Exponat: Die lesenden Mönche III, Bronze 1932 (Kaiser Wilhelm Museum Krefeld)
Ernst Barlach besticht nicht zuletzt durch die Vielfältigkeit seiner Kunst. Er selbst hat immer darauf hingewiesen, dass der Weg des Bildhauers für ihn der schwerste der drei Wege gewesen sei, nämlich vom Grafiker über den Dichter bis zum Plastiker. „Der Plastiker endlich fand den Durchbruch zur Form, die der Vielfalt Einheit, dem Vergleitenden Dauer, dem Einmaligen das Verpflichtende des Gesetzes lieh. Erst in der Plastik rundete sich das Werk. Kam der Suchende in sich wie außer sich aus der Qual des verfließend Subjektiven in die Sicherheit des bleibend Objektiven, in dem sein Wesen wie sein Wollen, sein Warten wie sein Vorwärtsdrängen Sinn, Ruhe, Ziel und die erlösende Aufgabe fand, nach der er mehr als ein Menschenalter umhergetastet hatte.“
Dies gilt wohl gerade auch für das Motiv des bzw. der Lesenden, das schon früher auftaucht (Die Buchleser, Bronze 1921), aber doch erst zu Beginn der 30er Jahre fast bis zu seinem Tod (1938) eine besondere Dichte erfährt. Erste Anfänge zu diesem Motiv gibt es schon 1905.
Das Motiv des Lesenden gehört zunächst gewiss in die eindrucksvolle Reihe bekannter Gestalten wie „Der Singende Mann“, „Der Dorfgeiger“, „Die Tänzerin“, „Die Pilgerin“, „Die Erwartende“, „Der Empfindsame“, „Der Flötenbläser“, „Der Einsame“, „Der Zweifler“, „Der Ekstatiker“, „Die Ausgestoßenen“, „Der Bettler“, „Der Sinnende“, „Moses“, „Der Apostel“, „Mutter und Kind“. Dabei gehört das Lesen eng zusammen mit der Existenz von Menschen, die sich offensichtlich radikal dem Lesen widmen, das durch diese Intensität eine enge Beziehung zur Besinnung und zum Beten gewinnt. So ist es nicht zufällig, dass dabei auch „Der Klosterschüler“ und „Die Lesenden Mönche“ erscheinen. Das Beten der Psalmen und die Schriftlesung („lectio divina“) gehören für die Mönche schon sehr früh zum täglichen Leben und machen wirklich die Existenz des Mönches aus, und zwar sowohl in Gemeinschaft wie auch im Blick auf den Einzelnen. Der Lesende gewinnt gerade beim Meditieren eine besondere Tiefe, die seine ganze Existenz prägt und durchwaltet.
Von den „Lesenden Mönchen III“ gibt es offenbar mehrere Fassungen, sowohl in Eichenholz als auch in Bronze. Ich brauche hier der Frage nach den verschiedenen Fassungen nicht nachzugehen. Sie gelten auf jeden Fall als eines der reifsten und schönsten Werke Barlachs. „Zwei Mönche – die Gruppe misst in der Höhe 84 cm – sitzen nebeneinander, links ein Jüngerer, Schlankerer, ein wenig Größerer, rechts ein Älterer, breiter, schwererer, dumpfer, der Passive der beiden, dem der Jüngere, Aktivere, Geistigere die Schrift liest und weist, die breit aufgeschlagen auf den eng aneinandergerückten Knien der beiden liegt. Der Jüngere links mit einem schmalen bartlosen Gesicht, mit leicht gebogener Nase und einem beweglich bewegten, sprechenden Mund hält mit beiden Händen das Buch; der Rechte, breit in sich geschlossen, sitzt dicht neben, etwas hinter ihm, seine großen Hände hängen gefaltet zwischen seinen Knien; der runde Schädel mit der bäuerlichen Nase ist im Lauschen ganz leicht nach rechts geneigt, die Augen ein- und halb zugedrückt wie der etwas vorgeschobene Mund mit den zusammengepressten Lippen. Die Kutte liegt in schweren, ruhig abwärts gekurvten Falten um ihn, während sie um den Jüngeren in großen, lebendigen Linien hinabgleitet. Zwei sehr verschiedene Menschen und ihre sehr verschiedenen Welten klingen fast musikalisch zusammen in der schönen, stillen Einheit eines Akkords, der das Ganze erfüllt. Die Gruppe ist getragen von der ausgeglichenen Einheit aller Gestaltungswelten: die Gesichter haben die Ruhe des Allgemeinen bekommen, die die vorbereitende Gotik der Gestalten aus den zwanziger Jahren noch erstrebte und in der Spannung dieses Wollens lassen musste ... Der Schrei des Elementaren ist verstummt und der metallische Klang der abgelösten Form ebenfalls: Im lebendigen Material des Holzes hat ein Stück Leben, das beruhigt undramatische Zusammensein zweier Männer, lebendig schwingende und zugleich in sich zurückschwingende Wirklichkeit bekommen.“
Ich darf hier eine gelegentliche Bemerkung in Kommentaren übergehen, die die linke Gestalt als tibetanischen Priester, die Rechte als griechischen Mönch bezeichnet haben. Wenn diese Deutung keine historisch nachweisbare, in der Biographie Barlachs wirklich begründete Bestätigung findet, scheint sie mir eher wenig überzeugend zu sein.
In dieser Skulptur, die die tiefe Einheit der beiden Mönche vor allem auch in ihrem gemeinsam suchenden Erkennen, aber zugleich auch ihre unverkennbare Individualität zum Ausdruck kommt, erscheint die ganze Tiefe des Lesens, darin sich nach alter Überzeugung der menschliche Geist sammelt. Im besinnlichen Lesen kommt der Mensch den Dingen auf den Grund. In diesem Sinne ist der wahre Mensch ein Lesender. Ernst Barlach wollte offensichtlich im Lesen eine besonders hohe Ausdrucksform menschlicher Kultur in Erinnerung bringen, hier gewiss auch ganz nahe beim Lesen des „Buches der Bücher“ und dem Nachdenken über es.
Ich denke aber, dass man diese Gedanken noch etwas ausweiten muss und in die konkrete Zeitsituation hineinstellen darf. In der Zeit, als Barlach mehr und mehr große Aufträge bekommen hat (ab 1927), beginnen auch die Verleumdungen von parteipolitischer Seite. So hetzt der „Stahlhelm“ gegen ihn. Rechtsparteien und vaterländische Vereine ziehen gegen Barlach vom Leder. Im Jahr 1932, aus dem die „Lesenden Mönche“ stammen, erfolgen gegen den „Juden“ und „Kommunisten“ Ernst Barlach heftige Angriffe, die z.B. auch ein geplantes Ehrenmal in Stralsund zum Scheitern bringen. Er protestiert gegen diese und andere Machenschaften. Theater von ihm werden abgesetzt. Der 1936 erschienene Band „Ernst Barlach: Zeichnungen“ wird beschlagnahmt. Im Jahr 1937 erfolgt dies sogar für 400 Werke von Barlach aus Museen und öffentlichen Sammlungen („Säuberungskommissionen“). Vieles gilt als „Entartete Kunst“. Das Hamburger Ehrenmahl wird 1938 zerstört (1945 erneuert). Der Künstler stirbt am 24. Oktober 1938, gewiss auch durch diese Vorkommnisse äußerst bedrängt. An Ostern 1938 war er 50 Jahre bildhauerisch tätig.
In diesen Zusammenhang passt ein Bild, das man nicht übergehen darf. Es ist „Der Buchleser (Lesender Mann im Wind)“ in Bronze, wohl auch noch als Gipsmodell erhalten aus dem Jahr 1936. Der Wind, der in die Buchseiten hineinfährt, hat auch sonst bei Barlach seine Geschichte. Er wird zuerst erkennbar in der Lithographie „Wem Zeit wie Ewigkeit und Ewigkeit wie Zeit, der ist befreit von allem Leid (Jacob Böhme)“ aus dem Jahr 1916 . Auf einer Kohlezeichnung aus dem Jahr 1922 sitzt ein ebenfalls „Lesender Mann im Wind“ genannter Buchleser gelöster, gleichzeitig ist er dringlicher ins Buch vertieft. In diesem weiten Zusammenhang entsteht die Plastik „Der Buchleser (Lesender Mann im Wind)“ im Frühjahr 1936 in Ton und Gips. Barlach sagt von diesen Darstellungen z.B. auch der Lesenden in einem Protestbrief an Joseph Goebbels: „Unmöglich, dass z.B. Blätter wie (ich nenne die dargestellten Themen:) Lesender, Geiger, Lied an die Freude ... und weitere ähnliche, nämlich Schilderungen rein menschlicher und zeitloser Zustände den Schutz der Öffentlichkeit vor ihnen herausfordern.“ Es ist heute noch eine Schande, wie die Tagespresse im Frühjahr 1936 dieser zerstörerischen Stimmung folgte.
Damit zeigt sich ein wichtiger, letzter Zug in der Darstellung der Lesenden bei Ernst Barlach. In der Konsequenz des zum menschlichen und kulturellen Rang des Lesens Gesagten gewinnt die Darstellung eine unerhörte Zuspitzung. Im „Buchleser“ erscheint der Leser gegenüber der Außenwelt eher abgeschlossen. Er lebt in seiner Welt: „Sein Rücken, einer Kugelschale angenähert, hält wie ein Schild Störendes ab, schirmt Intimität und Alleinsein des Lesenden, die Voraussetzungen aller geistigen Bemühungen.“ So formiert sich im „Buchleser“ gegenüber den verordneten Diffamierungen ein unübersehbarer Widerstandswille. Lesen in dieser Tiefe macht frei, nicht nur nach innen, vielmehr im und durch Lesen.
Ich brauche nur zu erwähnen, dass Alfred Andersch in seinem Roman „Sansibar oder der letzte Grund“ der Holzplastik des „Lesenden Klosterschülers“ ein würdiges Denkmal gesetzt hat, indem sie für ganz verschiedene Menschen – es sind fünf - eine Kristallisationsfigur für Freiheit und Unabhängigkeit des Gedankens wird (auch als Hörspiel oft gesendet und als Film von Bernhard Wicki bekannt).
Dies ist nicht nur eine kurze historische Rückblende, vielmehr ist es auch eine Mahnung für unsere Tage gerade - bei allen Erfolgen der neuen Medien - die unersetzliche Übung des Geistes im besinnlichen Lesen nicht zu vergessen. Lesen hat auch hier etwas mit dem Sammeln des Geistes und seiner selbstständigen Kraft zu tun. Dies sind Voraussetzungen auch für Glauben heute.
© Karl Kardinal Lehmann
Im Original sind eine Reihe von Fußnoten enthalten, die auch auf Literatur verweisen
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz