Verehrte, ehrwürdige Äbtissin!
Liebe Schwestern und Brüder!
Zum 10. Mal dürfen wir die Renovabis-Aktion bundesweit eröffnen. Wir sind dankbar, dass wir bald nach der „Wende" dieses neuartige Werk der deutschen Katholiken, verantwortet von der Deutschen Bischofskonferenz und dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken zum Leben erwecken und nun auch – was bei der Vielzahl unserer Sammlungen ein kleines Wunder ist – das Pfingstfest als gemeinsamen Aktionstag vereinbaren konnten.
Von Anfang an waren wir von der Notwendigkeit eines solchen Werkes überzeugt. Dennoch zögerten wir. Wir hatten nämlich schon eine größere Zahl von Werken und vergleichbaren Sammlungen für jeweils eigene Anliegen (Misereor, Adveniat, Missio, Päpstliches Kinderhilfswerk, Caritas). Dieses Werk für den Auf- und Ausbau der Kirchen in den ehemaligen kommunistischen Ländern Mittel- und Osteuropas sowie Südosteuropas musste ein eigenes Gesicht bekommen, um bestehen zu können. Die Notwendigkeit einer solchen Sammlung war zunächst vielleicht nicht für alle gleich offenkundig und drängend, denn es ging nicht in erster Linie um Mitleid für hungernde Kinder und ausgemerkelte alte Menschen, die uns von den Plakaten der Litfaßsäulen herunter unmittelbarer anrühren. Bei aller nicht zu leugnenden materiellen Not soll es bei Renovabis in erster Linie um die innere und äußere Befähigung der meist daniederliegenden Kirchen in den ehemaligen kommunistischen Staatsdiktaturen gehen. Die Frage war offen: Ob die Menschen auf diese weniger spektakuläre Aufgabe bei der schon hohen Spendentätigkeit ähnlich spontan und selbstlos helfen werden, wie wir es gewohnt waren?
Nach 10 Jahren sind wir zwar immer noch ein Stück weit im Aufbau begriffen, aber wir dürfen dankbar sagen: Sie haben uns geholfen! Ein herzliches Vergelt´s Gott, und besonders nun nach 10 Jahren!
Renovabis brauchte eine andere Struktur und ein anderes Selbstverständnis als die anderen Hilfswerke. Zwar haben wir bei den Hilfen für die Dritte Welt auch ein partnerschaftliches Miteinander mit den Kirchen anderer Kontinente gesucht, aber hier in Europa wurde der Dialog noch viel wichtiger. Wir durften nicht der Gefahr erliegen, die Schwestern und Brüder direkt oder indirekt doch zu bevormunden und über ihre Köpfe hinweg zu entscheiden. Eine gewisse skeptische Sensibilität war anfangs spürbar. Man fragte sich, ob wir denn unsere westlichen Segnungen exportieren und den Christen in Mittel- und Osteuropa aufdrängen würden. Um solche Fehlentwicklungen zu vermeiden, haben wir von Anfang an Wert darauf gelegt, dass wir ein sehr viel ausgedehnteres partnerschaftliches Netz von Beziehungen und Begegnungen aufbauen. Dadurch sollte auch wirklich die Basis konkret in die Projekte einbezogen werden. Nicht zuletzt darum war auch die engere Zusammenarbeit mit dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken und so auch mit den Räten nützlich. Im Unterschied zu den vor allem außereuropäisch tätigen Werken, aber auch zum Bonifatiuswerk, das vorwiegend für die deutsche und nordeuropäisch-skandinavische Diaspora angelegt ist, sollte es weniger um die Förderung von Bauten aller Art gehen. Die Förderung des sogenannten „Humankapitals" stand und steht auch heute im Mittelpunkt. Das heißt, Einrichtungen und Maßnahmen zur Aus-, Fort- bzw. Weiterbildung der Priester, der Laien im Religionsunterricht und aller hauptberuflich in der Kirche Tätigen sollen gefördert werden. Die Kirchen des europäischen Ostens und Südens sollten möglichst bald in die Lage versetzt werden, eigene Leute im Land zu haben, die durch eine qualifizierte Bildung kompetent und mit dem notwendigen Fachwissen die Kirche vor Ort aufbauen und mit Leben erfüllen können. Freilich mussten wir hier auch Kompromisse machen. Ohne die entsprechenden Gebäude lassen sich auch nicht leicht solche Maßnahmen verwirklichen.
Wir haben – ähnlich wie bei den anderen Werken – auch bei „Renovabis" in jedem Jahr eine eigene thematische Konzentration und Zuspitzung im Blick auf die Aktion und die Sammlung. In diesem Jahr haben wir ein zunächst vielleicht eher in seiner Bedeutung verborgenes Themengebiet ausgewählt. Es geht um die Stellung der Frauen, und zwar unter dem Leitwort: "Auf SIE kommt es an!"
Wir wissen aus vielen Gesellschaften, die von Krieg und Diktatur überzogen waren und die Strukturen des alltäglichen Lebens nicht mehr funktionierten, wie sehr es hier in der Tat auf die Fähigkeiten und Künste der Frauen ankommt. Die Frauen überbrückten oft erfinderisch die Nöte, sei es im Blick auf die Kleidung und die Nahrung, aber auch hinsichtlich des nackten Überlebens überhaupt. Besonders aber für die Werteerziehung und die Weitergabe des Glaubens in den Familien und Häusern übernehmen die Frauen eine unersetzliche Rolle.
Die russische Großmutter, die oft allein vom Glauben erzählen konnte und oft heimlich die Kinder getauft hat, ist nur ein Beispiel für viele Frauen, die bei der äußeren Unterdrückung der Glaubensvermittlung doch manches im persönlichen Bereich ihres Hauses auffangen konnten.
Gerade in diesem Bereich hat sich aber in den ehemaligen Ostblock-Staaten vieles geändert. In mancher Hinsicht liegt die Last heute noch mehr auf den Frauen als früher.
Man denke z.B. an die Arbeitslosigkeit und ihre Folgen für die Familien. Es gehört zu den traurigen Kapiteln der Nach-Wende-Zeit, dass viele Frauen nach der Befreiung in neuer Weise versklavt wurden. Die Freiheit zeigte schon bald auch ihre Kehrseite. Neue Formen der Gewalt brachen auf. Dabei gehören Zwangsprostitution oder Frauenhandel zu den schlimmsten Auswüchsen. Rasch haben westliche Ausbeutungsformen die Oberhand gewonnen. Immer wieder werden Frauen brutale Opfer von Gewalt, von Erniedrigung und Leid. Eine Liberalisierung von Scheidung und Abtreibung in vielen Ländern verstärkte die Abhängigkeiten der Frauen und die Gewaltanwendung an ihnen.
So sind manche Hilfen besonders notwendig geworden: Hilfen für Alleinerziehende, Mutter-Kind-Projekte, Frauenhäuser, um der häuslichen Gewalt zu entfliehen, Ausbildungsbeihilfen und vieles andere mehr.
Hier zeigte sich für die Frauen in den ehemaligen Staatsdiktaturen ein beklemmende Gefahr, nämlich nach der Befreiung durch die aufgezeigten Phänomene die Freiheit und Würde noch eher zu verlieren als vorher. Aber gerade in den Situationen, in denen die Ehen und Familien ohnehin stärker bedroht sind, hätte dies besonders schädliche und katastrophale Folgen. Darum tut gezielte Hilfe not: Auf SIE kommt es an – gerade jetzt.
Der christliche Glaube hat bei allen Verstrickungen, in die er da und dort in einer langen Geschichte verwickelt war, von Grund auf eine besondere Hochschätzung der Frau. Gegenüber allem patriarchalischem Gehabe sagt die Bibel schon auf der ersten Seite, dass Mann und Frau erst zusammen das Bild des Menschen vollständig wiedergeben. Nur so sind sie Ebenbild Gottes. Jesus lehrt uns in seinen Worten, besonders aber auch in seinem Verhalten, dass Frauen nicht ausgegrenzt werden dürfen. Darum weist er auf ihre gleichwertige, ebenbürtige Würde hin, indem er sich ihnen besonders zuwendet.
Die Erzählungen von den Erscheinungen Jesu nach Ostern zeigen dies deutlich. Es war für viele offenbar schockierend, dass der Auferstandene zuerst den Frauen erschienen sein soll. Dabei haben sie auch in der Passion länger bei Jesus ausgehalten als die meisten Jünger. Obwohl gerade die Orthodoxie den Vorrang des Mannes stark betont, blieb die Ikonographie dennoch der biblischen Überlieferung treu: Viele Ikonen – wie auch die hier aufgestellte – haben diesen wichtigen Zug der Ostergeschichten bewahrt und festgehalten. Die drei Marien und alle unerschütterlichen Frauen aus der Gefolgschaft Jesu waren die ersten Zeuginnen der Auferstehung und haben die Apostel in ihrer Niedergeschlagenheit gestärkt.
Die Frauen haben damals in Notzeiten - und auch heute wieder - ausgehalten, in Bedrängnis und Tod, in Hunger und Krankheit. Dieser Mut zur Nähe im Leiden hat ihnen das Bleiben bei Jesus, den Gekreuzigten und Auferstandenen, geschenkt. Deswegen geben Sie auch nicht so schnell auf. Sie geben den Glauben weiter und versuchen ihn unentwegt zu schützen. So wachsen sie über sich hinaus. Oder wie es auf der Rückseite des Ikonenbildes heißt, das Sie am Beginn des Gottesdienstes erhalten haben:
„Die Frauen suchen, verehren den Herrn. Gottes Geist begleitet sie. Sie gehen voran – unverzagt. Unterwegs sein, miteinander vorwärts gehen, nicht zurückschauen: dem Leben Brücken bauen. Auf SIE kommt es an, auf uns kommt es an!"
Beten wir, dass uns in dieser österlichen Zeit dafür die Augen aufgehen und wir erkennen, wo der Herr uns besonders ruft, sonst werden wir nicht offen und frei für das Kommen des Gottesgeistes, der durch unser Zeugnis das Angesicht der Erde erneuern will.
Amen.
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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