Theologischer Hauptvortrag beim Zukunftsgespräch zwischen Bischöfen und Gemeinschaften des geweihten Lebens am 1. Februar 2007 im Exerzitienhaus Himmelspforten in Würzburg
I.
Die theologische Reflexion und die Bestimmung des Ordensstandes setzen jeweils geschichtlich gewordene Gestalten voraus. Es ist daher auch nicht leicht, gleichsam eine einzige theologische Grundbestimmung für alle Gemeinschaften anzusetzen. Wenn man es dennoch tut, muss man sich der Grenzen bewusst sein. Es dürfte also angemessener sein, von der Vielfalt der Ordensgemeinschaften auszugehen und von da aus einige konstitutive Elemente, die grundsätzlich allen Gemeinschaften – freilich in unterschiedlicher Dichte – zu Eigen sind, hervorzuheben.
Ausgangsbasis für eine heutige theologische Reflexion ist zweifellos das Zweite Vatikanische Konzil. Statt des bisher verwendeten Begriffs Ordensstand, lateinisch „ordo“ (Reihe, Grad, Stand), verwendet vor allem auch das neue Kirchenrecht (1983) für die Gesamtheit der unterschiedlichen Lebensformen den Gattungsbegriff „gottgeweihtes Leben“ (lateinisch: Vita Deo Consecrata) bzw. „Institute des gottgeweihten Lebens“. Die Weihe an Gott geschieht durch die Profess der drei Evangelischen Räte in öffentlichen Gelübden und durch das Leben in einem anerkannten Institut des geweihten Lebens. Ein wesentliches und zentrales Element ist eine besondere, auf Dauer angelegte Nachfolge Jesu. Der Lebensstil und der Apostolische Dienst werden durch eine Ordensregel verpflichtend beschrieben. Rasch treten auch die verschiedenen Probleme auf:
·Wie ist das Verhältnis der Berufung und der „Weihe“ (lateinisch „consecratio“) im Ordensstand zu der jedem Christen eigenen Berufung in der Taufe zu beschreiben? Die Dokumente des Konzils benutzen dabei, wie übrigens schon das Konzil von Trient (vgl. DH 1763-1778 – Kanones über das Sakrament der Weihe), eine komparativische Sprache. So ist die Rede von einer vollständigen Übereignung an Gott (totaliter mancipatur, LG 44,1), inniger geweiht (intimius consecratur, LG 44,1), die Taufreihe voller zum Ausdruck bringen (plenius exprimit, PC 5,1). Es ist bekannt, dass man an diesem komparativischen Sprachstil immer schon Anstoß genommen hat, sodass die interpretierende Beschreibung der Texte eher eine offenere Begrifflichkeit vorzieht, dadurch freilich aber auch das Gemeinte etwas abschwächt. Es ist nicht zu übersehen, dass mit einer offeneren Begrifflichkeit allein (z.B. Ausdrücklichkeit, Sichtbarkeit usw.) die Sache noch nicht genügend erfasst ist.
·Eine wichtige Frage besteht auch in der immer wieder aufgeworfenen Problematik, ob das Ordensleben so etwas wie ein christliches Grundprinzip, eben z.B. eine Berufung in vielen Formen, ist oder als eine Art christlicher Sonderform zu betrachten ist. Die offiziellen Dokumente bewegen sich mehr in Richtung eines christlichen Grundprinzips, während viele Experten – besonders im Hinblick auf die konkrete Verwirklichung – stärker im Ordensleben eine christliche Sonderform sehen möchten.
·Man ist sich über den Zeichencharakter des Ordenslebens weitgehend einig (vgl. z.B. LG 44,3), aber die Mehrdeutigkeit dieser Zeichenhaftigkeit ist nicht zu übersehen (moralisches Vorbild, Stellvertretungs-Funktion, theologisch-sakramental, eschatologisch). In diesem Zusammenhang entsteht dann die Frage, ob das Ordensleben Zeichen der Kirche oder Zeichen in der Kirche ist. Hier bewegt sich der Trend wohl in die Richtung „Zeichen in der Kirche“. „Mehrfach wurde auch Unbehagen an der Zeichenhaftigkeit artikuliert und stattdessen auf den Dienst verwiesen: Teilhabe und Mitwirkung an der Sendung Christi in der Kirche für die Welt – damit ist der ekklesiologische Bezug gewahrt und jede Funktion christologisch begründet (PC 7 mit Röm 12,4). Für die Zeichenhaftigkeit setzt ‚Vita consecrata’ neue Akzente: Zeichen der Brüderlichkeit, Geschwisterlichkeit (signum fraternitatis) und Dienst der Liebe (servitium caritatis), erwiesen im Nachvollzug der Sendung Christi.“
·Im klassischen Verständnis des Ordenslebens ist die „Trennung von der Welt“, ein konstitutives Element. In den kirchenamtlichen Dokumenten bleibt dieses Element eindeutig erhalten (vgl. z.B. can. 607 § 3 CIC: „a mundo separatio“). Die einzelnen Dokumente setzen hier freilich unterschiedliche Akzente. Es ist auch vielfach von der Aufgabe der „promotio humana“, also der Förderung des menschlichen Wohls, die Rede. In diesem Zusammenhang wird auch die Zuwendung zur Welt betont. Dieser Akzent wird ungleich stärker hervorgehoben durch die neu entstandenen so genannten Säkularinstitute, die vor allem durch die Konstitution Pius´ XII vom 2.2.1947 eine offizielle Anerkennung gefunden haben. Ähnliches gilt auch für die noch weiter gefassten Geistlichen Bewegungen. In dem Schreiben „Vita consecrata“ werden ihnen folgende Wesenszüge zugeordnet: „Gründung aufgrund neuer Charismen, die der Heilige Geist zuteilt; gemischte Gruppen von Frauen und Männern, Klerikern, Laien und Zölibatären; besonderer Lebensstil, orientiert an den traditionellen Formen oder an den Bedürfnissen der Gesellschaft; Leben nach dem Evangelium in unterschiedlichen Formen; Gemeinschaftsleben; Lebensstil der Armut und des Gebetes; Leitung durch kompetente Kleriker oder Laien; Verfolgung des apostolischen Ziels der Neu-Evangelisierung.“
·Unübersehbar ist auch die Verwendung des Begriffs Charisma im Anschluss an Röm 12,5-8 und 1 Kor 12,4 (vgl. bes. PC 8). Dabei geht es um geistgeschenkte Gaben für die Kirche zur Ausübung ihrer Sendung in den Ordensgemeinschaften mit einer apostolischen Ausrichtung. Dabei wird nicht nur das Charisma des einzelnen Ordensangehörigen umschrieben, sondern auch das kollektive Charisma der einzelnen Institute hervorgehoben (vgl. PC 2). Dieses ist eng verbunden mit dem so genannten „Ursprungscharisma“, wie es sich dem Gründer und der ihm folgenden Tradition verdankt. So wird auch der Begriff der „dynamischen Treue“ zum Charisma des Gründers geprägt (vgl. implizit auch can. 578 CIC). In den späteren Dokumenten, besonders nach der Bischofssynode 1994 und „Vita consecrata“, wird der Charisma-Begriff häufiger verwendet. Er rückt auch in eine größere Nähe zur prophetischen Aufgabe der Ordensgemeinschaften, wobei dieses Prophetentum den Ordensleuten letztlich von Gott aufgetragen wird. Es eignet sich weniger zur Selbstbezeichnung.
Der Verzicht auf die traditionelle Ständelehre hat den Weg freigemacht, um das Ordensleben mehr als Teil und Ausdruck einer allgemeinen christlichen Berufung zu begreifen. Dabei kommt es nicht nur auf individuelle, sondern auch gemeinschaftliche Elemente an. Der Begriff des Charisma kommt stärker mit ins Spiel. „Nicht ein Verhältnis der Über- oder Unterordnung soll herrschen, sondern alle sind aufgerufen, ihre Begabungen in der je unterschiedlichen Form der Dienste (ministeria) zu leben und in die Kirche einzubringen.“
Durch diese kleine Skizze ist deutlich geworden, in welchem Maß die theologische Reflexion nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil aus einer gewissen Enge herausgeführt worden ist und in eine größere Weite gefunden hat. Allerdings ist auch nicht zu übersehen, dass durch diese unbestimmte und etwas diffuse Breite eine gewisse Strenge in der Fassung des Ordenslebens – wenigstens vorübergehend – verloren gegangen ist. Es gibt noch keine geglückte Synthese einer Theologie des Ordenslebens, sondern im Einzelnen beeindruckende Entwürfe, die freilich oft unausgeglichen nebeneinander stehen, vor allem aber gibt es wenig Ekklesiologien, in denen das Ordensleben einen ausgewogenen Platz innehat.
II.
Um so notwendiger ist es, der Sache des Ordenslebens im Blick auf seine biblischen Wurzeln genauer nachzugehen. Man wird hier sensibel und differenziert vorgehen müssen. Man kann zu viel beweisen wollen, wenn man z.B. ausgeformte Institute einer späteren Zeit geradezu aus der Schrift ableiten möchte. Es wäre aber auch zu wenig, wenn man nicht näher erforschen würde, dass und wie eine besondere Nachfolge Jesu Christi wirklich zum Christsein im Sinne des Neuen Testaments gehört. Dabei geht es nicht um einen beliebigen Nebenkrater auf der Landkarte des gelebten christlichen Glaubens, sondern um das Feuer im Zentrum. Ich wähle dabei als Zugang vor allem zwei Kategorien, die auch mit den Titel dieses Vortrags bilden, nämlich Nachfolge sowie Jüngerschaft und Sendung.
Wer in der Nachfolge Jesu steht, ist sein Jünger, und wer sein Jünger werden möchte, muss zur Nachfolge bereit sein. Nehmen wir einen konkreten Text aus den Jüngerberufungen (Mk 2,14): „Als Jesus weiterging, sah er Levi, den Sohn des Alphäus, am Zoll sitzen und sagte zu ihm: Folge mir nach! Da stand Levi auf und folgte ihm.“ Drei Elemente fallen auf: die Begegnung Jesu mit dem Zöllner, das Berufungswort als Kernstück und der Bericht über die Verwirklichung der Aufforderung. Jesus beruft, wie auch der Ruf an Simon und Andreas zeigt, „im Vorübergehen“. Es geht also nicht um ein langes Vertrautsein mit einer Person oder die Kenntnis besonderer Voraussetzungen, sondern Jesus vollzieht die Berufung mit einer eigentümlichen Voraussetzungslosigkeit und mit einer überraschenden Unmittelbarkeit. Wo aber nichts vorausgesetzt wird, handelt es sich um ein schöpferisches Wort, das nur der Macht Gottes bei der Entstehung der Welt vergleichbar ist, als er das, was nicht ist, ins Dasein rief (vgl. Röm 4,17). So sind nicht einmal Zöllner von einem solchen Ruf ausgeschlossen, obgleich sie als unwürdig und geächtet gelten. Es ist ein fast unwiderstehlicher Ruf, an den keine Bedingungen gestellt werden: gebietend und in Vollmacht ergangen, sodass nur rückhaltloser Gehorsam erwartet wird. Der angerufene Mensch ist bereit, ohne Zögern und Rückfrage Gehorsam zu leisten. Mit dieser Begegnung und Entscheidung beginnt etwas völlig Neues, gleichsam wie am ersten Schöpfungsmorgen. Besonders anschaulich wird die Macht dieses Rufes in die Nachfolge bei der Berufung des Simon und Andreas, die mitten bei ihrer Alltagsarbeit als Fischer angesprochen werden: „Auf, mir nach, dass ich Menschenfischer aus euch mache. Und gleich ließen sie die Netze und folgten ihm.“ (Mk 1,17 in der Übersetzung von F. Stier) „Menschenfischer“ ist damals ein anstößiges Wort, weil es überlisten und übertölpeln heißt (vgl. z.B. Jer 16,16 und Ez 47,10). Die Nachfolge ist eine Indienstnahme, die den ganzen Einsatz des Menschen für einen besonderen Auftrag fordert.
Das aus dem jüdischen Lehrbetrieb zwischen einem Rabbi und seinem Schüler stammende Bild des „Hinterhergehens“, das zunächst Unterordnung und Dienstbereitschaft besagt, verblasst hier eher. Alles ist auf das unbedingte Hören des Rufes Jesu und auf seine Person konzentriert. Es geht um eine uneingeschränkte Schicksalsgemeinschaft, die auch Leiden und Entbehrung im Gefolge des Meisters nicht fürchtet. Bindung an die Person Jesu heißt hier jedoch nicht Ausgeliefertsein an einen beliebig Einzelnen, sondern heißt Teilnahme an seinem Auftrag. Dies aber ist der Dienst an der Sache des nahen Gottesreiches. Nur so lassen sich auch Härte und „Rücksichtslosigkeit“ des Rufes Jesu erklären, weil er im Dienst an seiner Sendung nicht ihm selbst gilt. Der Jünger muss so aber auch frei sein für diesen Dienst, in uneingeschränkter Bereitschaft, die ganze Ungesichertheit des Meisters zu teilen: „Ein Jünger steht nicht über seinem Meister und ein Sklave nicht über seinem Herrn. Der Jünger muss sich damit begnügen, dass es ihm geht wie seinem Meister, und der Sklave, dass es ihm geht wie seinem Herrn.“ (Mt 10,24 f.).
Es bleibt freilich die Frage, an wen dieser Ruf ergeht. Von Anfang an muss man zwei Modelle ausschalten, weil sie fragwürdig sind. Man darf in dem Ruf zur Nachfolge nicht einfach einen „Ausnahmefall“ sehen, aber auch den Ruf nicht als an das ganze Volk gerichtet interpretieren. Man darf beim Gedanken an die „Jünger“ diese auch nicht gleichsetzen mit den „Zwölf“. Es gibt jedoch einige Hinweise, dass die „Nachfolge“ Jesu nicht die für alle geltende Bedingung zur Teilhabe am nahen Gottesreich war. Nachfolgen im äußeren Sinne ist nicht die allgemeine Bedingung des Heils. Ein wichtiger Hinweis dafür ist der Hinweis auf den reichen Jüngling. Er braucht nur die Zehn Gebote zu erfüllen. Der Ruf in die Nachfolge wird bedingt erteilt: „Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen; so wirst du einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach.“ (Mt 19,21) Aber man darf dies nicht falsch deuten. Der Gedanke an eine „doppelte Jüngerschaft“, ein doppeltes Ethos oder gar an eine doppelte Moral, die sich an eine weitere Anhängerschaft und einen engeren Kreis richten, bedarf einer sehr klugen und selbstkritischen Reflexion. Die klassische Unterscheidung zwischen einem Stand der Gebote und dem Stand der Räte zielt zwar durchaus etwas Richtiges an, unterliegt aber, vor allem wenn der Unterschied verfestigt wird, den genannten Einwänden.
Man kann gewiss nicht leugnen, dass es bei Jesus eine engere Gemeinschaft des um den Herrn gescharten Kreises, z.B. der Zwölf, gibt, und eine allgemeinere Jüngerschaft. Wenn es auch Tendenzen gibt, die Schar der engeren Jüngerschaft auf die Zwölf zu konzentrieren; so lässt sich im Ganzen sagen: die, die Jesus nachfolgen, überschreiten zugleich diesen Kreis. Jesus hat die Zugehörigkeit zur künftigen Gottesherrschaft auch Menschen verheißen, die nach der Überlieferung nicht zu den Jüngern zählten (vgl. Mk 10,15; 12,34; Lk 6,20; Mt 7,21). Im Übrigen wird die Zusage des Eingehens in die Gottesherrschaft niemals einer abgegrenzten Gruppe von Anhängern gegeben. Man muss sich also vor einer elitären Zwei-Stufen-Moral hüten, wie immer man diese auf einzelne Menschengruppen aufteilt.
Vielmehr sollte man stärker auf die beiden Gruppen gemeinsame Basis sehen, was darin auch sein Recht findet, dass das Neue Testament die Aufforderung zur Nachfolge auf jeden Christen beziehen kann (vgl. bes. Mk). Der Ruf z.B. zur Armut ist kein „Gesetz“, das schematisch und verallgemeinernd verstanden worden ist. „Von einigen Anhängern Jesu wird nämlich ausdrücklich gesagt, dass sie begütert waren: Die galiläischen Frauen stellten ihr Vermögen in den Dienst Jesu (Mk 15,40f. par; Lk 8,3). Joseph von Arimathäa, ein reicher Mann und Messiasgläubiger (Mt 27,57; Jo 19,38), der auf das Reich Gottes wartete (Mk 15,43 par), sorgte nach dem Tode Jesu für ein würdiges Begräbnis (Mk 15,46 parr). Ebenso verhielt sich Nikodemus (Joh 19,39).“ Der Dienst, der im Besitz von Haus und Geld geleistet werden kann, kann auch „Nachfolge“ werden. Dabei gibt es auch Merkmale neuer Art für die Nachfolge: Nachfolge geschieht durch Bereitschaft zum Leiden (vgl. Mk 8,34 ff.; 10,32), durch „Dienst“ (Mk 15,41, vgl. 1,31) und in der Tischgemeinschaft mit Jesus (vgl. 2,15).
Es gibt also so etwas wie ein abgestuftes Ethos in der Verwirklichung der Nachfolge Jesu Christi. Im Prinzip folgt jedoch das „Jüngerethos“ keiner anderen Logik als das „allgemeine Ethos“. Es sind durch das entschlossene Sicheinlassen auf die Nähe der Gottesherrschaft nur Konkretionen desselben Ethos. Der Jünger ist besonders durch den Auftrag der Verkündigung und diese Form der Mitarbeit eine spezielle Ausformung des grundlegenden Auftrags. Was vom Jünger in seiner konkreten Situation verlangt wird, kann auch in bestimmten Umständen für den „Sympathisanten“ dringlich werden. Einmal wird hier der persönliche Anruf Jesu entscheidend, was man mit einem engeren Verständnis von „Berufung“ in Zusammenhang bringen kann, zum anderen wird ein Konflikt mit einer bisherigen gesellschaftlichen Norm möglicherweise auch zum Auslöser für eine radikalere Entscheidung.
III.
Die Gemeinsamkeit der spirituellen Basis darf nicht den Unterschied im Ruf der Nachfolge verwischen. Es geht nicht nur um Radikalisierungen allgemein christlicher Postulate. Der Unterschied liegt auch nicht darin, dass sie einfachhin konkret befolgt werden, während sie beim Laien „dem Geist nach“ Beachtung finden. Vielmehr haben sich drei Ratschläge Jesu in besonderer Weise zu einer typischen Lebensform verdichtet, in der der Umgang mit den Lebensbereichen Güter und Güterverfügung, Partnerschaft und Sexualität, freie Selbstbestimmung und Lebensplanung entscheidend wird. Diese so genannten „Evangelischen Räte“ haben einen tiefen christologischen Hintergrund, denn sie sind sehr eng mit der Sendung Jesu selbst verbunden. Ich brauche hier nicht ausführlich die Herauslösung aus dem Familienzusammenhang, die Heimatlosigkeit des Menschensohnes, den bedingungslosen Gehorsam dem Vater gegenüber und die Bereitschaft zur Schicksalsgemeinschaft mit Jesus im Einzelnen und ausführlicher darzulegen. Einige Hinweise genügen.
Jesus fordert einen strikten Abschied von den Familienangehörigen. Der Jünger soll sich von seinen nächsten Angehörigen bewusst und entschieden distanzieren. Hier sei nur an zwei besonders provozierende Jesusworte erinnert: „Als sie auf ihrem Weg weiterzogen, redete ein Mann Jesus an und sagte: Ich will dir folgen, wohin du auch gehst. Jesus antwortete ihm: Die Füchse haben ihre Höhlen und die Vögel ihre Nester: der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann. Zu einem anderen sagte er: Folge mir nach! Der erwiderte: Lass mich zuerst heimgehen und meinen Vater begraben. Jesus sagte zu ihm: Lass die Toten ihre Toten begraben: du aber geh und verkünde das Reich Gottes! Wieder ein anderer sagte: Ich will dir nachfolgen, Herr. Zuvor aber lass mich von meiner Familie Abschied nehmen. Jesus erwiderte ihm: ‚Keiner, der die Hand an den Pflug gelegt hat und nochmals zurückblickt, taugt für das Reich Gottes.’“ (Lk 9,57-62). In diesen Zusammenhang gehört auch das anstößige Wort: „Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern, ja sogar sein Leben gering achtet (wörtlich: hasst), dann kann er nicht mein Jünger sein.“ (Lk 14,26) Wir stoßen auf einen ähnlichen Sachverhalt, wenn wir an die Berufungsgeschichten anknüpfen. Nachfolge schließt die Aufgabe des alltäglichen Berufes aus. Wer in der Nachfolge Jesu steht, hat einen neuen Beruf im Dienste Jesu ergriffen, der ihn total beansprucht. Es bleibt kein Platz mehr für einen regulären Beruf. Was für Familie und Beruf gesagt wird, gilt ebenso für den Besitz. Die Geschichte vom reichen Jüngling (Mk 10,17; Mt 19,16 ff.) wurde schon erwähnt. Hier geht es um eine Beanspruchung, wie sie im Alten Testament bei aller Gesetzesverschärfung überhaupt nicht in den Blick kommt. Auch von dem reichen Jüngling wird eine totale Preisgabe des bisherigen Lebens verlangt, er muss sich jeden Rückweg selber versperren. Die Selbstpreisgabe des Menschen (vgl. Lk 14,26) kann nur einer fast zerstörerischen „Gesetzlichkeit“ entgehen, wenn sie positiv der totalen Bindung an Jesu Person und Geschick entspricht. Gerade hier ist die christologische Gründung unverzichtbar (vgl. Mk 10,29 f.; 8,35 f.). „Es geht in der Nachfolge Jesu somit um eine totale Bindung an Jesu Person und Auftrag. Gerade das unterscheidet sie von allem, was es vorher an Nachfolge gegeben hat.“ Maßgebend ist also nicht der Gehorsam gegenüber einzelnen Weisungen, sondern die Totalität personaler Bindung. Die unbestreitbar vorliegende „Radikalität“ in Jesu Anspruch entspringt der Neuheit des Evangeliums und nahen Gottesreiches.
Die Auswahl der „Evangelischen Räte“ ist nicht zufällig, weil sie unausweichlichen menschlichen Sehnsüchten und Tendenzen entspricht: dem Wunsch nach Ansehen, Macht und Besitz. Wie wichtig gerade der Verzicht darauf ist, wird auch daran erkennbar, dass Jesus selbst ihnen in den Versuchungen ausgesetzt ist (vgl. Mt 4,1-11). Auch wenn das, was die Evangelischen Räte meinen, innere Momente eines jeglichen christlichen Glaubens sind und ganz bewusst beispielhaft auf alle Christen wirken, so muss man auch verstehen, dass diese Lebensdimensionen gerade wegen der widerstrebenden Daseinsorientierung des Menschen eine verlässliche Form und eine stabile Gestalt brauchen. In diesem Zusammenhang sind die Ausbildung der Gelübde und das Versprechen endgültiger Bindungen zu sehen. Die heutige Sprachphilosophie hat ja die besondere Form des Versprechens und der Gelübde herausgestellt, vor allem in der Sprechakt-Theorie. Gerade angesichts des explosiven Spannung zwischen der natürlichen Dynamik des Menschen und dem Evangelium, zwischen dem alten und dem neuen Menschen, bedarf es zur Festigung eines solchen Entschlusses einer bewährten Lebensform, wie sie sich in den großen Ordensregeln jeweils niederschlägt. Durch diese am Ende nur christologisch motivierbare Lebensform unterscheidet sich die Ordensexistenz bei allen äußerlichen Ähnlichkeiten auch radikal von alternativen Lebensstilen.
Weil die nahe Gottesherrschaft den ganzen Menschen beansprucht, muss er ganz frei sein. Insofern liegt in der Ordensexistenz gewiss von Anfang an ein endzeitlicher Stachel, der auf das Unvergleichliche eines solchen Lebens hinweist. In diesem Sinne ist „Heimatlosigkeit“ nicht nur eine übliche Redensart, sondern gehört zur Bedingungslosigkeit des Rufs in die Nachfolge und der gehorsamen Antwort darauf. In gewisser Weise manövriert sich der Nachfolgende so aus der eigenen Gesellschaft heraus, weil er ihre Spielregeln nicht annimmt, sondern vielmehr bricht. „Außenseitertum“ ist dafür noch ein zu harmloses Wort. Die Seinen hielten Jesus für verrückt (vgl. Lk 3,21). Seine Vaterstadt verwarf ihn (vgl. Lk 6,1 ff.). Paulus hat diese Paradoxie des Lebens Jesu, ja die Torheit seiner Liebe am besten in sein Evangelium aufgenommen, wenn er die Weisheit dieser Welt mit der Torheit des Kreuzes vergleicht (vgl. 1 Kor 1,17-31). Ohne ein solches Narrsein im Auftrag Gottes kann man eine solche Sendung nicht erfüllen.
Damit wird auch leicht einsichtig, dass man diese Nachfolge nicht verstehen kann ohne die Leidensbereitschaft. So gehören auch Nachfolge und Anfechtung eng zusammen. Vielleicht liegt hier der größte Gegensatz zur gängigen heutigen Lebensanschauung, die das totale Glück in dieser Zeit sucht und dem Leiden weitgehend die Daseinsberechtigung abspricht.
Vielleicht ist gerade auch so einzusehen, dass in der Lebensform der Ordensexistenz die Betonung des Einzelnen in seiner unersetzlichen Bedeutung und die nicht weniger radikale Anforderung durch die Gemeinschaft sich nicht einfach widersprechen. Hier muss man erkennen, dass freilich nur der Einzelne, der sein eigenes Leben preisgeben kann, im Geist Jesu Christi fähig wird, sich in letzter Selbstverleugnung dem Leben in der Gemeinschaft rückhaltlos hinzugeben. Jeder Individualismus und jeder Kollektivismus sind hier schon im Ansatz durch den Ruf in die Nachfolge überholt, auch wenn sie in den Zerrformen immer wieder Gefahren bleiben. Auf diese Weise entsteht in der Kirche ein Freiheitsraum, wie er heute nur noch höchst selten gegeben ist.
IV.
Das Neue Testament gibt uns jedenfalls viele Anregungen und Anstöße zu verschiedenen Lebensformen, in der die Armut eine grundlegende evangelische Haltung, die Ehelosigkeit ein besonders Charisma und der Gehorsam eine eigene Form des Dienens darstellen.
Am Ende wird ein solches Leben nur aus der Entscheidung einer Wahl heraus geboren. Hier kommt auch alle Theorie und jede Rede „über“ ... an eine innere Grenze. Am Ende kommt es auf diese Tat des Lebens an. „Weil sie (die Tat) das Wollen offenbart, festlegt, bekräftigt und sogar hervorbringt, dient die Tat dem Versprechen zum Siegel und gibt der unwiderruflichen Verdingung Halt und Gehalt. Was den Vertrag besiegelt, den Ehebund knüpft, den Diakon weiht, ist eine Unterschrift, ein Wort, ein Schritt – immer eine Tat, deren abschließende Einheit allen inneren Zwiespalt hinter sich lässt und die vielleicht noch zagen oder zögernden Kräfte unwiderruflich dem Werk weiht. Tun, das heißt in Wahrheit alle Brücken hinter sich abbrechen ... Das Tun ist eine echte Eroberung. – So gelingt es im Tun auch zu wollen, was einer zunächst scheinbar gar nicht wollen konnte ... Schließlich ist die Arbeit nie fertig und die Eroberung nie unbestrittener Besitz. Dieser lebendige Bau hält sich nie im Gleichgewicht und droht gleichsam jeden Augenblick wieder einzustürzen ... Getan haben entbindet nicht vom Tun; in der Moral gibt es keinen Anspruch auf Pension.“
Dies macht die Unwiderruflichkeit und – von außen her gesehen – Härte des Ordenslebens aus. Aber dadurch wird dieses Leben von innen her licht und hell. Hier spielt ein eigentümliches Verhältnis von Geist und Buchstabe mit. Wir sind gewohnt, etwas leichtfertig den Geist gegen den Buchstaben zu setzen. Der Buchstabe kann gewiss den Geist töten. Aber man muss sehr genau sehen, was man damit meint. „Versklavt wird im Gegenteil, wer nur in seinem eigenen Licht denken und nach seinem eigenen Urteil handeln will. Wer kein Bedürfnis mehr spürt, sich zu erneuern und zu übertreffen, hat kein Leben mehr.“ Man kann nämlich auch sagen, dass der Geist in unserem Handeln nur lebendig wird durch den Buchstaben, das heißt die eindeutige Praxis des Lebens, die uns von vielen Willkürlichkeiten befreit. „Unter der Hülle des Buchstabens dringt die Fülle eines neuen Geistes ein.“ Nur wenn der Ruf in die Nachfolge mit der ganzen Existenz, mit aller Entschiedenheit und bis in die konkrete leibliche Dimension hinein angenommen wird, lässt er sich unverkrampft leben.
Damit haben wir auch ein Thema erreicht, das hier nicht fehlen darf. Wenn im Tun die Vollkommenheit liegt und das ungeteilte Herz letztlich allein radikales Christsein verbürgen kann, dann gehört die Einfachheit zu einer solchen Existenz. Einfachheit in diesem Sinne bedeutet zugleich Einfalt, Durchsichtigkeit und Aufrichtigkeit. Sie hat in den großen Ordensregeln einen besonders wichtigen Platz. Wie aus einer Wurzel wird das gewählte Leben hell. In der Regel von Taize heißt es zu dieser „Einfalt“: „Deine Verfügbarkeit setzt voraus, dass du ständig deine ganze Existenz vereinfachst, nicht durch Zwang, sondern im Glauben. – Meide die gefundenen Wege, auf denen der Teufel dich sucht. Wirf die unnützen Lasten ab, damit du besser die Bürden der Menschen, deiner Brüder zu Christus, deinem Herrn, tragen kannst. – In der Transparenz der brüderlichen Liebe gestehe schlicht deine Fehler ein; nimm sie aber nicht zum Vorwand, um die der anderen herauszufinden. Wo die Brüder auch sind, pflegen sie untereinander den kurzen und häufigen Austausch. – Einfalt heißt auch Loyalität gegen sich selbst, um zur Klarheit zu gelangen; sie ist ein Weg, offen zu werden für den Nächsten. – Sie ist da in der gelösten Freude des Bruders, der das quälerische Sorgen um seine Fortschritte und Rückschläge aufgibt, um seinen Blick unverwandt auf das Licht Christi zu richten.“ Dies ist ein Beispiel dafür, was in der Konzentration dieses Lebens mit „Einfalt“ gemeint ist.
Man darf die drei Evangelischen Räte: Ehelosigkeit, Armut und Gehorsam nicht für sich allein betrachten, gleichsam von außen. Sonst bezeichnen sie zu sehr nur die Verneinung von Ehe, Besitz und freier Selbstverwirklichung. Sie umreißen vielmehr eine Lebensgestalt, die von innen her entscheidend als unmittelbar geforderte Nachfolge Jesu Christi erscheint. In der Unbedingtheit der Nachfolge sind die einzelnen „Räte“ mehr oder minder im Ansatz verborgen. Nur in dieser letzten radikalen Verankerung sagen die Evangelischen Räte wirklich das aus, was sie vom Evangelium her erfüllt. Sie meinen nichts anderes als die volle Verfügbarkeit für den Willen des Vaters.
Dabei wird man sich vor Übertreibungen hüten müssen. Der Ordensstand gibt nicht als solcher schon Vollkommenheit, sondern er bietet eine größere Gelegenheit, zur Vollkommenheit im Sinne des Evangeliums zu gelangen. Insofern gibt es wirklich die Möglichkeit einer Steigerung intensiv gelebten christlichen Daseins. So kann man wirklich von den äußeren Lebensbedingungen her den Ordensstand als das „seligere“ Leben bezeichnen, wie es die Überlieferung der Kirche tut. In diesem Sinne scheuen sich auch die neueren Dokumente über das Ordensleben auch nicht, in komperativen Ausdrücken zu sprechen, wie „in besonderer Weise“, „mehr und mehr“, „glühender“, „reicher“, „kräftiger“, „der vorzügliche Wert“. Wir möchten heute gerne diese Sprache vermeiden. Aber wenn man auf die Bibel schaut, dann ist uns dies so nicht erlaubt.
Ohne die tägliche Annahme des Rufes in die Nachfolge gibt es jedoch die große Gefahr, dass der vorgegebene Rahmen nicht mit dem Existenzanspruch zusammengeht. Darum sagt Hans Urs von Balthasar mit Recht: „Alles an der Kirche verfällt immer wieder, sinkt ab, wird untreu, fälscht das Wesen. Je anfordernder und damit schwerer ein christliches Zeugnis zu leben ist, desto mehr Unheil richtet sein Versagen an. Die Kritik am Leben der evangelischen Räte wird nie verstummen, solange schwache, fehlbare Menschen es zu leben versuchen. Sie müssen sich diese Kritik immer neu anhören, das Berechtigte daran erkennen, es durch neue Anstrengung zu entkräften suchen. Gegen den besonderen Ruf zur Verfügbarkeit aber wird es niemals eine berechtigte Kritik geben können, weil es ohne ihn kein Evangelium und keine Kirche gäbe.“ In diesem Sinne drückt das Wort von der „Vollkommenheit“ – es ist ja eine biblische Weisung: „Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen; so wirst du einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach“ (Mt 19,21) – das zusammenfassende Ziel der Forderung Gottes aus. Die Erfüllung der Evangelischen Räte darf nie gleichsam von einem Typ bloßer Befolgung der Gebote her verstanden werden, sondern sie ist letztlich nur als vollkommene Hingabe und unbeschränkte Liebe möglich, zu der die Freiheit des Geistes Voraussetzung ist. Nur so kann es auch die „bessere Gerechtigkeit“ (vgl. Mt 5,20) geben, von der auch das Neue Testament trotz aller Missverständnisse zu sprechen wagt.
Die Kirche braucht darum immer wieder lebensnotwendig das Beispiel einer christlichen Existenz, die auf alle sonstigen Lebenssicherungen verzichtet und ganz dem Ruf zur Nachfolge entspricht. Immer wieder ertönt der Ruf nach einem radikalen, authentischen Christentum. Gerade junge und kritische Menschen rufen stets danach. Für die Bibel heißt radikal zunächst „vollkommen“. „Seid also vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist“ (Mt 5,48). Dahinter steht weniger das perfekte Ideal einer in allem ausgereiften „Persönlichkeit“, sondern das, was die biblische Sprache mehr mit „ganz“, „unversehrt“, „heil“ und nicht zuletzt „ungeteilt“ zum Ausdruck bringt. Da diese Nachfolge vom gesamten Gottesvolk gefordert ist, darf man das Leben in der Nachfolge Jesu nicht als „Ausnahmefall“ sehen. Wenn es nun in besonders reiner und leuchtender Form gelebt wird, dann kommt darin leibhaftig und buchstäblich das Evangelium Jesu Christi zu lebendiger Anschauung. Der Gehorsam, dieses Evangelium Jesu Christi gleichsam wörtlich zu nehmen, „sine glossa“, ohne die Kunst des Umdeutens, gehört zum Evangelium selbst. Dies mag den Weisen und Klugen zwar immer wieder „naiv“ erscheinen, in Wahrheit erfüllt sich gerade hier die Weisheit Gottes, die freilich nicht abtrennbar ist von der Torheit der Liebe Gottes am Kreuz. Dieses Zeugnis braucht die Kirche. Nichts braucht sie dringender als diese radikale, ungeteilte Verwirklichung des Evangeliums Jesu Christi.
Der wahre Ordensstand macht konkreten Ernst mit der Nachfolge Jesu Christi. Er darf der Kirche freilich nicht die Genugtuung geben, hier würde reines Christentum stellvertretend für alle gelebt, als ob die anderen vom Streben nach „Vollkommenheit“ dispensiert wären! Aber es ist doch für alle Christen stets ein Beispiel und ein Aufruf, damit sie in ihren Lebensumständen auf ihre Weise und nach ihrem Maß die Nachfolge verwirklichen. Dies muss nicht nur im Sinne eines leuchtenden Beispiels geschehen, sondern kann auch prophetische Züge der Herausforderung haben. In einer Zeit, in der das Selbstverständnis vieler Menschen – auch solcher, die getauft sind – in Distanz steht zum Evangelium Jesu Christi, wird auch das Ärgernis nicht einfach fehlen. Es darf freilich nicht bei sekundären Ärgernissen bleiben, sondern die Lebensweise nach dem Evangelium muss der Anstoß bleiben, der andere nachdenklich macht. In einzelnen Fällen können Ordensleute auch ähnlich wie Jesus selbst so etwas wie ein „heilbringender Widerspruch in Person“ (Papst Johannes Paul II) werden. Umgekehrt ist schließlich das Leben nach den Evangelischen Räten eine exemplarische, prophetische Schule des Glaubens für alle Christen. Darum suchten früher und suchen auch heute so viele Menschen aus der Welt Rat bei denen, die um des Evangeliums willen frei und unabhängig sind.
V.
Ich will und muss hier abbrechen. Man müsste aufzeigen, wie viele Impulse des Zweiten Vatikanischen Konzils aufgenommen worden sind. Es gibt eine wichtige Linie vom Dekret des Konzils über die zeitgemäße Erneuerung des Ordenslebens „Perfectae caritatis“ über verschiedene Verlautbarungen der zuständigen Kongregation bis zum Nachsynodalen Apostolischen Schreiben Vita Consecrata von Papst Johannes Paul II. vom 25. März 1996. Papst Johannes Paul II. hat in zahlreichen Ansprachen und Texten das Verständnis des Ordenslebens zu vertiefen versucht. Erwähnen möchte ich noch – oft zu Unrecht vergessen – den Beschluss der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland über die Orden und andere geistliche Gemeinschaften.
Ich hoffe, dass damit deutlich geworden ist, in welch hohem Maß gerade heute die Orden und die geistlichen Gemeinschaften, einschließlich der Säkularinstitute, noch wichtiger und dringlicher geworden sind für die Präsenz und Kraft des christlichen Glaubens innerhalb und außerhalb der Kirche. „In jeder Periode der Geschichte hat Gott einer Reihe von Menschen den Auftrag erteilt, das Evangelium nach dem Urtext vorzuleben. In ihrer Person ‚mit Leib und Blut’ eine zeitgemäße Originalausgabe darzustellen.“
Noch vieles wäre zu entdecken und wieder zum Leuchten zu bringen. Dies soll jedoch in den Statements und in den Arbeitsgruppen geschehen. Immer wieder kommen wir auf das in Jesus Christus verborgene und offenbar gewordene Geheimnis des Rufes in die Nachfolge zurück. Der Geist der lebendig macht (vgl. Joh 6,63), möge uns alle zu jenen Ursprüngen und Quellen aufbrechen lassen, von denen geistliche Berufungen leben und ermutigt werden. Dies erhoffe ich von dem so genannten Zukunftsgespräch zwischen Bischöfen und Gemeinschaften des geweihten Lebens am heutigen Tag in Würzburg, am Vorabend des Festes „Darstellung des Herrn“ (Lichtmess), dem Tag des geweihten Lebens in unserer Kirche.
(c) Karl Kardinal Lehmann
Redemanuskript - Es gilt das gesprochene Wort
Der Originalvortrag enthält Fußnoten und Anmerkungen.
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz