Predigttext: Röm 8, 18 - 27 |
Der Heilige Paulus ist ein Mensch und Christ, der den Widrigkeiten und Lasten des Lebens nicht ausweicht. Nicht zufällig vertritt er eine sehr tiefe Theologie des Kreuzes. Aber manchmal - und gerade auch im 8. Kapitel des Römerbriefes - wirkt er geradezu triumphal und schleudert mit herausfordernden Worten die Überzeugung von der Siegesgewissheit des Glaubens in Kirche und Gesellschaft: "Verschlungen ist der Tod vom Sieg. Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel?" (Kor 15, 54f, vgl. Hos 13, 14,56.) Ebenso siegesgewiss tönt es am Ende dieses großen letzten Lehrkapitels im Römerbrief: "Was kann uns scheiden von der Liebe Christi? Bedrängnis oder Not oder Verfolgung, Hunger oder Kälte, Gefahr oder Schwert? ... Doch all das überwinden wir durch den, der uns geliebt hat." (Röm 8, 35.37.) Beides gehört für ihn zusammen: Bedrängnis und Gewissheit des Heils, Anfechtung und Hoffnung.
Geht es uns manchmal nicht ähnlich mit unserer nationalen Einheit? Dies gilt schon für früher, als wir im Taumel nationaler Überheblichkeit und vermeintlicher Überlegenheit andere Völker angriffen. Der nationale Katzenjammer kam bald hinterher mit den ungeheuren Verlusten von Menschen, Zerstörungen und mit lange nachwirkenden Niederlagen. In ganz anderer Form wiederholt sich dies nach dem glücklichen Wiedergewinn der deutschen Einheit im Jahr 1990. Was für ein überwältigendes Ereignis war der Fall der Mauer! An so etwas glaubten ja nur noch wenige. Der Überschwang der Freude hat uns manchmal zu großspurigen Versprechungen und Verheißungen verführt. Aber nachher zeigte es sich, dass alles viel mühsamer voranging. Die Seelen der Menschen waren tiefer verwundet, als wir glaubten. Auch die Geheimdienste wussten wenig, wie schwer Wirtschaft und Technik daniederlagen. Die Absatzmöglichkeiten nach Osten sind jäh zusammengebrochen. Der Aufbau musste an mancher Stelle vom Nullpunkt aus beginnen. Ungeduld und Resignation breiteten sich rasch aus. So wurden auch die aufgewendeten Milliarden aufgerechnet. Man hat vom Westen aus den Menschen im Osten oft Unrecht getan, weil man ihnen diesen Zusammenbruch persönlich als mangelnde Leistungsbereitschaft und fehlendes Können anrechnete.
In diesem Sinne war das Stöhnen und Seufzen, Leiden und Klagen in der ehemaligen DDR nicht zu übersehen. Die Hoffnung, die den Menschen jenseits der Mauer versprochen wurde, war wenigstens am Anfang und auf einige Zeit keine erfahrene Wirklichkeit. Die Negativität des Leidens und die Erfahrung von Nichtigkeit und Vergeblichkeit standen im Vordergrund. Dazu kam, dass viele Menschen nach dem Abziehen des jahrzehntelangen ideologischen Nebels eine große innere Leere verspürten. Dies war besonders bei jungen Menschen nicht ungefährlich, da ein solches Vakuum durch neue Ideologien von rechts her ausgefüllt zu werden drohte. Ausländerfeindlichkeit zeigte, wie abgeschottet man bisher lebte.
Aber dabei haben wir doch auch gewiss vieles unterschlagen und vergessen, was gelungen ist. Es wurde das modernste Telefonnetz Europas geschaffen. Die Autobahnen und Fernstraßen, aber auch die Eisenbahnstrecken wurden erstaunlich schnell modernisiert. Fast reibungslos wurde die Nationale Volksarmee (NVA) aufgelöst und, soweit möglich, in die Bundeswehr eingegliedert - eine bis heute zu wenig gewürdigte Leistung. Modernste Produktionsstätten für Automobile wurden errichtet. Die Justiz konnte den Menschen bald zu Recht und Gerechtigkeit nach demokratischen Maßstäben verhelfen. Die Wissenschaften fanden zum Teil recht bald Anschluss an Hochleistungen wie sonst in Mitteleuropa und USA. Viele jungen Menschen kamen in den Genuss einer guten Ausbildung. Bald wusste man nicht mehr, wo die Mauer stand. Vieles hat auch den Westen bereichert, selbst wenn dies weniger beachtet worden ist. Freilich zeigte es sich, dass die Heilung der inneren Wunden länger braucht. Dies haben wir alle unterschätzt.
Genau darin zeigt eine Situation, die von der christlichen Botschaft her verstanden und erfasst werden kann. Wenn Paulus sagt: "Denn wir sind gerettet, doch auf Hoffnung hin" (Röm 8,24.), dann können wir bei allen Unterschieden ähnlich sagen: Wir haben die Einheit erworben und geschenkt bekommen, aber sie muss in vielem noch mühsam und schmerzlich verwirklicht werden. Es braucht die Gewissheit der Hoffnung und eine unenttäuschbare Geduld.
Vieles liegt immer noch in Geburtswehen. Dies gilt nicht zuletzt auch für die Erneuerung von Geist, Herz und Sinn. Die christlichen Kirchen haben in der Wendezeit mit den Umschwung gefördert, stießen aber bald auf Desinteresse, jedenfalls was die christliche Kernbotschaft betrifft. So breitet sich gerade in der Erneuerung der "Werte" oft Ratlosigkeit aus. Auch dies ist durchaus ähnlich dem, was Paulus mit unserer "Schwachheit" meint. (Vgl. Röm 8, 26f.) Aber wenn wir wirklich auf Hoffnung hin gerettet sind, dann müssen uns wir den Schwierigkeiten und Anfechtungen aussetzen, um ihnen in einem neuen Geist standzuhalten und sie zu überwinden. Dann finden wir auch über alles Seufzen hinaus eine neue Sprache der Hoffnung. Dann wissen wir auch, dass diese begründete Zuversicht nicht in der Zweideutigkeit unserer konkreten Situation untergeht. Freilich müssen wir uns immer wieder zu ihr hin ausstrecken und - damit wir nicht verkümmern - unserer Sehnsucht nach einer Welt in Wahrheit und Gerechtigkeit, Wohlstand und Frieden Raum geben. Es wird gewiss auch so kein irdisches Paradies sein. Diese Welt ist, wie wir gerade mit ungeahnter Brutalität erfahren haben, verletzlich und zerstörbar. Sie braucht unseren Einsatz, wenn sie menschlicher und vielleicht auch liebenswerter werden soll. Auch und gerade dabei hilft uns der Glaube: "Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn" (Röm 8, 38f.) Amen.
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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