Gastkommentar des Bischofs von Mainz für die Kirchenzeitung "Glaube und Leben"
Vor der Sommerpause des Bundestages soll eine Entscheidung stattfinden über die so genannte Präimplantationsdiagnostik (PID). Diese soll der Überprüfung dienen, ob der Embryo eine in der Familie bekannte schwere genetische Störung aufweist. Auf dieser Basis sieht man vor, einzelne der gezeugten Embryonen für eine Übertragung auf die Frau vorzusehen oder zu „verwerfen", d. h. man lässt sie absterben und beendet ihr Leben.
Der Mensch maßt sich damit an, den Wert eines menschlichen Lebens einzig und allein nach Maßstäben der Normalität und des physischen Wohlbefindens zu beurteilen. Damit ist die PID faktisch auf eine qualitative Selektion mit der anschließenden Beseitigung menschlichen Lebens ausgerichtet.
Es liegen drei Gesetzesentwürfe dem Bundestag vor (uneingeschränktes Verbot der PID; Verbot bei weit gefassten Zulassungsausnahmen; Durchführung nur bei voraussehbarem Tod während der Schwangerschaft oder innerhalb des ersten Lebensjahres). Die Deutsche Bischofskonferenz hat im Lauf der Zeit mehrere Stellungnahmen veröffentlicht und ein ausnahmsloses gesetzliches Verbot der PID gefordert. Die Konfliktsituationen sind uns dabei sehr bewusst.
Die Bischöfe hatten untereinander vereinbart, an die Mitglieder des Deutschen Bundestages aus ihrer Diözese vor der endgültigen Entscheidung einen Brief zu schreiben. Als Bischof von Mainz habe ich am 27. Juni an alle 22 Damen und Herren Abgeordneten aus dem Bereich des Bistums ein ausführliches Schreiben gerichtet. Im Zentrum des Briefes werden drei Argumente entfaltet, die hier wörtlich wiedergegeben werden sollen:
Vor der Parlamentarischen Sommerpause ist eine Entscheidung des Deutschen Bundestages zur Präimplantationsdiagnostik geplant.
1. Wir alle nehmen für unser eigenes Leben die Würde, ein eigener Mensch zu sein, in Anspruch. Kein anderer darf sie uns nehmen. Unser eigenes Leben zu haben - mit allen Stärken und Schwächen, Begabungen und Beschränkungen - heißt: Es lässt sich kein Zeitpunkt unseres Lebens denken, in dem wir noch nicht wir selber waren, und es wird, solange wir leben, auch keinen Zeitpunkt geben, an dem wir nicht mehr wir selber sind. Was aber für uns unumstößlich gewiss gilt, können und dürfen wir auch anderen nicht absprechen. Denn das hieße ja, ihnen das Menschsein abzusprechen. Darum können wir selbst nur wollen, dass anderes menschliches Leben von Anfang an anerkannt wird. Wer sich selbst von Anfang an achtet, anderen dagegen diese Anerkennung von Anfang an verweigert, errichtet eine moralisch nicht zu begründende Herrschaft der Geborenen über die Ungeborenen. Die PID versagt dem zu untersuchenden menschlichen Leben diese unbedingte Anerkennung vom Beginn des Lebens an, weil sie diese von einer Gesundheitsprognose abhängig macht, soweit wir eine solche überhaupt vornehmen können.
2. Mit der Konstitution eines eigenen Genoms entwickelt sich der Embryo nicht mehr zum Menschen, sondern als Mensch. Wer immer Entscheidungen über das Leben eines Embryos trifft, muss wissen: Biologisch unzweideutig geht es hier um einen - gewiss anfanghaften, zerbrechlichen - Menschen. In der öffentlichen Debatte über den Lebensschutz gibt es schon seit einiger Zeit Versuche, dem Menschen je nach Entwicklungsstand und Kompetenzen unterschiedliche, gestufte Schutzrechte und Achtungsgrade zuzuschreiben. Demnach dürften Embryonen, denen die Eigenschaften der Empfindungs-, Denk- und Selbstreflexionsfähigkeit fehlen, durchaus Abwägungsurteilen unterzogen werden, die sich bei empfindungsfähigen, denkenden und selbstbewussten Menschen grundsätzlich verbieten. Ein solcherart abgestufter Lebensschutz bedeutet: Menschen können nicht mehr kategorisch mit Achtung und Schutz rechnen, sondern nur nach Maßgabe beobachtbarer Eigenschaften. Menschenwürde besäßen wir dann nicht mehr grundsätzlich, sondern nur unter gewissen Bedingungen. Die Zulassung der PID würde bedeuten, Menschen nur unter dem Vorbehalt ihrer künftigen Gesundheit für schützenswert zu erachten. Dieser Logik bedingter Menschenwürde muss man entschieden widersprechen.
3. Das von Erbkrankheiten verursachte Leid nehmen wir sehr ernst. Das Vorhaben, dieses Leid durch PID zu vermindern oder zu umgehen, erzeugt freilich Leid bei anderen, wenn nämlich Betroffene mit der Vermutung leben sollen, eigentlich nicht lebenswert zu sein. Diese Diskriminierung ergibt sich ganz unmittelbar mit der PID-Zulassung. Mittelfristig kann sich zudem das Bild vom Menschen in unserer Gesellschaft nachteilig verändern. Es wächst ein Selbstverständnis, nach dem gelingendes Leben von gelingender Technik abhängig wird. Es wachsen gesellschaftliche Erwartungen, dass Krankheit nicht sein darf, wenn man sie prognostisch vermeiden könnte. Es wächst vor allem eine Haltung, die nahelegt, behinderte Menschen abschätzig zu beurteilen. Auch um dieser Konsequenzen willen, die vielleicht nicht sofort eintreten, sich aber im Lauf der Zeit einstellen werden, darf die PID nicht zugelassen werden.
Aus diesen Gründen können wir die Sorge um den Schutz des Menschen in allen Phasen seines Lebens nicht hoch genug einschätzen. Darum sprechen wir uns gegen jede Zulassung der Präimplantationsdiagnostik (PID) aus. Wir haben Respekt vor Andersdenkenden, dürfen aber unsere lange gereiften Überzeugungen nicht verschweigen.
(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz
Diesen Gastkommentar lesen Sie auch in der gedruckten Ausgabe von "Glaube und Leben" Nr. 27 vom 3. Juli 2011.
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz