Vom öffentlichen Umgang mit ernsthaften Problemen
Wir suchen seit Jahren nach Lösungen für die wichtigsten gesellschaftlichen Modelle der Sicherung des Zusammenlebens zwischen den Generationen. Es betrifft immer zunächst die einzelnen Menschen, denken wir nur an Rente und Gesundheit; es geht aber auch um die soziale Sicherung aller. In einer so vielfältigen Interessenlage ist es von vornherein nicht leicht, zu akzeptablen Ergebnissen zu kommen. Je pluraler diese Situation ist, um so sorgfältiger muss der Konsultationsprozess werden.
Genau hier aber liegt in unserer Gesellschaft, wie die letzten Wochen, Monate und Jahre belegen, ein bisher unbewältigtes Problem. Wenn schließlich oft nach Jahren oder wenigstens vielen Monaten ernsthafter Arbeit von Experten ein Beratungsergebnis vorliegt, wird es innerhalb von wenigen Stunden nach dem Bekanntwerden zerredet. In unseren durch die Medien stark bestimmten Gesellschaften wird es immer eine intensive Information und Auseinandersetzung über solche Resultate geben und geben müssen. Schnelligkeit der Reaktion ist im Wettbewerb der Meinungsbildung ein wichtiges Element. Wenn man sich jedoch die meisten Äußerungen zum Ergebnis der Rürup-Kommission "Nachhaltigkeit in der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme" in Erinnerung ruft, dann könnte man an der Ernsthaftigkeit dieser Reaktionen geradezu verzweifeln. Mit früheren Studien ist es nicht viel besser. Man denke nur an den Bericht der Enquete-Kommission "Demographischer Wandel" aus den Jahren 1999 - 2002, der längst nicht die notwendige Aufmerksamkeit fand.
Teilergebnisse wurden schon vor der Veröffentlichung herumgestreut und natürlich auch sofort beurteilt. Bei einem Umfang von annähernd 300 engbedruckten Seiten gab es innerhalb von Minuten und wenigen Stunden fixe Urteile, die jede ernsthafte Beschäftigung vermissen ließen. Man konzentrierte sich auf zwei bis drei Vorschläge, ohne sich um die vielen Analysen und Differenzierungen zu kümmern. Es ist nicht anzunehmen, dass die meisten, die so schnell redeten, vorher ein Exemplar des ganzen Textes auch nur in der Hand hatten. Nützliche erste Zusammenfassungen sind keine ausreichende Grundlage für ein Urteil, das die geleistete Arbeit ernst nimmt. Was ist eigentlich bei uns geistige Arbeit wert?
Dies gilt besonders und gerade auch für die Politiker, die eine solche Arbeit in Auftrag gaben. Wollen sie sich wirklich im Ernst beraten lassen, wenn sie die Ergebnisse sofort relativieren und zum Teil ignorieren ?
Freilich, die Kommission ist nicht ganz unschuldig, wie ich vor Monaten schon beklagte, denn einzelne Mitglieder haben von Anfang an die Öffentlichkeit für sich einzunehmen versucht. Muss man dann freilich nicht auch an der Zusammensetzung zweifeln, wenn der geradezu geile Trieb in Richtung Öffentlichkeit von Anfang an über wirklich ernsthafte Arbeit obsiegt?
Man sage nicht einfach, dies seien eben die konkreten Bedingungen einer Mediengesellschaft und der aktuellen Politik. Schließlich geht es um fundamentale Lebensprobleme der heutigen und künftigen Menschen. Ohne längeren Atem und gründliches Studium, denen gewiss eine öffentliche Auseinandersetzung folgen muss, kann die Demokratie diese Aufgaben aber nicht lösen. Wenn sie nicht mehr zu der berühmten "Nachhaltigkeit" auch in der Kultur der öffentlichen Diskussion, angefangen von den Medien bis zur Politik, gelangt, könnte sie sich in den Augen vieler Menschen als unfähig erweisen. Viele zweifeln ohnehin schon. Es ist also nicht nur ein nebensächlicher moralischer Appell, wenn man in diese Situation noch sehr höflich und bescheiden hineinruft: Bitte, etwas seriöser!
(c) Karl Kardinal Lehmann
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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