung und vielen Erwartungen der Mitglieder unserer Kirche und der an ihr Interessierten besser gerecht werden. Wir können so auch sachkundiger und rascher an der öffentlichen Meinungsbildung in der Gesellschaft teilhaben und durch unsere Präsenz in den Medien auf sie einzuwirken versuchen. Wir spüren, dass wir dadurch Vorteile haben, die unsere Sendung in die heutige Welt und Zeit hinein erleichtern können. Manchmal sind uns diese Hilfen fast schon zu selbstverständlich geworden, und wir schätzen sie vielleicht nicht hoch genug ein. In einer Informations- und Mediengesellschaft sind wir aber durch diese Möglichkeiten für viele Menschen fassbarer und besser zu erreichen.
Freilich jedoch liegen darin auch Gefährdungen, die Sie selbst in Ihrem Brief deutlich nennen. Es ist mitunter schmerzlich, dass die Präsenz durch unsere Institutionen nicht immer genügend breit und tief gedeckt wird durch das Zeugnis des Glaubens einzelner, auf das es in unserer Gesellschaft besonders ankommt. Hier können Verzerrungen entstehen und falsche Eindrücke erweckt werden, denn die wahre Kraft des Glaubens ist nicht zu trennen von der realen Glaubensstärke der einzelnen Christen in Kirche und Gesellschaft. Wir wollen nicht Fassaden errichten, die letztlich innerlich hohl sein könnten. Zugleich wissen wir aber auch, dass viele Menschen sich zwar vom aktiven Leben der Kirche zurückgezogen haben, aber der Kirche doch nicht ganz den Rücken kehren, sondern in mannigfachen Beziehungen eine oft dünne, lockere, daher aber auch verletzliche Verbindung zu ihr bewahren. Es ist in einer weitreichenden Pastoral wichtig, diese sehr unterschiedliche Nähe und Ferne unserer Mitchristen stets zu berücksichtigen und sensibel darauf einzugehen, um den glimmenden Docht nicht zu löschen und ein geknicktes Rohr nicht zu brechen. Dies bedeutet ja nicht, dass wir uns von den Rändern her bestimmen lassen würden. Wir haben – Gott sei Dank – im Kern gerade unserer Gemeinden sehr viele Mitglieder, die ganz mit der Kirche leben und für unseren Glauben auch in einem Zeugnis des Wortes und der Tat eintreten. Diese gelebte Mitte der Kirche gibt uns die Kraft, möglichst weit nach außen zu gehen, so wie Bäume mit ausladenden Ästen, die sich in den Himmel und nach allen Richtungen erstrecken, tief in der Erde verwurzelt sein müssen.
Dies sagt auch viel aus über unsere Aufgaben. Ich sehe die erste und entscheidende Dringlichkeit in einer radikal vertieften Verkündigung Gottes. "Es ist Zeit, an Gott zu denken", so habe ich ganz bewusst mit einem Wort des russischen Schriftstellers Andrej Sinjawski ein Buch mit Fragen zur Präsenz der Kirche heute überschrieben. Ich bin fest überzeugt, dass wir alles gewinnen können, wenn wir das Wort "Gott" neu den Menschen näher bringen können, und dass wir rasch alles verlieren können, wenn wir diese Herausforderung nicht annehmen würden. Hier geht es um das Eine und Notwendige, von dem Jesus im Gespräch mit Marta und Maria handelt. Damit ist zugleich eine ganz entscheidende Aufgabe gegeben, nämlich ein neues missionarisches Zeugnis unseres Glaubens zu fördern. Wir haben noch viel zu wenig bedacht, dass nicht nur in den neuen Bundesländern, sondern zusehends auch im Westen immer mehr Generationen vor allem jüngerer Leute leben, die ihre Existenz ohne Kenntnis des christlichen Glaubens zu gestalten versuchen. Gerade auch im Blick auf die Einheit der Christen brauchen wir zuerst ein neues missionarisches Bewusstsein. "Zeit zur Aussaat" heißt darum eine sehr wichtige Erklärung unserer Bischofskonferenz vom 26. November 2000 (= Die deutschen Bischöfe, 68).
3. Mit Recht räumen Sie Ehe und Familie einen sehr hohen Rang ein, wie Sie dies durch Ihr ganzes Pontifikat überzeugend zum Ausdruck bringen. Wir spüren mit unseren Nachbarkirchen, wie sehr in diesem Bereich während der letzten Jahrzehnte in weiten Teilen Europas und der westlich orientierten Welt Dammbrüche von einem ungeahnten Ausmaß geschehen sind. Darum haben wir unsere Anstrengungen in der Verkündigung der Grundlagen einer christlichen Ehe und Familie, in der Ehepastoral und in der Familienpolitik sehr intensiviert, sind aber manchmal geradezu machtlos gegenüber der Hinfälligkeit bisheriger Wertüberzeugungen und der Brüchigkeit der Lebensentwürfe selbst bei denen, die sich noch an christlichen Glaubenanschauungen orientieren möchten. Es gibt hier auch in unserer Gesellschaft unendlich viel Leid, das jedoch meist verdeckt wird.
Heiliger Vater, wir verdanken Ihnen in Ihrer lehrhaften und seelsorglichen Verkündigung von "Familiaris consortio" (1981) bis "Evangelium vitae" (1995) eine kaum überschätzbare Unterstützung, die wir gewiss in vielen Teilen noch nicht genügend ausgeschöpft haben. Dabei wollen wir uns besonders durch Sie vom Evangelium her sagen lassen, dass wir zuerst alles tun müssen, um Jesu Weisung unwiderruflicher Treue in der Ehe rückhaltlos zu unterstützen und sie für die Menschen ohne Abstriche lebbar zu machen. Dann können wir auch eher den Menschen aus gescheiterten Ehen helfen.
Zur Ehe gehört die Familie. Das Band zwischen beiden wird oft zerrissen, ja in der Einführung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften noch grundsätzlicher relativiert. Darum gehört auch elementar zur Sorge um Ehe und Familie ein ganz grundlegender Schutz des menschlichen Lebens von Anfang an. Die Christen müssen sich heute gerade in dieser Sorge um die Unversehrtheit des Lebens radikal bewähren, nicht nur im Kampf gegen die Abtreibung, im Eintreten für das Lebensrecht des ungeborenen Kindes, in der Beratung und Hilfe für die schwangeren Frauen, sondern auch im Beistand für schwerkranke und sterbende Menschen, die wir würdig auf ihrer letzten irdischen Wegstrecke zu begleiten haben. In dieser Auseinandersetzung gerade auch um Probleme der sogenannten Bioethik fallen gewichtige Entscheidungen für das künftige Schicksal der Menschen nicht nur in unseren Ländern, sondern für die ganze Menschheit.
In diesem Lichte werden wir wohl auch die oft belastenden Probleme um die Mittel und Wege einer Geburtenbeschränkung neu bedenken müssen. Einen ersten Anfang dazu habe ich im Referat des Vorsitzenden unserer Bischofskonferenz zur Eröffnung der Herbst-Vollversammlung in Fulda im September 1993 versucht, anlässlich der 25jährigen Wiederkehr des Erscheinens der Enzyklika "Humanae vitae" und der "Königsteiner Erklärung" der Deutschen Bischofskonferenz, die sich nicht gegen die päpstliche Lehre richtete, sondern sich als pastoralen Schlüssel im Sinne eines Appells an die verantwortlichen Eltern verstand. Ich habe mit diesen Überlegungen, die ich Ihnen in schriftlicher Form übergeben habe, den ersten Teil einer Aufgabe erfüllt, die Sie mir bereits im Herbst 1987, als ich zum ersten Mal zum Vorsitzenden gewählt worden bin, nahegelegt hatten. Die Fortsetzung dieser eingehenden Beschäftigung mit einer zentralen Lebensfrage des Menschen und der Kirche wird nun im Kontext noch größerer Herausforderungen und technischer Möglichkeiten gewiss dringlicher.
In diesem Zusammenhang rückt auch unser langjähriges Ringen mit den bisherigen und künftigen Wegen der Beratung jener Frauen, die ungewollt schwanger geworden sind und sich darüber in Konflikten befinden, in einen größeren Horizont mit neuen Perspektiven. Dabei wird es viel darauf ankommen, dass wir uns – auch im Blick auf die Probleme der heutigen Bioethik – nicht defensiv an die Wand drücken und einengen lassen dürfen, sondern dass wir geistig und ethisch offensiv das "Evangelium des Lebens" zur Geltung bringen. Ich möchte mit dem diesjährigen Eröffnungsreferat bei der Herbst-Vollversammlung in Fulda unter dem Titel "Das Recht, ein Mensch zu sein" einen weiteren Baustein zur Bewältigung dieser Anforderungen beitragen. Dabei kann ich auf unserem Wort "Der Mensch: sein eigener Schöpfer?" von der Frühjahrs-Vollversammlung der Bischöfe vom 7. März in Augsburg (= Die deutschen Bischöfe, 69) aufbauen. Ich bin dankbar, dass wir in diesen Fragen einen einmütigen Konsens mit den Moraltheologen haben.
4. Wir deutschen Katholiken müssen uns immer bewusst bleiben, dass wir in einem Land leben, von dem die westliche Glaubens- und Kirchenspaltung ihren Ausgang nahm. In einer Situation, wo die evangelischen und katholischen Christen zahlenmäßig fast gleich vertreten sind, sind die bedrängenden Probleme der getrennten Christenheit täglich und überall hautnah zu spüren. Darin unterscheidet sich unsere Lage von den Situationen anderer Länder und Regionen, in denen eine deutliche Mehrheit oder Minderheit einer der beiden Glaubensgemeinschaften gegeben ist. Wir danken Ihnen deshalb ganz besonders, dass Sie während Ihres ganzen Pontifikates, bei Ihren drei Pastoralbesuchen in Deutschland und besonders in letzter Zeit den Ruf des Herrn zur Einheit der Kirche unüberhörbar haben laut werden lassen. So ist in diesen Jahren durch die vielfältigen Anstrengungen, auch im Blick auf die orthodoxen Kirchen und die Freikirchen, eine tiefreichende Gemeinsamkeit in den zentralen Grundanliegen der Rechtfertigungsbotschaft und in anderen Lehrbereichen erreicht worden. Viele andere Fragen, besonders im Verständnis von Kirche und Amt, bereiten uns noch ein großes Kopfzerbrechen, aber wir erfahren auch hier wichtige Annäherungen. Die Verständigung vollzieht sich aber auf vielen anderen Feldern. So bin ich froh und dankbar für zahlreiche gemeinsame Erklärungen und Veröffentlichungen zu sozialen und gesellschaftlichen Gestaltungsfragen, aber auch für viele dichter werdende gottesdienstliche Feiern, die in den letzten Jahren möglich geworden sind.
Die Ungeduld vieler Menschen ist hier groß. Sie hadern oft mit Theologen und Kirchenleitungen. Dabei geschehen mitunter auch Grenzüberschreitungen, besonders in der Inanspruchnahme einer wechselseitigen eucharistischen Gastfreundschaft, weitaus weniger jedoch im Sinne einer Interzelebration, wie oft unzutreffender Weise angenommen wird. So hat sich in jüngster Zeit eine zu verengte Konzentration auf die oft isolierte Frage der Abendmahls- bzw. Eucharistiegemeinschaft eher wieder entspannt. Für den geplanten gemeinsamen ökumenischen Kirchentag 2003 in Berlin, der uns neben großer Zuversicht gewiss auch manche Sorgen bereitet, tut sich nun ein weites Feld gemeinsamer Anliegen auf: Wir feiern gleichzeitig gemeinsam das Jahr der Bibel, wir mühen uns inständig um gemeinsame Positionen in ethischen Grundfragen (individuell und sozial), wir suchen ein neues missionarisches Verantwortungsbewusstsein des christlichen Glaubens. Das gemeinsame Mahl bleibt dabei unsere unaufgebbare Sehnsucht und unveränderliche Hoffnung.
Ich begrüße grundsätzlich den Aufruf zur Klarheit des Bekenntnisses in der Erklärung "Dominus Iesus". In unseren Augen ist dies eine notwendige Äußerung, vor allem auch im Blick auf eine theologische Beurteilung nichtchristlicher Religionen. An der Knappheit mancher Formulierungen in der Beschreibung der Einzigkeit der Kirche Jesu Christi haben katholische und evangelische Christen Anstoß genommen. Die Vielschichtigkeit und Tiefendimension der Begriffe, die ja den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils entnommen sind, sind vielen heute nicht präsent und vertraut. Deswegen muss vieles in "Dominus Iesus" aus anderen amtlichen Texten ergänzt bzw. erläutert werden. Die Knappheit nimmt dem Text nicht seine Wahrheit, aber sie lässt ihn schroff erscheinen. Wir wären dankbar, wenn die letzte Ausarbeitung und Formulierung solcher offizieller Äußerungen noch stärker im Benehmen mit Vertretern jener Ortskirchen erfolgen könnte, die inmitten unserer christlichen Schwestern und Brüder solche notwendigen und auch heilsamen Worte zu erklären und umzusetzen haben. Ich weiß dabei, dass diese Aufgabe auch in den römischen Instanzen gesehen wird.
5. Wir Bischöfe kümmern uns vorwiegend um die Seelsorge vor Ort, auch wenn heute bei der engen Verflechtung unserer Lebensbereiche und angesichts der wachsenden Mobilität die pastoralen Räume größer geworden sind und ein aufeinander abgestimmtes Handeln erforderlich machen. Darum sind die Beratungen in der Bischofskonferenz, auch wenn wir kein lehrhaftes Sprechen beanspruchen können, hilfreich und unentbehrlich. Dies gilt auch für die Kommunikation mit unseren Nachbarn und im europäischen Kontext. Dennoch haben wir auch gerade hier in Geschichte und Gegenwart eigene Traditionen, die zum Teil über das Zweite Vatikanische Konzil das Leben der Kirche in allen Teilen der Welt bereichern konnten, wie auch wir umgekehrt von Strömungen und Traditionen verschiedener Regionen der Weltkirche beschenkt und bereichert werden. Für die Kirche in unserem Land sind die Liturgische Bewegung und die Bibelbewegung von besonderer Bedeutung gewesen, aber auch die Stärkung der Laien im Raum der Kirche zum Zeugnis vor allem in der säkularen Gesellschaft.
Deshalb haben wir spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine kräftige und in vielen Teilen selbstständige und ebenso kirchliche Laienbewegung. Dies ist von außen her nicht immer leicht verständlich. Ich will auch nicht leugnen, dass es hier und dort einzelne missverständliche Äußerungen zu dieser Selbstständigkeit gibt. Aber im ganzen haben wir eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen den geistlichen Ämtern und Ordensgemeinschaften, die um die eigene Würde des Weltdienstes der Laien wissen, und den kirchlich engagierten Laien, die bei aller eigenen Verantwortung die Gemeinsamkeit des Dienstes in der Kirche und die besondere Vollmacht des Amtes nicht preisgeben wollen. Nach meiner Überzeugung und Erfahrung gilt dies grundsätzlich auch für die Zusammenarbeit mit dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Man muss nicht jede einzelne Äußerung teilen, aber wir haben hier ein Instrument der Kooperation von Laien und verantwortlichem Amt, um das uns viele in anderen Ländern beneiden.
Heiliger Vater, ich will einzelne, aber wirklich auch vereinzelte missbräuchliche Verhaltensweisen, wie sie in der "Instruktion zu einigen Fragen über die Mitarbeit der Laien am Dienst der Priester" vom 15. August 1997 (= Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, 129) aufgeführt sind und getadelt werden, nicht leugnen. Wenn sie gravierend sind und wir Bischöfe von ihnen Kenntnis bekommen, gehen wir ihnen nach. Jedoch werden gelegentlich auch einzelne Fälle generalisiert und aufgebauscht. So kann leicht ein falsches Bild entstehen, das freilich von manchen bewusst forciert wird. Aber gelegentlich hat es uns auch die höchste kirchliche Autorität dabei nicht leicht gemacht, wenn z.B. die Erlaubnis zur Laienpredigt in außerordentlichen Situationen auch in der Eucharistiefeier zunächst amtlich gewährt und einige Zeit danach wieder zurückgezogen wurde. Wir kämpfen um die Verwirklichung der jetzt geltenden Normen, bitten aber auch um Verständnis, wie mühsam die Korrekturen notwendigerweise in der heutigen Situation vonstatten gehen. Dabei dürfen wir in vielem von einer generell sehr fruchtbaren Zusammenarbeit von Vertretern des geistlichen Amtes mit haupt- und ehrenamtlichen Laien ausgehen, die meist geräuschlos und unbemerkt erfolgt, während die wenigen Konfliktfälle mehr auffallen und über Gebühr in den Vordergrund gestellt werden. Deswegen sind wir Bischöfe, ohne im Einzelfall nachlässig zu sein, im ganzen auch gelassener.
6. Sie fordern uns mit Recht dazu auf, "neue Initiativen in der Berufungspastoral zu ergreifen". Damit rühren Sie an die tiefste und brennendste Wunde in unserem kirchlichen Leben. Es tröstet uns wenig, dass es in vergleichbaren Ländern ähnliche Probleme gibt. In der Tat sind wir – was uns beschämt und nachdenklich macht – in dieser Hinsicht sehr arm. Wenn je einem in der Kirche unseres Landes ein triumphales Gefühl überkommen könnte, dann wird er durch die Spärlichkeit besonders der Berufungen zum Priestertum sehr nüchtern in die Wirklichkeit zurückgeholt. Wir sind hier an so etwas wie einem Tiefpunkt angekommen, von dem es nur noch – wie wir hoffen – eine Aufwärtsbewegung geben kann.
Die Bischöfe meiner Generation belastet diese Situation sehr, obgleich wir dafür vielleicht noch zu wenig darüber reden. Solange wir in unserer Amtszeit die Verantwortung tragen, können wir die Mangelerscheinungen vielleicht gerade noch ausgleichen und verkraften. Aber dann überlassen wir unseren Nachfolgern, im Grunde doch recht unvorbereitet, ein schweres Erbe. Wir sind darauf angewiesen, dass die universale Kirche sich unserer Probleme mit annimmt, aber wir sind auch fest davon überzeugt, dass die Hilfe von ausländischen Klerikern, die trotz guten Willens und der Einheit der Kirche unsere konkrete Situation oft nur mühsam verstehen, auf Dauer und im Ganzen keine Lösung sein kann. Wir suchen nach Modellen, von denen wir lernen könnten. Aber auch in günstigen Fällen ist die Situation in unseren modernen Ländern westlichen Zuschnitts mit anderen einfach nicht leicht vergleichbar, und Erfahrungen sind nicht direkt übertragbar. Wir fassen dies nicht im Sinne einer Überlegenheit auf, sondern vielmehr im Sinne einer großen Besorgnis, die erfahrungsgemäß früher oder später freilich auch andere Länder stärker erfassen kann.
Aber, Heiliger Vater, es bleibt bei Ihrem besorgten und vordringlichen Aufruf, neue Initiativen in der Berufungspastoral zu ergreifen. Wir spüren allerdings gerade hier – und vielleicht ist dies notwendig – unsere Ohnmacht. Gewiss ist bei uns auch das in der Vergangenheit sehr gepflegte Gebet um Priesterberufe "Bittet den Herrn der Ernte ...." schwächer geworden. Zugleich bin ich dankbar, von vielen hauptamtlichen und ehrenamtlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen in vielen Gemeinden, auch kleinsten Diaspora-Gemeinden, zu wissen, die eindrucksvoll den Bischof, die Priester und die zahlreichen Ständigen Diakone zu unterstützen vermögen. Aber es bleibt wahr: Priester können nur durch Priester ersetzt werden.
Doch wir dürfen deswegen nicht verzagt sein. Es gibt auch in der Kirche und in unserer Gesellschaft erste Anzeichen dafür, dass gerade jüngere Menschen sich wieder neu den Fragen des Glaubens öffnen. Der Weltjugendtag des Jahres 2000 und jüngst die aus aller Welt kommende Ministrantenwallfahrt, bei der aus Deutschland fast 17.000 begeisterte junge Leute nach Rom gefahren sind, geben Anlass zur Hoffnung, und man könnte diese Beispiele noch vermehren.
7. Heiliger Vater, Sie sprechen am Anfang Ihres Schreibens auch die Lehre in den Theologischen Fakultäten in unserem Land an. Ich möchte eigens, wenn auch knapp, darauf eingehen. Dies hängt nicht nur damit zusammen, dass ich gut die Hälfte meines aktiven kirchlichen Lebens ein akademischer Lehrer der Theologie war, sondern auch damit, dass ich der Theologie für Gegenwart und Zukunft der Kirche einen hohen Rang beimesse. Ich stimme Ihnen in Ihren Forderungen nach Treue zur Lehre und zur Verankerung im Glauben der Kirche zu und teile Ihr Unbehagen gegenüber aller Willkür und allen Subjektivismen. Es gibt genügend Freiraum für schöpferische Einfälle in der Kirche. Auch bin ich der festen Überzeugung, dass wir nicht nur in den offiziellen Katechismen, sondern zugleich in vielen theologischen Veröffentlichungen wertvolle Hilfen zu einer erfrischend neuen Interpretation des Glaubens haben. Wir sind so reich an solchen Hilfen wie nie zuvor. Nicht immer ist die Theologie schöpferisch. Manchmal gibt es auch trockenere Zeiten, in denen Solidität und Verlässlichkeit starken Vorrang haben. Es gibt nicht immer große theologische Charismen. Sie sind ein seltenes Geschenk an die Kirche. Aber dies entbindet uns nicht von der Verantwortung für unsere konkrete Gegenwart. Und hier gibt es in unserem Land bei den vielen Theologischen Fakultäten bzw. Fachbereichen und Hochschulen eine hohe Solidarität mit der Kirche. Wir sollten uns nicht von einzelnen Außenseitern zu sehr beeindrucken lassen. Ich bitte Sie um Ihr Vertrauen, das Sie in konkreten Begegnungen mit Theologen immer wieder zum Ausdruck gebracht haben. Dabei denke ich an Ihr Treffen mit den Theologieprofessoren im November 1980 in Altötting bei Ihrem ersten Pastoralbesuch und an das im April dieses Jahres stattgefundene Treffen zwischen Ihnen und dem ökumenischen Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen im Vatikan.
8. Dies sind, Heiliger Vater, die Überlegungen, die mir beim wiederholten Lesen Ihres Briefes in den Sinn gekommen sind. Sie haben mich zu einer Gewissenserforschung über die Situation der Kirche in unserem Land und unsere Verantwortung in ihr angeregt. Es ist gut, wenn man nicht selbstzufrieden bei sich selbst verharrt, sondern sich vielmehr – von wem besser als vom Nachfolger Petri – herausfordern lässt, um vor Gottes Geist die eigene Lage auf Herz und Nieren überprüfen zu lassen.
Ich habe Ihnen viel zugemutet. Zu viel war von unserer Situation die Rede. Vieles fehlte, was mich täglich bewegt: die Not der Menschen am Rand unserer Gesellschaft, die weltweite Mission der Kirche, das Elend der um ihres Glaubens willen verfolgten Brüder und Schwestern, zusätzlich der Hunger und die allgegenwärtige Gewalt. Wir sind froh, dass wir dank der großherzigen Gabe unserer Mitchristen für die Bischöflichen Werke vielen Schwestern und Brüdern in ihren Bedrängnissen zur Seite stehen können. Es wäre zu viel gewesen, Sie mit all diesen Fragen und Problemen zu bedrängen. Sie vertrauen uns großzügig, dass wir diese und andere Fragen im Geist unseres gemeinsamen Herrn angehen und bewältigen. Wir sind nicht fertig, sondern schauen voll Erwartung mit Ihnen und der ganzen Kirche in Richtung einer Vollendung der ganzen Geschichte und der Ankunft des Reiches Gottes.
Heiliger Vater, Sie haben Ihr Herz ausgeschüttet über die Situation in unserem Land. Wir waren sehr betroffen, wie sehr Sie sich mit unseren Problemen befasst haben und unsere Sorgen teilen können. Vor diesem Hintergrund möchte ich Ihnen nochmals herzlich dafür danken, dass Sie mich im Blick auf die Kirche unseres Landes in den Senat unserer Kirche berufen haben. Dadurch habe ich die einzigartige Gelegenheit, Ihnen noch näher und eng verbunden unmittelbar meine Erfahrungen mitteilen zu dürfen.
Ich bitte Sie um Ihr freundliches Wohlwollen und erbitte für die Kirche unseres Landes, die Diözese Mainz und mich selbst Ihren Apostolischen Segen,
Ihr im Herrn
sehr ergebener
+ Karl Kardinal Lehmann
Mainz, am Fest der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel, 15. August 2001
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz