Auf dem Weg der Gerechtigkeit ist Leben (Spr 12,28)

Eröffnungsgottesdienst des 27. Deutschen Evangelischen Kirchentags

Datum:
Mittwoch, 18. Juni 1997

Eröffnungsgottesdienst des 27. Deutschen Evangelischen Kirchentags

Das Leitwort des Leipziger Kirchentages aus dem Buch der Sprichwörter hat in der hebräischen Bibel nur drei Worte. Sie sind jedoch jeweils von ganz besonderem Gewicht. Es lohnt sich, diesen drei Grundworten in einer Besinnung nachzugehen.

I. Hunger nach Leben

 

Beginnen wir gleichsam von hinten: Auf dem Weg der Gerechtigkeit ist Leben. Dies ist das Elementare. Alles, was lebt, wehrt sich gegen Beeinträchtigungen und Minderungen seiner Existenz. Alles, was ist, möchte leben: Nicht nur knapp überleben, sondern auf der Sonnenseite sein und ausreichend Nahrung finden. Alle Lebewesen haben diesen Hunger nach dem Erhalt ihrer Existenz und der Verbesserung ihrer Lebensbedingungen. Wie die Pflanzen sich nach dem Licht strecken, so suchen alle das Leben. Wir geben uns nicht zufrieden mit einem kümmerlichen Dahinvegetieren, sondern wollen das Leben erfahren und genießen. Ja, das Glück des Lebens besteht für viele darin, die Güter dieser Erde für sich zu nutzen und sie für das eigene Interesse in Beschlag zu nehmen.

 

Dieses Lebenwollen ist so elementar, daß wir seinen fast selbstverständlichen Wert erst dann nicht (mehr) spüren, wenn es vermindert oder entzogen wird. Dabei spricht die Bibel gerade des Alten Testaments nicht weniger elementar vom Leben: Das Leben in dieser Welt ist gemeint, ohne daß so rasch von einem Leben nach dem Tod die Rede ist. Es ist dennoch nicht selbstverständlich, es ist immer wieder ein unverfügbares Wunder, am Leben zu sein. Dies schließt Angewiesensein und Abhängigsein, angesichts von Lebensbedrohung und Tod nicht minder Grenzen des eigenen Daseins in sich. Die Vergabe des Lebens und der Entzug des Lebens ist für die Bibel eine Grunderfahrung. Der Glaubende erblickt in dieser Lebens-Welt eine Gabe Gottes, das Geschaffensein.

 

Wir erfahren jedoch unsere Lebenswelt als tief gestört. Obwohl das Leben in der Bibel (vgl. Spr 3,16f) und nach den Grundwerten, den Spielregeln unseres Zusammenlebens, wie sie auch in der Verfassung erscheinen, das höchste Gut auf dieser Erde ist, gehen wir entsetzlich leichtfertig mit ihm um. In vielen Ländern und für nicht wenige wird das Menschenleben äußerst gering geschätzt. Menschen werden ohne jede Rücksicht und aus billigsten Interessen verraten und gar getötet. In Unfreiheit und Gefängnis wird vielen zu Unrecht ein menschenwürdiges Leben vorenthalten. Manche verbringen die meiste Zeit ihres Lebens mit einem Minimum an Chancen. Aber diese Zerstörung des Lebens findet sich nicht nur in fernen Ländern oder bloß im Bereich der Kriminalität, sondern wir gefährden selbst ständig Leben, nicht zulezt auch das Leben der Kinder, wir entziehen vielen Ungeborenen das Lebenrecht und zerstören dauernd durch Rücksichtslosigkeit und Maßlosigkeit die natürlichen Lebensbedingungen unserer Erde. Wir lassen Menschen im Elend allein. Ein Neo-Kapitalismus kümmert sich wenig um die realen Lebenschancen wirklich aller Menschen.

 

II. Gerechtigkeit führt zum Leben

 

Wie soll dies anders werden? Wie kommen Menschen besser zum Leben? Es gibt viele Versuchungen zur Erreichung dieses Zieles. In der Ellenbogen-Gesellschaft setzt sich jeder rüde durch, ganz unabhängig davon was dabei zerstört wird. Es ist eine große Gefahr, daß wir die Freiheit mißverstehen und die Verantwortung füreinander übersehen. Der Erfolgreiche wird zum Maßstab des Menschlichen. Die Menschen im Schatten zählen nicht. Um aus dieser Misere herauszukommen, gibt es immer wieder die Verführung zur Gleichmacherei, indem die Verschiedenheit der Menschen ignoriert, Eigenverantwortung und schöpferische Fähigkeiten geringgeschätzt und die Lebensbedingungen bis ins Detail reglementiert werden. Revolutionen sollen die ersehnte Gleichheit erzeugen. Aber auch dieses Experiment ist gescheitert. Wer die Menschenwürde mit Füßen tritt und manipuliert, ist auch mit noch so schönen Programmen kein Anwalt des Lebens.

 

Die Bibel gibt in dem Leitwort des Kirchentages eine Orientierung, wie wir in der rechten Weise Leben fördern können: auf dem Weg der Gerechtigkeit. Wir dürfen freilich nicht nur unseren herkömmlichen Begriff von Gerechtigkeit voraussetzen im Sinne von "jedem das Seine". Die Bibel geht davon aus, daß der Mensch nur recht bestimmt wird, wenn zwischen seiner Individualität und der Verpflichtung auf die Gemeinschaft ein Gleichgewicht besteht und immer wieder gesucht wird. Dieses Gleichgewicht ist so etwas wie eine Norm. Der Mensch ist gerecht, wenn er zur Gemeinschaft steht. Alles Handeln muß sich daran messen lassen, was es für die "Gemeinschaftstreue" austrägt. Demgegenüber ist unsere abstrakte Regel "jedem das Seine" zu sehr auf das Individuum bezogen. Die Bibel korrigiert grundlegend ein solches Denken.

 

Wir helfen uns mit anderen Worten, wenn wir z.B. von Solidarität sprechen. Im biblischen Wort der Gerechtigkeit ist diese Rücksicht auf alle, ganz besonders auf die Benachteiligten und Schwachen immer mitgemeint. So kann Gerechtigkeit in der Bibel auch Barmherzigkeit bedeuten. Dies bringt eine heilsame Unruhe in unser übliches Verständnis von Gerechtigkeit. Es kann uns kein Gefühl der Gerechtigkeit überkommen, so lange es vielen Menschen schlecht geht. Dies hat viele Konsequenzen: angefangen vom vorenthaltenen Lohn über unlauteren Wettbewerb bis zur Durchsetzung nur der eigenen Interessen. Dies geschieht nicht nur von Mensch zu Mensch, sondern auch zwischen Gruppen, Nationen und Kontinenten. Wir erfahren in unserem Land, zwischen Ost und West, wie schwer diese Form der Gerechtigkeit verwirklicht werden kann. In unserem Gemeinsamen Wort "Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit" haben wir nach allen Seiten hin diese Herausforderungen zur Sprache gebracht.

 

III. Auf dem Weg: Schritt für Schritt

 

Es gibt noch ein kleines Wort in unserem Leitwort, das der Erläuterung bedarf: auf dem Weg der Gerechtigkeit. Wir sind nämlich immer wieder versucht, alles von einer großen, einmaligen Umwälzung zu erwarten. Wenn die Verhältnisse zum Himmel schreien, ist eine solche Erwartung mehr als verständlich. Aber die Revolutionen haben die Menschen oft betrogen. Darum kommt es zunächst darauf an, den rechten Weg einzuschlagen.

 

Dieser Weg der Gerechtigkeit verlangt gewiß zuerst ein gewaltiges Umdenken, einen Sinneswandel, in dem wir nicht zuerst von unseren eigenen Interessen her, sondern vom Antlitz des anderen her denken. "Umkehr" nennt dies plastisch die Bibel. Sonst kommt man nicht auf den guten Weg. Aber die Gerechtigkeit ergibt sich nicht schlagartig und wie durch ein einziges Wunder. Es ist ein mühsamer Weg, der Schritt für Schritt gezielte Reformen braucht. Wir sind oft auf die große Vision versessen - wir brauchen auch eine solche weite Sicht -, aber wir müssen sie in der Mühsal und im Schweiß vieler Reformmaßnahmen realisieren. Umwege und Abwege, Irrwege und Holzwege sind dabei nicht ausgeschlossen. Der Wegcharakter unseres Lebens macht uns mutig und geduldig zugleich. Wir brauchen gerade heute das Vertrauen in diese Macht konsequenter Erneuerung: Schritt für Schritt. Die großen Geldscheine müssen immer wieder in kleine Münzen gewechselt werden.

 

In dem kleinen Leitwort "Auf dem Weg der Gerechtigkeit ist Leben" steckt viel Sprengkraft für unseren Individualismus. Über 900 Sprichwörter entfalten dieses neue Verhalten in einem eigenen Buch der Bibel. Hier ist eine große Erfahrung der Menschheit verwahrt, die wir nicht achtlos übergehen dürfen. Direkt ist dabei wenig von Gott selbst die Rede. Aber für den Glauben ist es eine elementare Gewißheit, daß der Mensch nur durch den Ruf Gottes zur Umkehr in Wahrheit frei, offen und weit werden kann. Amen.

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz