Europa steht zurzeit unter großem Druck. Nach den jahrelangen Krisen im Bereich der Finanzen sind für die Europäische Union zwei große Problemfelder entstanden, nämlich das Schicksal von Griechenland und die Bewältigung der Nöte durch die hohe Zahl von Flüchtlingen und Migranten.
Im Augenblick übertrifft die Sorge für die Flüchtlinge vor allem aus Afrika und Asien die mehr europäische Krise mit Griechenland. Es sind unterschiedliche Ursachen für die entstandenen Probleme, aber irgendwie gehören die Krisenherde in manchem wieder zusammen.
Unsere Welt wird in vieler Hinsicht immer ungleicher. Die meisten Menschen bei uns - ich übersehe die Armut nicht - leben in einem angenehmen Wohlstand. Zwar werden auch bei uns die Unterschiede zwischen Arm und Reich immer größer, aber dies wirkt sich im täglichen Leben nur in bestimmten Grenzen aus. Es ist jedenfalls ein riesiger Unterschied, ob jemand in zahlreichen Zonen Afrikas oder Asiens wohnt oder in Europa. Die Menschen, die ihr letztes Geld für einen Transfer nach Europa investieren, sehen keine Zukunft mehr in ihren Ländern. Sie schicken ihre Kinder und besonders die Jungen weg, damit sie ein erträgliches Leben haben - und dies trotz großer Bindungen aneinander in diesen Familien. Es besteht die große Hoffnung, dass sie mindestens dann auch die zu Hause Gebliebenen unterstützen, besonders die Frauen, wenn denn alles glückt. Daraus resultieren viele Kinder und Jugendliche, die ohne Eltern zu uns kommen („unbegleitete Kinder"). Gott sei Dank finden viele bei uns helfende Hände und vielfältige Unterstützung.
Wir sind durch die schrecklichen Untergänge der hoffnungslos überfüllten Kähne und Schiffe aufgeweckt worden. Wir versprechen uns nach den Tragödien immer wieder, dass wir grundlegend etwas ändern müssen, aber bald sind diese heiligen Schwüre wieder vergessen - bis zur nächsten Katastrophe. Vor kurzem hat eine große Zeitung es in zwei Sätzen auf den Punkt gebracht: Wir wollen nicht, dass sie untergehen und sterben - wir wollen nicht, dass sie kommen.
Die europäische Union hat jetzt neue Maßnahmen beschlossen. Der Streit, ob sie wirklich nützen, hat schon begonnen, bevor die Hilfen greifen. Wir dürfen auch nicht nur auf die überfüllten Boote, die verbrecherischen Schlepper und fürchterlichen Zustände auf den Schiffen blicken. Es gibt hilflose Vorschläge, wie z.B. die Errichtung von Sammellagern in Afrika selbst, Zulassungsbüros für die Einwanderung usw. Es ist uns jedenfalls nicht gelungen, in den Heimatländern der Flüchtlinge für mehr Arbeit und Brot zu sorgen, Gerechtigkeit für alle durchzusetzen.
Ein Hauptgrund besteht darin, dass wir mit einzelnen kleinen Maßnahmen nicht vorankommen. Es geht letztlich um eine Ungleichheit im Weltmaßstab, ein globales Verteilungsproblem. Die Unterschiede in den Lebensweisen sind so groß geworden, dass es zu diesen Massenwanderungen kommt. Nicht zufällig stehen uns die Völkerwanderungen des 6. Jahrhunderts mit den verheerenden Folgen vor Augen. Wir haben zwar viel geleistet durch die Entwicklungshilfe der letzten Jahrzehnte, aber offenbar hat sich dadurch vor Ort nicht so viel zum Positiven geändert. Korruption ist eine riesige Macht, um Solidarität und Gerechtigkeit zu verhindern.
Offenbar müssen wir alle zusammen, die UNO, die Weltbank, der Internationale Währungsfonds, internationale Hilfen und auch die Kirchen ganz neue Anstrengungen unternehmen, um die tiefe Krise der globalen Verteilung zu meistern. Rettung aus Seenot ist im Blick auf das Leben der Menschen von fundamentaler Bedeutung, aber dann fangen die Probleme erst wirklich an.
Blicken wir noch kurz auf Griechenland. Immer wieder taucht der Gedanke auf, Griechenland soll den Bereich der EU verlassen („Grexit"). Vielleicht ist der Gedanke rein ökonomisch gar nicht so falsch. Politisch wäre es für die EU verheerend, wenn solche Krisen nicht aufgefangen werden könnten. Mit vereinten Kräften muss dies gelingen. Aber dass mit diesen Überlegungen, die kulturelle Rolle Griechenlands über Jahrtausende für Europa so gut wie nicht erwogen wird, ist eigentlich unfassbar. Was ist denn Europa ohne das geistige Erbe Griechenlands? Können wir dies einfach ignorieren ohne uns selbst zu amputieren? Was bleibt von Europa? Was hat Europa gerade auch für künftige Generationen für einen Sinn, wenn die EU vor allem ein wirtschaftlicher oder politischer Interessenverbund wäre? Wo sind denn in diesen Krisen die vielgelobten „Werte" Europas?
Europa muss sich angesichts dieser Krisen und Aufgaben erst noch bewähren, aber gerade im Blick auf die Anfänge haben wir noch Chancen.
(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz
Diese Gastkolumne lesen Sie auch in der aktuellen Ausgabe der Mainzer Kirchenzeitung "Glaube und Leben" vom 3. Mai 2015
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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