Appell an die Vernunft

Zur unvermeidlichen politischen Auseinandersetzung und ihrem Stil

Datum:
Freitag, 4. Januar 2008

Zur unvermeidlichen politischen Auseinandersetzung und ihrem Stil

Gastkommentar für die Mainzer Kirchenzeitung "Glaube und Leben" im Januar 2008

Wie immer hat unsere Zeit Licht und Schatten. Dies wird auch im eben begonnenen Jahr 2008 so sein. Dankbar dürfen wir feststellen, dass die wirtschaftliche Entwicklung und vieles, was davon abhängt, wie z.B. die Arbeitslosenzahlen, sich besser entfaltet haben, als man vor einem Jahr annehmen konnte. Aber es gab in unserer Welt auch Rückschläge, ohne dass wir sofort wieder Unheilsprophetien verkünden wollen: kriegerische Auseinandersetzung, politische Morde, Terroranschläge, Naturkatastrophen, verheerende ökologische Folgen für die Menschheit, finanzielle Zusammenbrüche mit erheblichen Folgen für Unbeteiligte.

Gewiss haben diese Entwicklungen auch notwendige Folgen. Sehr viele Menschen mussten in den letzten Jahren auch auf kleinere Einkommenszuwächse verzichten. Die Inflationsrate ist dagegen kräftig gestiegen. Es ist nicht unbillig zu fordern, dass die Menschen nun auch stärker an den Gewinnen der Unternehmen beteiligt werden, nachdem in den Medien beinahe täglich von ihnen die Rede ist. Wir alle wissen, dass dies nicht überall zutrifft.

In einer weitgehend globalisierten Weltwirtschaft hängt nicht alles vom guten Willen und nicht einmal vom Fleiß der Menschen in einzelnen Ländern ab. Wir sind vielen Wandlungen ausgesetzt, die wir nicht allein beherrschen. Deshalb tun Zusammenstehen in der Europäischen Union und eine Konsensbildung in den weltumspannenden Organisationen not.

Aber für einiges sind wir selbst verantwortlich. Gerade im Jahr 2008 kann uns dies geradezu gefährlich werden. Wir müssen uns auf allen Seiten vor einem Übermut hüten, der das im vergangenen Jahr Erreichte durch entsprechende Forderungen aufs Spiel setzt. Die Wahlen in einigen Bundesländern im Verlauf der nächsten Wochen, bei uns vor allem in Hessen, bergen die Gefahr, dass man sich – um die Mehrheit zu erringen – bei den notwendigen Auseinandersetzungen um konsensfähige politische und gesellschaftliche Lösungen sehr polarisiert, konsensunfähig wird und so nachher vor einem regelrechten Scherbenhaufen steht. Dabei droht auch die Gefahr, dass diese Polarisierung über die nächste Jahreswende hinaus in das Wahljahr 2009 hinüberschwappt und so für längere Zeit überhaupt nicht zu bremsen ist.

Wir sind in diesem zunehmenden Wahlkampf in Gefahr, Karikaturen des politischen Gegners aufzubauen und wechselseitig disqualifizierende Schlagwörter zu produzieren. Dabei ist jetzt schon deutlich, dass keiner einfach die ganze Wahrheit für sich gepachtet hat. Viele Gesichtspunkte, die sich ergänzen – gewiss nicht ohne Gesprächsbereitschaft und wohl auch Streit –, werden steril und polemisch exklusiv gegeneinander gesetzt. Dies ist z.B. bei den Fragen des so genannten Mindestlohns ebenso der Fall wie beim Problem des Umgangs mit der heutigen Jugendkriminalität, aber auch bei den Diskussionen über zu hohe Managergehälter.

Ich weiß, dass es weitgehend vergeblich ist, hier mäßigend auf die politischen Akteure einzuwirken. Ich bin mir auch klar darüber, dass in einem demokratischen, pluralistischen Gemeinwesen, wo die Parteien im Wettbewerb stehen, bloße Appelle an einen besseren Stil im Wind verhallen. Aber dennoch ist es notwendig, sich in allem Streit nicht ständig weiter voneinander wegzubewegen. Wie will man in Berlin gemeinsam zum Wohl des Landes regieren, wenn man einander vor allem in den Ländern kräftig verbal „verprügelt“?

Aber vielleicht ist es auch nützlich, etwas mehr auf einen Großteil der heutigen Wähler zu schauen. Sie sind klüger geworden. Viele durchschauen besser hohles Pathos, geräuschvolles Wortgeklingel und unterhaltsame Medien-Schaukämpfe. Sie suchen auch und immer mehr gediegene Informationen und Argumente, Konsensfähigkeit und Glaubwürdigkeit. So braucht es auch einen neuen Ton im Wahlkampf.

Dies ist darum zu Beginn des Jahres und mit einem Blick mittlerer Reichweite ein dringender Appell an die konkrete Vernunft politischer Auseinandersetzungen. Aber vermutlich sind diese auch deshalb so scharf, verletzend und am Ende unfruchtbar, weil die Kontrahenten nicht selten wenig das notwendige ethische Fundament erkennen lassen, das ihnen letztlich viel gemeinsamer ist. Das Ethos, wenn es redlich gesucht wird, kann uns immer noch tief verbinden, vor allem, wenn es um echte Sorge um den ganzen und jeden Menschen geht. Vielleicht fehlt es daran ganz besonders. Umso dringender ist der Wunsch am Anfang des neuen Jahres, dass wir die Erneuerung an diesem Punkt beginnen.

(c) Karl Kardinal Lehmann 

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz