Bischof als Beruf

Vortrag im Rahmen der Vortragsreihe „Profile der Berufung“ in der Evangelischen Akademie zu Berlin am 19. März 2003

Datum:
Mittwoch, 19. März 2003

Vortrag im Rahmen der Vortragsreihe „Profile der Berufung“ in der Evangelischen Akademie zu Berlin am 19. März 2003

I.

Vor der Erteilung des Sakramentes der Firmung, die gewöhnlich im Zusammenhang der Visitation erfolgt, kommt bei uns der Firmspender, also in der Regel der Diözesanbischof oder einer der Weihbischöfe, mit den Firmkandidaten zu einem persönlichen Gespräch zusammen, um sich besser kennen zu lernen. Dabei ist fast immer in der ersten Hälfte das Thema „Bischof als Beruf“ im Vordergrund. Die jungen Leute fragen meist erst: Wie wird man Bischof? In der Tat ist der Einstieg bzw. die Vorbereitung zu einem Beruf ziemlich wichtig, um ihn zu verstehen.

Ich muss dann jedoch die jungen Freunde zunächst etwas enttäuschen. Auf den Beruf des Bischofs, so antworte ich immer, kann man sich nicht unmittelbar vorbereiten. In diesem Sinne kann man auch nicht Bischof werden, wie man andere Berufe ergreifen kann. Ich erkläre ihnen immer: Entscheidend ist, dass ich Priester geworden bin. Alles andere, auch das Bischofsamt, spielt sich in diesem Raum der Berufung zum Priester ab. Damit ist man dann relativ rasch beim Zusammenhang von Beruf und Berufung. Sprachgeschichtlich ist interessant, dass unser profanes Wort „Beruf“, nicht ohne Einfluss Martin Luthers, von der „Berufung“ im geistlichen Sinne – Gott lässt seinen Ruf an die Menschen ergehen – herrührt, aber mehr und mehr den Sinn von Amt und Stand gewinnt. Luther hat allein schon durch seine Bibelübersetzung (vgl. Sir 11,20f.; 1 Kor 7,20f.) besonders das reformatorische und auch das „deutsche“ Berufsverständnis geprägt. Jeder Christ darf sich auch als „berufen“ fühlen. Die Standespflichten sind unmittelbar Gottesbefehl selbst. Das Wort und die Sache „Beruf“ umgreift auch das Leben in den Ordnungen von Familie, Ehe und Gemeinde. Der wahre Gottesberuf realisiert sich gerade gegen das selbstgenügsame und religiös eigensüchtige Mönchtum – innerhalb der Welt und der Arbeit. Von da aus hat sich das moderne Berufs- und Arbeitsverständnis entwickelt. Die Entwicklung ist jedoch über diese Genese des Begriffs Berufung weit hinausgegangen. Im so genannten geistlichen Beruf ist die Berufung des Menschen am meisten gegenwärtig und bewusst geblieben, auch wenn wir heute wieder neu die ursprüngliche Weite der Berufung eines jeden Christen neu entdecken.

Ein „Berufsbild des Bischofs“ zu erstellen, ist gar nicht so leicht. Schon aus historischen Gründen: Die Geschichtswissenschaften innerhalb und außerhalb der Kirche zeichnen in höchst eindrucksvoller Weise die Wandlungen des Bischofsbildes, oft von Jahrhundert zu Jahrhundert. Aber auch in der Gegenwart gibt es ein weites Spektrum der Profile des bischöflichen Dienstes. Dies hängt damit zusammen, dass es kein homogenes Ausbildungsprogramm oder so etwas wie eine Laufbahn für dieses Amt gibt. In der Bischofskonferenz wird einem rasch bewusst, aus wie vielen Ausgangssituationen Bischöfe in dieses Amt kommen. Da gibt es Pfarrer und Generalvikare, Religionslehrer und Caritasdirektoren, Theologieprofessoren und besonders auch Kirchenrechtler, Finanzdirektoren und Seelsorger aus besonderen kategorialen Feldern: Jeder bringt seine oft weit gespannten und sehr vielfältigen Erfahrungen mit, die selbstverständlich bis zu einem gewissen Grad in das konkrete Wirken eines Bischofs eingehen. Manche haben durch den schon längeren Dienst als Weihbischof bischöfliche Erfahrungen, andere sind – z.B. von verschiedenen Wissenschaften her kommend – viel weiter weg von diesem Dienst. Dies macht ein relativ einheitliches Bischofsbild unmöglich. Es ist aber eine außerordentliche Bereicherung des Kollegiums der Bischöfe, macht die Diskussionen und den Erfahrungsaustausch sehr lebendig und hält das Gespräch offen.

Natürlich ist es auch prägend, aus welcher kirchlicher Region jemand kommt und für welchen Bereich er eingesetzt wird. Die deutschen Diözesen sind zum Beispiel in unterschiedlicher Weise eher städtisch oder ländlich geprägt. Es ist auch ein Unterschied, ob ein Bistum mehrheitlich katholisch zusammengesetzt ist oder viele Diasporagebiete hat. Außerdem ist es nicht unerheblich, welche Traditionen in den Bistümern vorherrschen und wie der Vorgänger das Amt gestaltet hat.

Es besteht also eine erstaunliche Offenheit im Bischofsbild und in der konkreten Berufsausübung gibt, auch unterschiedliche Stile in der Handhabung des Amtes prägen sich aus. Und doch besteht auch kein Zweifel, dass es gemeinsame theologische Grundlinien gibt, die ein für alle relativ stabiles gemeinsames Fundament abgeben. In diesem Sinne gibt es dann doch so etwas wie einen Stil im Auftreten und Reden, der mit dem Episkopat zusammenhängt.

II.

Kein Amt und erst recht kein Dienst versteht sich von selbst. Jedenfalls gilt dies für den theologischen Grundsinn aller Rede über Ämter und Dienste. Die Sprache der Tradition hat hier viele Ausdrücke und Begriffe. Man redet von „Stellvertretung“, „Repräsentation“, „im Namen Jesu Christi“ oder auch von „in persona Christi“. Alle diese Begriffe sind trotz ihrer verschiedenen Bedeutung darin einig, dass sie auf einen Ursprung verweisen, der jenseits des Amtes selbst liegt. Es übersteigt sich selbst auf ein Größeres hin oder aber: Es bestimmt sich von einem anderen her. Deswegen wäre es unzureichend, wie es leider immer noch geschieht, dass wir in einer fragwürdigen ekklesiologischen Engführung vom Amt und gerade auch vom Bischofsamt sprechen. Selbstverständlich geht es um einen grundlegend ekklesialen Auftrag. Für den christlichen Glauben ist das Amt jedoch zuerst christologisch begründet. Es hat nur ausreichende Legitimation, wenn es sich auf die Person Jesu Christi, seinen Weg und sein Wirken, bezieht und hierin seinen Ursprung und seinen bleibenden Grund findet. Darum sagen wir mit Recht, der Bischof sei ein Diener und ein Zeuge für das Evangelium Jesu Christi.

Dieser Ursprung hängt mit der ganzen Lebensgeschichte Jesu Christi, seiner Herkunft, seinem Weg und auch seinem Schicksal zusammen. Dazu gehören auch Tod und Auferstehung Jesu Christi. Die Exegese der letzten Jahre und Jahrzehnte hat immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass die Hingabe Jesu an den Willen des Vaters im Himmel und sein Einsatz für das Heil aller Menschen einschließlich Eucharistie und Passion zusammengehören. Sie bilden für den irdischen und den nachösterlichen Jesus Christus das elementare Gefälle und die Grundrichtung seines Lebens und Wirkens, auch seines Sterbens und seines Todes. Man hat dafür das vielleicht nicht schöne, aber nützliche und verständliche Fremdwort „Pro-Existenz“ gewählt und auch in die systematische Theologie eingeführt. Dieses Lebensprogramm Jesu verwirklicht sich in seiner Verkündigung, in den von ihm gewirkten Zeichen und Symbolhandlungen sowie in seinem gesamten Verhalten, das auch die Tat des Lebens einschließt. Wir dürfen dafür wirklich das Grundwort der biblischen Botschaft, das auch das Alte und das Neue Testament miteinander verbindet, in Anspruch nehmen, nämlich das Evangelium. Auch wenn das Kommen des Reiches Gottes, das den Hauptinhalt des Evangeliums darstellt, sich erst bei der Vollendung von Welt und Geschichte voll realisiert, so ist es doch im Erscheinen Jesu Christi, in seinem Wort und in seinem Tun, wirklich grundsätzlich präsent und wirksam. Jesu Existenz ist mit dieser Botschaft identisch.

Das Amt hat nur Sinn, wenn es sich in diesen Dienst Jesu Christi stellt. Je mehr es dem Auftrag entspricht, dieses innerste Lebensgeheimnis Jesu Christi der ganzen Welt mitzuteilen, um so näher kommt es seinem Ursprung. Das Amt nimmt so ganz zentral am Wesen der Botschaft Jesu Christi teil. Aber dies gilt nur unter der Bedingung, dass es sich selbst ganz zurücknimmt, nur Hinweis auf Jesus Christus ist und selbst ganz transparent wird auf ihn hin, so wie etwa im Isenheimer Altar die Gestalt Johannes des Täufers nichts anderes ist als ein einziger Fingerzeig auf ihn. Hier ist eine eigentümliche Dialektik am Werk, die rasch falsch aufgelöst wird und zu großen Missverständnissen führen kann. Das Amt ist nur im Lot, wenn es sich selbst auf Jesus Christus hin übersteigt, sich also selbst in einer Art Kenose verlässt. Nur wenn es leer wird von sich selbst, kommt es zu seinem Wesen. Darum ist jedes Amt Vikariat. Es hat seine Würde gerade in dieser bleibenden Abhängigkeit. Es hat nur Autorität, wenn es diese Vollmacht von Jesus Christus verliehen und geliehen bekommt.

Jedes Amt dieser Art spricht nicht aus sich selbst. Der Amtsträger ist im Bereich der Kirche immer nur der Bote eines anderen. Er kann dies auch nicht selbst bewerkstelligen. Der Bote muss gerade in diesem Fall ermächtigt werden und die Erlaubnis bekommen, das Evangelium Gottes zu verkünden. Hier darf freilich kein Missverständnis entstehen. Der Amtsträger ist nicht einfach nur das seelen- und willenlose Medium, mit dem Gott sein Welttheater betreibt. Die Menschen sind nicht nur Masken oder Lautsprecher. Die explosive Kraft des Wortes Gottes nimmt ihre Existenz in Anspruch, geht durch ihr Leben hindurch, verlangt das spannungsvolle Durchdringen der Botschaft Gottes mit der Originalität des eigenen Lebens. Trotz aller Vorbildfunktion Jesu geht es nicht um ein reines Kopieren. Aber diese lebendige Darstellung Jesu wird eben nur authentisch, wenn der Mensch bereit ist, sein Eigenes wegzugeben für diese größere Zeugenschaft. Darum ist jeder Amtsträger grundlegend ein Zeuge, wie dies zunächst auch im Blick auf die konkrete christliche Existenz jeder einzelne Christ ist. Es gibt hier eine sehr verletzliche Grundgestalt, die Differenz und Zusammengehörigkeit zwischen Jesus Christus und dem Amtsträger beschreibt. Differenz ist es deshalb, weil ein unaufhebbarer Raum des Gehorsams im Sinne des ursprünglichen Hörens zwischen Jesus und seinem Zeugen waltet; Zusammengehörigkeit ist deshalb notwendig, weil der Zeuge in seinem Namen spricht und nichts anderes will. „Wer euch hört, hört mich.“ (Lk 10,16) Wehe, wenn einer nur die Zusammengehörigkeit als irgend eine Form von Identität oder Identifikation auslegt und Jesu Christi einmalige Souveränität usurpiert. Wehe aber auch, wenn jemand den Auftrag von Jesus selbst abkoppelt und die Botschaft zu einem reinen Menschenwort, z.B. einem politischen Programm, macht.

Einen solchen Auftrag nimmt man sich nicht eigenmächtig, wenn auch zu seiner Erfüllung die ganze Existenz des Menschen in Anspruch genommen wird. Am Anfang steht die Berufung, wie sie seit Abraham ohnehin für jeden Glaubenden notwendig ist; im Falle des amtlichen Auftrags gehört dazu auch die Einsetzung in ein Amt, die auf vielerlei Weise erfolgen kann, aber schon im Neuen Testament mehr und mehr vor allem durch das Gebet der Kirche unter Handauflegung geschieht. Die damit einhergehende Ausstattung des Menschen mit der Gabe des Gottesgeistes ist eine freie Gabe, die den Menschen gleichsam für immer zeichnet und – wenigstens als Erinnerung und Anspruch – nicht mehr von ihm weicht.

III.

Ich brauche hier nicht über das Entstehen und die Differenzierung des Amtes und der Ämter in der apostolischen Zeit und in der nachapostolischen Epoche sprechen. Es ist ein differenzierter Prozess, der gerade angesichts der letztlich dürftigen Quellen behutsam interpretiert werden muss. Das Zweite Vatikanische Konzil hat in der systematischen Betrachtung insofern eine Wende gebracht, als es das Verhältnis des dreifachen Amtes in den Stufen des Diakons, des Presbyters und des Bischofs nicht additiv von unten nach oben beschreibt – was nicht wenige Probleme auch der rechtlichen Zuordnung mit sich bringt –, sondern vom Episkopat als der Fülle des Amtes ausgeht. Dies kann gewiss auch die Gefahr mit sich bringen, dass man die anderen Formen des Amtes nur subtraktiv und gar als unvollständige Formen begreifen könnte. Aber es ist ein Vorteil in der Begründung, zunächst einmal von der Vollform auszugehen, an der die anderen Ämter in jedem Fall auf ihre Weise partizipieren.

Dieses Amt hat– wie wir gesehen haben – grundlegend mit der Umsetzung des Evangeliums Jesu Christi zu tun. Seine Weitergabe, die elementare Treue zur Botschaft und schöpferische Vermittlung verbindet, ist die Hauptaufgabe. Darum beschreiben das Neue Testament, viele Theologen, wie z.B. Thomas von Aquin, und das Zweite Vatikanische Konzil das Amt schlechthin von dem fundamentalen Auftrag der Verkündigung des Evangeliums her und nennen mit großer Eindringlichkeit diesen Auftrag als grundlegende Aufgabe. Mit der Verkündigung ist auch die sach- und zeitgerechte Auslegung verbunden, die den unveräußerlichen Kern des Evangeliums, die „Lehre“, schützt und verteidigt. Die Sendung zu dieser Evangelisierung bezieht sich also nicht nur auf die Predigt, sondern auf die Lehrvollmacht, wie es im Übrigen auch noch deutlich im Bekenntnis von Augsburg des Jahres 1530 (CA 28) erkennbar ist.

Dieser Auftrag bezieht sich auf die Botschaft des Evangeliums, die sich normativ auf das Wort Jesu Christi bezieht und in der apostolischen Zeit als „Hinterlassenschaft“ (Testament, Vermächtnis) für alle Zeiten zur Sprache gebracht worden ist und in der Schrift des Neuen Testaments verwahrt und verbürgt wird. Hier muss man aber nun von Anfang an den oft nicht mehr recht bewussten Doppelsinn des Wortes „apostolisch“ vor Augen haben. Das apostolische Erbe erschließt sich gewiss zunächst einmal in einem Rückblick auf die Jesuszeit, die in sich und in ihrer Bedeutung durch das Zeugnis der Apostel ein für alle Mal festgehalten wird. Die Apostel und besonders das Kollegium der Apostel (zu den „Zwölf“ kommt ja auch Paulus als 13. Apostel hinzu) sind bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Herkunft, Sprache und auch theologischen Diktion gemeinsam die bleibende Norm des Christlichen, die sich nicht zuletzt in der Umgrenzung der Schriften des Neuen Testamentes durch die Kanonbildung ergibt. Daran sind alle Zeiten gebunden. Aber es gehört nun auch schon zum Wortsinn des Apostels, dass er – schon vom hebräischen Hintergrund des Wortes her – der Gesandte ist, der gerade wegen der universalen Bedeutsamkeit das apostolische Erbe allen Völkern und Kulturen in allen Sprachen mitteilen muss. In diesem Sinne ist das Apostolische nicht nur im Rückgriff auf das normative Erbe der Jesuszeit und des apostolischen Zeitalters, also gleichsam retrospektiv, zu bestimmen, sondern es spannt den Auftrag der Mitteilung des Evangeliums über die Gegenwart hinaus bis zur äußersten Zukunft, ja bis zur Vollendung der Geschichte. In diesem Sinne mahnt uns das Apostolische immer an die Sendung und an den Auftrag, die Botschaft Jesu Christi immer wieder neu auszurichten. Das apostolische Erbe ist durch und durch missionarisch – es ist ja sogar dasselbe Wort: „apostolisch“ bedeutet „missionarisch“ – und hat nicht nur eine missionarische Dimension. In diesem Sinne verweist das Apostolische auf die Dynamik und Zukunft der Geschichte. Zugleich ist es aber eine stets lebendige Erinnerung an die Einsicht, dass diese Sendung, solange die Geschichte währt, andauert, unabgeschlossen und noch nicht eingelöst ist. Deswegen bleibt auch vieles vorläufig und fragmentarisch.

Dies wird besonders anschaulich zu Beginn der Apostelgeschichte und kommt unübertrefflich in den Jesusworten zum Ausdruck: „...ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an die Grenzen der Erde“ (Apg 1,8b). Aber es geht nicht nur darum, das apostolische Erbe einfach weiterzureichen. Gewiss muss es gegen Verfälschungen und gegen alles Zerreden bewahrt werden. Aber es bedarf immer auch der situationsgerechten Übersetzung in neue Sprach- und Kulturräume hinein, sodass immer auch eine darauf bezogene Auslegung notwendig ist. Es ist kein heiliger Buchstabe, der bloß konserviert und weitergegeben werden dürfte. Es ist ein kaum zu überschätzendes Ereignis, dass die Bibel des Alten und des Neuen Testaments nicht nur in der hebräischen und griechischen Sprache zugänglich ist, sondern dass sie wirklich z.B. in den syrischen und koptischen, aber auch lateinischen Sprach- und Kulturraum vermittelt wird. Das „lebendige Wort“ (viva vox) hat einen bleibenden Überhang gegenüber der gewonnenen Schriftlichkeit, die freilich dieses Wort durch die Schriftwerdung auch bewahrt und zur Vermittlung bereit hält. Es ist nicht zufällig, dass an Pfingsten, dem Geburtsfest der Kirche, durch das Sprachenwunder diese universale Kommunikation des Evangeliums Jesu Christi zu allen Völkern geschieht und dadurch die apostolische Kirche konstituiert wird. Es ist der Geist (vgl. schon Apg 1,8b), der diese Vermittlung authentisch ermöglicht und bewirkt, nämlich die Bewahrung des ursprünglichen apostolischen Erbes und zugleich seine unversehrte, schöpferische Auslegung in der Vielfalt der Sprachen und Kulturen. Darum ist der Geist auch die Gabe Gottes, die dem Amtsträger in der Ordination zu dieser Sendung verliehen wird. Besonders die sogenannten Paraklet-Sprüche im Johannes-Evangelium zeigen diesen Vorgang der Verkündigung und Überlieferung in der Einheit von Christologie und Pneumatologie.

Wenn wir dies weiter konkretisieren, dann bewegen wir uns im Raum der Geschichte. Die Exegese hat aufgezeigt, wie nicht nur Lukas im Neuen Testament auf die Jesuszeit mit dem apostolischen Zeugnis die Zeit der Kirche folgen lässt. Dies ist ohne eine Konkretisierung in Raum und Zeit nicht möglich. Die Ausrichtung der christlichen Botschaft geschieht nicht in abstrakter Universalität, gleichsam in einem biblischen Esperanto, sondern die Einheit und Universalität – was ja nichts anderes ist als die ursprüngliche Katholizität – gibt es nur in bunter Vielfalt. Schon die Existenz des einen Evangeliums in den vier Evangelien ist dafür ein wichtiger Hinweis.

Daran orientiert sich wohl auch die Struktur des apostolischen Amtes. Es steht in lebendiger Beziehung zum Erbe der Apostel, aber es hat eine differenziertere Struktur im Blick auf die Verantwortung der Vermittlung in die raumzeitliche Geschichte hinein. Ähnlich, wie die Apostel ihre Sendung in recht verschiedene Gegenden der Welt verstanden und übernommen haben – Jakobus bleibt in Jerusalem, Thomas z.B. ist nach Indien –, sind auch ihre Nachfolger, als welche die Bischöfe bezeichnet werden, zuständig geworden für einen konkreten, durch Raum und Zeit bestimmten Bereich. Dies sind gewiss zuerst die großen Städte, später mehr das dazugehörige Umland, aber doch mehr in Richtung einer überörtlichen Zuständigkeit. Es ist klar, dass die konkreten Verhältnisse hier schwanken und auch die verschiedenen Amtsbezeichnungen für eine gewisse Zeit noch ineinander übergehen können. Das Amt des Bischofs begrenzt sich jedenfalls nicht in der untersten Einheit einer einzelnen Gemeinde oder eines Dorfes. Dafür kommen eher die sogenannten Gemeindeleiter in Frage, die man in eine enge Verbindung zu den Presbytern bringen darf. Das Bischofsamt hat in diesem Sinne eine mehr übergeordnete Verantwortung.

Ähnlich wie Petrus unter den Zwölf bereits eine Vorzugsstellung einnimmt, bekommt auch der Bischof von Rom schon sehr früh eine primatiale Position und Verantwortung. Hier steigert sich das übergeordnete überörtliche Element zu seiner ökumenischen, d.h. die ganze bewohnte Erde betreffenden, universal-katholischen Weite.

An dieser Stelle, an der das geschichtliche und raumzeitliche Element der Verkündigung des Evangeliums Jesu Christi ins Spiel kommt, muss auch notwendigerweise von der sogenannten apostolischen Sukzession die Rede sein. Man darf sie sich nicht primär nach dem mehr oder weniger reflektierten Modell einer ununterbrochenen Kette, gar noch mechanischer Art, vorstellen. Zunächst kommt es darauf an, dass das Evangelium Jesu Christi, das für alle Zeiten und Orte bestimmt ist, immer wieder verantwortliche Zeugen findet, die es weitergeben und es gerade im Fortgang der Geschichte stützen, bewahren, verteidigen und zugleich schöpferisch auslegen. Die möglichst bruchlose Kontinuität ist nicht eine menschliche, für sich allein ausreichende Sicherung der Wahrheit des Evangeliums, sondern sie wird von dem dauernden Anspruch des Wortes Gottes im Sinne einer Weitergabe an andere Zeiten und Orte selbst gefordert. In diesem Sinne ist die apostolische Sukzession, die wiederum beide Elemente des Apostolischen, wie es schon beschrieben worden ist, in sich birgt, ein Zeichen oder besser noch: ein Realsymbol für die Sorge der Kirche darum, dass das Evangelium Jesu Christi durch die amtliche und personale Zeugenschaft der Bischöfe in die Zeiträume der Geschichte hinein ununterbrochen weitervermittelt wird und so die Menschen in seiner ursprünglichen Bedeutung erreicht. In dieser Vermittlung des Evangeliums Jesu Christi durch menschliche Verantwortung hat der Geist, der in alle Wahrheit einführt, eine unübersehbare Funktion. Zugleich verweist die apostolische Sukzession darauf, dass das Bischofsamt immer auch in diesem Kontext der gemeinsamen Weitergabe des Glaubens gesehen werden muss. Dies heißt nicht nur, dass der Bischof dabei alle Glieder der Kirche und besonders alle Dienste und Ämter als Mitarbeiter bei der Verkündigung braucht, sondern dass er selbst immer in dieser Zeugengemeinschaft steht. Man könnte zugespitzt sagen: Ein Bischof darf nie isoliert betrachtet werden, so wie er auch nur durch mehrere Bischöfe und durch die Bestätigung des Nachfolgers Petri bei der Ordination in das Kollegium der Bischöfe aufgenommen wird. Dieser Dienst macht bescheiden und in gewisser Weise auch demütig. Denn es kommt in erster Linie nicht darauf an, in dieser Gemeinschaft von Zeugen durch die Geschichte hindurch durch außergewöhnliche Originalität zu glänzen, sondern der Bewahrung und schöpferischen Verkündigung des Evangeliums in einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort treu zu dienen. Wegen dieser Struktur gibt es von Anfang an auch zwischen den Bischöfen, besonders einer Kirchenprovinz, gegenseitige Besuche und Abstimmungen des kirchlichen Handelns, Beteiligung an der Bischofsweihe, Synoden und Konzilien, gemeinsame Verlautbarungen und schließlich Bischofskonferenzen. Sie haben gewiss nicht alle denselben Rang und zeugen von einer unterschiedlichen Notwendigkeit. So stellt ein Ökumenisches Konzil mit dem Papst die höchste Autorität dar.

Die orthodoxe und katholische Tradition sehen in dieser Struktur keine aus sich heraus schon funktionierende Garantie für die unversehrte Weitergabe des Evangeliums Jesu Christi. Keine Seite sollte eine billige Karikatur der apostolischen Sukzession malen. Aber diese Kirchen halten, grundsätzlich hier auch verbunden mit der anglikanischen Kirchengemeinschaft, dieses Zeichen auf der Ebene der Instrumente und Mittel für unentbehrlich. Da die aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen, mindestens in einigen Bekenntnisschriften, dem geistlichen Amt bischöfliche Funktionen zuerkennen und auch durchaus ein überörtliches Amt der „Aufsicht“ kennen („Superintendent“ ist ja die wörtliche lateinisch-griechische Übersetzung von „episkopos/episcopus“, d.h. auf etwas sehen, auf etwas achten, Aufsicht führen), gibt es hier durchaus einige Bausteine für ein produktives ökumenisches Gespräch. Dieses wird in den nächsten Jahren grundlegend und intensiv neu aufgenommen werden und stellt wohl eines der schwierigsten Probleme im ökumenischen Dialog dar. Der Ökumenische Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen ist bereits dabei, sich über mehrere Jahre damit zu beschäftigen.

IV.

Nach dieser ersten grundlegenden Überlegung soll nun die Gestalt des bischöflichen Amtes noch deutlicher herausgestellt werden. Das Zweite Vatikanische Konzil und die nachkonziliaren Dokumente bis hin zum Arbeitsinstrument der Weltbischofssynode 2001 (vgl. Nr. 32, 63f., 101, 107f., 144ff.) – das zusammenfassende Dokument steht noch aus – kennzeichnen das Kirchesein und auch die in ihr gegebenen Dienste und Ämter durch die beiden Grundbegriffe „Communio“ und „Missio“ (Sendung). Das Schlussdokument der Außerordentlichen Bischofssynode 1985 hat diese Beschreibung zusammengefasst und in gewisser Weise vertieft. Daran möchte ich anknüpfen.

„Communio“ ist die Gemeinschaft mit Gott durch Jesus Christus im Hl. Geist. Diese Gemeinschaft ereignet sich vornehmlich und grundlegend im Wort Gottes und in den Sakramenten. Die Taufe ist dabei Zugang und Grund der kirchlichen Gemeinschaft, die Eucharistie Gipfel und Höhepunkt des ganzen christlichen und kirchlichen Lebens. Die Gemeinschaft des eucharistischen Leibes Jesu Christi baut die vielfältige, strukturierte Gemeinschaft aller Gläubigen im Leib Christi, der Kirche, auf (vgl. LG 9 und 11). Die Einheit und Vielfalt der Kirche ist dabei in der Gemeinschaft der Bischöfe mit und unter dem Papst als dem Nachfolger Petri gegeben. Die eine und einzige katholische Kirche ist so in allen Teilkirchen anwesend und tritt auch aus ihnen hervor (vgl. CD 11 und LG 23). So zeigt sich im Bischofsdienst mit und unter dem Petrusamt eine echte Vielfalt, die einen wirklichen Reichtum ausmacht und zugleich darin echte Fülle und Einheit mit sich bringt. Dies ist gegenüber mancher Auflösung und Zerstörung lebendiger Vielfalt, wie sie heute oft in einem schädlichen Individualismus und hemmungslosen Pluralismus erfolgen, der Gewinn wahrer Katholizität, die immer eine geistgewirkte Einheit in lebendiger Vielfalt darstellt und so erst wirklich Identität gewährleistet.

Jeder Bischof lebt in dieser „Communio“. Er steht auf vielen Ebenen in Verbindung mit der ganzen Kirche, nicht zuletzt durch die Bischofsweihe und die mit ihr verliehene Kollegialität. Hier steht der Bischof auch mit seiner Verantwortung für die Teilkirche in der „Communio“: z.B. mit dem Presbyterium, der besonderen Sorge für die Priester, für die Ordensgemeinschaften und Säkularinstitute, für die kirchlichen Berufe, für alle Berufungen, nicht zuletzt für die Laien mit ihren Familien und für die Jugend. Hier vollzieht der Bischof den Dienst am Wort und den Dienst der Heiligung; hier übt er nach dem Bild des Guten Hirten sein Leitungsamt aus. In dieser „Communio“ erhält er geistliche Kraft und Unterstützung für seinen Dienst. Die weltweite Verbindung der Bischöfe untereinander, besonders mit und unter dem Papst, ist dabei – vor allem in Situationen äußerer Bedrängnis – eine außerordentliche Stütze.

Das Aufgabenbündel des Bischofs kann dabei sehr verschieden umschrieben werden. Die Tradition hat z.B. im Anschluss an biblische Aussagen Jesus Christus selbst als König, Hirte und Herr verstanden. Es gibt besonders auch in der Soteriologie die drei Aspekte des Propheten-, Priester- und Hirtenamtes Jesu Christi. Zwar existiert keine einheitliche Drei-Ämter-Lehre, aber das Zweite Vatikanische Konzil benutzt vielfach dieses Hilfsmittel (vgl. LG 13; 24-27; 37ff.; SC 7f.), um von Jesus Christus her ein dreifaches Amt der ganzen Kirche, der Amtsträger und der Gläubigen zu entfalten. Dies geht so weit, dass man – freilich nicht ganz korrekt – von einer Drei-Ämter-Lehre spricht, wobei eben die christologische Fundierung in den Ämtern Jesu Christi nicht übergangen werden darf. Sie hat gewiss auch heilsgeschichtlich-trinitarische Aspekte: Sie reflektiert über den glaubend-liebenden Zugang zu Gott durch den Sohn im Heiligen Geist in der Gegenwart und ist zugleich in Hoffnung offen für die Vollendung des Heils im Reich Gottes. Im Rahmen dieses Beitrags brauche ich die Entfaltung der einzelnen bischöflichen Aufgaben nicht ausführlicher zu umschreiben.

Bei der „Communio“ geht es immer zugleich um die „Missio“. Der Bischof darf nie seine Verwurzelung und Beheimatung in der geistlichen und sakramentalen Tiefe der Communio verlieren, aus der er in seinem amtlichen Dienst und auch als geistlicher Mensch lebt. Aber er ist gerade heute immer wieder herausgefordert, diese von Gott gewirkte und geschenkte Gemeinschaft zu erneuern, zu vertiefen und auszubreiten. Er darf sich nie damit zufrieden geben. Wenn der Communio-Gedanke hier nicht fundamental ergänzt wird durch das Erfordernis der „Missio“ entsteht der falsche Eindruck, diese jetzt gegebene und gelebte Communio wäre für sich schon vollendet. Tatsächlich aber wird diese „Communio“ durch die Missio immer wieder grundlegend geöffnet und auf die Menschen hin ausgerichtet. Dabei geht es einerseits gewiss um den Dienst an der zerrissenen Welt und für die betroffenen und verwundeten, verletzten Menschen. Aber diese Sendung des Bischofs liegt noch tiefer: Sie hat Anteil an der Gabe und Aufgabe des Heils, das der Herr in Kreuz und Auferstehung für alle erworben hat und das als Heil der Welt wirklich zu allen Menschen gelangen möchte (vgl. LG 16, GS 18-22, AG 7, DV 3). Dies geschieht natürlich nicht allein durch den Bischof, der freilich die Verantwortung innehat. Es erfolgt stets in Zusammenarbeit mit den übrigen Gliedern der Kirche, die mit allen Diensten und Ämtern zusammen eine Gemeinschaft der Zeugen der Hoffnung sind. In diesem Sinne ist „Missio“ natürlich hier mehr als die Missionstätigkeit der Kirche. Sie entspricht dem früher erläuterten Sinn und Begriff des Apostolischen in seiner Doppelbedeutung.

So hat der Dienst des Bischofs, übrigens analog auch der der Presbyter und Diakone, einen ganz grundlegenden Anteil an der Sendung der Gesamtkirche. Dies bezieht sich auch auf seine Verpflichtung für die Missionstätigkeit der Kirche (vgl. AG 11, 20, 29, 30), darf aber nicht darauf allein eingeschränkt werden. So heißt es in bezeichnender Weise im Dekret über die Hirtenaufgabe der Bischöfe in der Kirche „Christus Dominus“, die Bischöfe sollen sich „ihrer apostolischen Aufgabe [...] zuwenden als Zeugen Christi vor allen Menschen. Sie sollen sich nicht bloß um die kümmern, die schon dem obersten Hirten nachfolgen, sondern sich mit ganzem Herzen auch jenen widmen, die irgendwie vom Weg der Wahrheit abgewichen sind oder die Frohe Botschaft Christi und sein heilbringendes Erbarmen nicht kennen, bis schließlich alle ‚in lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit‘ (Eph 5,9) wandeln.“ (CD 11) Dabei ist hier gewiss auch der Dialog in der Ökumene mit anderen Religionen und mit den Nichtglaubenden angesprochen. Es wird vielfach unterschätzt, wie sehr das Bischofsbild des Zweiten Vatikanischen Konzils gerade auch durch die ökumenische Dimension herausgefordert wird (vgl. CD 16; UR 4;AG 38 u.ö.). Durch diesen kräftigen Akzent der „Missio“ in der Mitte der amtlichen Gestalt des Bischofs ist ein Wesenszug gegeben, der gewiss nicht immer genügend gesehen wird und dennoch gerade heute elementar zum Wirken des Bischofs gehört.

Wir dürfen uns in der modernen Welt nicht immer wieder bloß in die Defensive, gleichsam mit dem Rücken an die Wand stellen lassen, sondern müssen mit dem großen, einmaligen Gut unserer Botschaft in die Offensive gehen und Rechenschaft von der Hoffnung geben, die uns erfüllt. Dies hat natürlich Konsequenzen für den Umgang des Bischofs mit den Menschen in Kirche und Welt. Wenn er sich den geistigen, leiblichen und weltlichen Nöten der Menschen auch außerhalb des Gefüges der Kirche zuwendet, verfehlt er nicht seine Aufgabe, sondern er erfüllt grundlegend den Dienst des guten Hirten, wie er heute notwendig ist. In diesem Zusammenhang ist es sehr wichtig zu sehen, dass die Weltbischofssynode im Titel ihrer Themenbeschreibung einen wichtigen Hinweis auf diese Dimension enthält. Ihr Thema lautet nämlich: Der Bischof als Diener des Evangeliums Jesu Christi für die Hoffnung der Welt. Damit sind viele Fragen und Aufgaben angesprochen, die im Rahmen dieses Beitrags nicht mehr erörtert werden können. Sie beziehen sich auf die Felder und Bereiche der Tätigkeit des Bischofs, auf den Stil seines Auftretens und nicht zuletzt auch auf Kriterien zur Bestellung von Kandidaten für das Bischofsamt.

Bei dieser Hinordnung zu allen Menschen ist die soziale Verpflichtung des Bischofs nicht zu übersehen. Dies setzt zunächst voraus, dass die Bischöfe von sich aus auf die Menschen zugehen: „Da es der Kirche aufgegeben ist, mit der menschlichen Gesellschaft, in der sie lebt, in ein Gespräch zu kommen, ist es in erster Linie Pflicht der Bischöfe, zu den Menschen zu gehen und das Gespräch mit ihnen zu suchen und zu fördern. Damit immer Wahrheit mit Liebe, Einsicht mit Güte gepaart sind, muss sich dieser Heilsdialog sowohl durch Klarheit der Rede als auch zugleich durch Demut und Sanftmut auszeichnen, ferner durch gebührende Klugheit, die jedoch mit Vertrauen verbunden sein muss, das ja die Freundschaft fördert und somit daraufhin wirkt, die Geister zu einen.“ (CD 13; AA 8; LG 8; 23; GS 37). Ein wichtiges Zeichen dafür sind auch die Fragen, die in der Bischofsweihe an die Kandidaten gestellt werden, übrigens fast gleich formuliert in der Priester- und Diakonenweihe: „Bist du bereit, um des Herrn Willen den Armen und den Heimatlosen und allen Notleidenden gütig zu begegnen und zu ihnen barmherzig zu sein?“

Einen wichtigen Platz nimmt auch das Gebet ein, wobei das fürbittende Gebet neben dem Lobpreis und der Anbetung sowie den vielen Formen des Gottesdienstes eine große Rolle spielt: „Bist du bereit, für das Heil des Volkes unablässig zum allmächtigen Gott zu beten und das hohe priesterliche Amt untadelig auszuüben?“ In der Musteransprache des weihenden Bischofs heißt es entsprechend: „Vergiss nie die Armen und die Kranken, die Heimatlosen und die Fremden.“

V.

Um diese Weite und Tiefe der Zuwendung zu allen Menschen, besonders aber auch zu den Armen, zu erreichen und dafür sensibel zu sein und zu bleiben, ist schon aus der Aufgabe der Verkündigung heraus eine ständige Befassung mit der Theologie und ihren Quellen notwendig. Das Evangelium Jesu Christi entspricht zwar in der Tiefe unseres Herzens der Sehnsucht des Menschen, aber der Mensch spürt dies nur, wenn er umdenkt, d.h. umkehrt. Das Evangelium wird uns darum auch von außen geschenkt. Es ist nicht einfach ein Abbild unserer Ideen und ein Spiegel unserer Wünsche. Oft muss es uns auch unbequem mahnen und herausfordern. Darum ist uns das Evangelium zwar vertraut, aber auch immer wieder fremd. Diese Fremdheit dürfen wir nicht leugnen. Es tut uns gut, wenn wir uns auf das fremde Evangelium einlassen, weil es uns gerade dadurch heilt und befreit. Wir können uns nicht selbst aus dem Sumpf ziehen.

Deshalb braucht es aber immer wieder das Vertrautwerden mit den Quellen des Evangeliums. Dafür genügt freilich nicht ein äußeres Studium, wie man sich mit früheren Dokumenten der Religionsgeschichte beschäftigen kann. Theologie ist nicht ein Spaziergang in die museale Welt des Glaubens einer früheren Zeit, sondern bringt bei allem zeitlichen Abstand die Sache des Evangeliums für heute zur Geltung, vermittelt den Anspruch und die Stimme Gottes für unsere Zeit. Darum muss man sich selbst immer wieder ansprechen lassen durch die lebendigen Quellen des Evangeliums.

In erster Linie ist damit die Heilige Schrift gemeint, die die Seele aller Theologie ist und bleibt. Dieses Evangelium Gottes wird aber in der religiösen, spirituellen und theologischen Überlieferung in einer bunten Vielfalt der Auslegung und des schöpferischen Umgangs mit ihm offenkundig. Man muss immer wieder auf den Geschmack des Evangeliums kommen. Dies kann man nicht nur, wenn man sich mit abgestandenen Früchten begnügt, sondern man muss den frischen Atem des Glaubens spüren, die Weisheit des Evangeliums von innen her schmecken und immer wieder berührt werden von der Tiefe und Schönheit der Offenbarung. Dies ist auch der Sinn des Stundengebetes, der „lectio divina“ und der Lektüre großer theologischer Zeugnisse. Wenn man nicht immer wieder davon begeistert und angeregt wird, ist man auch bald ein müder und trockener Verkünder.

Ich bin auch der festen Überzeugung, dass man so etwas wie die Ehelosigkeit auf die Dauer nur leben kann, wenn man immer wieder neu erfüllt wird von der ursprünglichen Kraft des Glaubens. Dann behält man auch wahre Maßstäbe im Kopf, die nicht einfach modisch sind. Man ist frisch genug, um immer im oft auch stillen Dialog mit den Zeitgenossen zu bleiben. Wenn Theologie jedoch Freude machen soll, dann muss es substanzielle, gediegene Theologie sein, die sich lohnt. Billige theologische Ergüsse lohnen die Zeit nicht. Dies gilt gerade für den Bischof, der sorgfältig aussuchen muss, was er liest und was sich zu lesen lohnt. Er hat nicht so viel Zeit.

Es liegt in der Natur der Sache, dass die Spannung zwischen der Sorge um den Glauben und der wissenschaftlichen Theologie sich auch in den Charismen, Diensten und Ämtern der Kirche ausprägt. Wie immer es um den frühchristlichen Stand der Lehrer und Evangelisten bestellt gewesen sein mag, es hat sich jedenfalls in der Kirche durchgehalten, dass der Bischof als Lehrer des Glaubens nicht einfach ersetzt wird durch die wissenschaftliche Theologie. Beides ist jeweils notwendig, das Lehramt des Bischofs und der Dienst des Theologen, cathedra und Katheder. Auch der Hl. Thomas kennt die Verschiedenheit dieser Verantwortung in der Kirche. Der Bischof trägt diese Verantwortung, indem er durch den Gottesgeist in der Weihe zum Bischof mit dem „sicheren Charisma der Wahrheit“ (Irenäus) begabt wird. Er trägt in umfassender Weise Sorge für das unversehrte und unverkürzte Leben des Glaubens, und zwar so, dass er auch als Lehrer des Glaubens zugleich um seine Hirtenaufgabe weiß (vgl. LG; CD). Im dreifachen Amt, das von Jesus Christus her geprägt wird, sind alle Aspekte vereinigt (vgl. AA 2; 10; PO 1; LG 13, 21, 28; UR 2; AG 15; CD 2).

Ich brauche hier nicht zu erklären, wie und warum sich diese drei Dimensionen notwendig ergänzen und gegenseitig fordern. Darum muss der Bischof auch zu seiner Verantwortung als Lehrer des Glaubens stehen. Er darf nicht nur auf eine unbestimmte Hirtenaufgabe ausweichen, sondern muss in der Verkündigung und Glaubensunterweisung im Namen Jesu Christi, ob gelegen oder ungelegen, das Evangelium verkünden (vgl. 2 Kor 5). In diesem Sinne sind die Pastoralbriefe als ein Bischofsspiegel eine wichtige Mahnung des Bischofs an die Treue zum Evangelium, die er auch noch im Leiden und bei Widerstand vieler auf sich nehmen muss.

Der Dienst des theologischen Lehrers und das bischöfliche Lehramt sind keine Konkurrenten. Sie haben eine verschiedene Aufgabe, aber sie gehören von Hause aus eng zusammen und teilen sich innerhalb dieses Grunddienstes ihre jeweils verschiedene Verantwortung. Dabei gibt es in der Geschichte große Unterschiede im Verhältnis der beiden Aufgaben zueinander. Es gibt besonders in der frühen Zeit, vor allem im ersten Jahrtausend, eine Personalunion zwischen Bischöfen und Theologen, während zu Beginn des zweiten Jahrtausends, als das aristotelische Denken eine neue Epoche eröffnet, die Theologie den Anspruch erhebt, strenge Wissenschaft zu sein und nicht unmittelbar der Seelsorge und der Verkündigung zu dienen. Damit treten beide Dienste stark auseinander. Erst auf dem Konzil von Trient und bis in das Zweite Vatikanische Konzil hinein gibt es auf dem Fundament der Funktionsdifferenzierung eine fruchtbare Zusammenarbeit von Theologen und Bischöfen .

Es gibt eine grundlegende Gemeinsamkeit beider im Dienst des Evangeliums und seiner Verkündigung für die jeweilige Gegenwart. Es gibt aber auch in der Funktionsdifferenzierung eine unterschiedliche Aufgabenstellung, die leicht zu Konflikten führen kann. Der Theologe hat z.B. auch die Aufgabe, der Kirche neue Vorschläge zum Verstehen des Glaubens anzubieten, er ist aber auch darauf angewiesen, dass die Kirche dies annimmt, prüft und beurteilt. Der Theologe muss in diesem Versuch einer neuen Interpretation manchmal auch Unerprobtes wagen und muss eine besondere Sensibilität dafür haben, dass er eine Einladung ausspricht, deren Annahme er nicht erzwingen kann. Der Bischof muss damit rechnen, dass ein Theologe, wenn er Neues ausspricht, gleichsam den Ton noch nicht trifft. Manchmal vermischen sich gute Einsichten mit fragwürdigen Formulierungen, oft kann erst eine spätere Sprache das Gemeinte besser zum Ausdruck bringen. Der Bischof braucht im Umgang mit der Theologie deshalb eine hohe Wachsamkeit, Sensibilität und zugleich Geduld: Er muss einen Gedanken sich klären lassen; er darf die innertheologische Diskussion nicht einfach unterbinden; vieles erhellt sich im fachlichen Dialog; dennoch muss er wachsam sein, ob sich falsche Gedanken nicht zu sehr im öffentlichen Bewusstsein innerhalb und außerhalb der Kirche festsetzen und einen Schaden anrichten, den man nicht mehr richtig begrenzen kann.

Wenn der Bischof hier Geduld übt, darf ihm dies nicht als Säumigkeit und mangelnder Mut zur Intervention ausgelegt werden. Wenn aber die Einheit der Kirche und die Wahrheit des Glaubens substanziell bedroht sind, darf er auch nicht zögern einzugreifen. Er tut dies in einer solchen Situation ja auch nie allein, sondern steht stets im weltweiten Kollegium der Bischöfe mit und unter dem Papst, was sich auch in den Instrumenten der Bischofskonferenzen, der Glaubenskommissionen und anderer Beratungsweisen manifestiert.

VI.

Das Thema „Bischof als Beruf“ kann in vieler Hinsicht ergänzt werden. Ich möchte am Ende einige Perspektiven wenigstens skizzenhaft umreißen, damit das Bild noch etwas plastischer wird:

·Ein Bischof braucht heute viele Eigenschaften eines guten Managers, auch bis in das Zeitmanagement hinein. Man kann und muss hier auch vieles lernen. Aber er ist nicht einfach ein Manager der Kirche oder gar Gottes. Ich persönlich finde den stärksten Unterschied darin, dass meine Aufgabe in dieser Hinsicht immer wieder umfasst wird vom Gebet und von der Meditation. Diese machen mich auch bei schwierigen und hektischen Vorgängen ruhig und in gewisser Weise auch gelassen, mitten im Sturm.

·Als Bischof muss man, wie in vielen anderen Berufen mit vergleichbarer Verantwortung, scharf am Wind der Zeit stehen und die Wandlungen und Phänomene beobachten. Man muss in dieser Hinsicht die konkrete Zeit, in der wir leben, den Kairos, auskaufen. Insofern muss man sich auch immer wieder über die Wandlungen des gesellschaftlichen Bewusstseins informieren. Der Bischof hat wie wenige andere Berufe die Möglichkeit, einerseits mit sehr einfachen und schlichten Menschen und andererseits mit höchsten Verantwortungsträgern zusammen zu kommen und sich auszutauschen. Dabei geht es aber nicht nur um Presseauftritte und um ein Schaulaufen. Es ist wirklich eine bodennahe Kommunikation, bei der man den Leuten „auf das Maul schauen kann“ und spüren kann, wo sie der Schuh drückt. Man ist nahe im Frontraum des gesellschaftlichen und politischen Geschehens, aber man darf sich nicht unkritisch anpassen oder auf irgend eine momentan nützlich erscheinende Parole einlassen. Man muss im Sinne des Evangeliums hautnah bei den Menschen sein, darf sich aber nicht an die Umstände verraten. Man muss ja auch nicht um eine Wiederwahl bangen. Unabhängigkeit und Freiheit sind ganz hohe Güter.

·In der Kirche versteht man manchmal nicht, warum ein Bischof nicht nur Gemeinden besucht, sondern sich auch sehr viel im gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Bereich aufhalten muss. Kirche vollzieht sich zwar gewiss sehr dicht in der Gemeinde und anderen Orten des kirchlichen Lebens, aber sie ist nur dann auch Sauerteig, Licht für die Welt und Stadt auf dem Berg, wenn man sich wirklich in die Diskussionen und Auseinandersetzungen einlässt und einmischt. Dabei kommt es nicht nur auf das Dabeisein an. Man darf nicht nur ein Mitläufer sein. Man muss auch bei aller Toleranz und Konsensbereitschaft Flagge zeigen.

Manchmal kommt es mir so vor, als ob – im Gegensatz zu solchen Gedanken – alles darauf ankommt, im nüchternen Alltag des Lebens das Evangelium zu verkünden und den Mitchristen zu helfen, aus diesem Evangelium zu leben. Dies sind dann ganz unspektakuläre Dinge. Hier lässt sich nicht schrecklich viel berichten, aber es kommt viel darauf an, dass man ein stiller Beter ist, die Gemeinden besucht, Nöten nicht ausweicht und Menschen anhört, auch wenn dies manchmal viel Geduld kostet. Der bischöfliche Dienst ist im Kern und im Grunde etwas, was sehr demütig macht. Man stellt sich in eine große und lange Schar von Zeugen, die nichts anders tun sollen und wollen, als das Evangelium Jesu Christi getreu weiter zu geben. Eines Tages gibt man – auf welche Weise immer – die Stafette im Wettlauf um den Erhalt und die Ausbreitung des Evangeliums weiter.

Einen solchen Dienst kann man angesichts der Herausforderung und der Würde nur in Furcht und Zittern vollziehen. Der Bischof ist sich bewusst, dass er nicht nur unter einer hohen Erwartung der Menschen, sondern auch unter dem Gericht Gottes steht, in dem auch der beste Knecht und Diener immer wieder der Barmherzigkeit Gottes bedarf. Deshalb möchte ich gerade diese wichtige Erkenntnis zusammenfassen mit den bekannten Worten des Hl. Augustinus über den bischöflichen Dienst: „Wo mich erschreckt, was ich für euch bin, dort tröstet mich, was ich mit euch bin. Für euch nämlich bin ich Bischof, mit euch bin ich Christ. Jenes ist der Name der übernommenen Pflicht, dieses der der Gnade; jenes ist Gefahr, dieses Heil.“

(c) Karl Kardinal Lehmann 

Es gilt das gesprochene Wort - Im Original sind Fußnoten und Anmerkungen enthalten.

I.

Die Heiligsprechung des Opus Dei-Gründers Josemaría Escrivá de Balaguer am Sonntag, 6. Oktober 2002, ist Anlass, um sich mit seiner spirituellen und kirchlichen Gestalt näher zu befassen. Dies ist bei jedem neuen Seligen und Heiligen notwendig. Im vorliegenden Fall ist es jedoch ganz besonders wichtig. Dies ergibt sich nicht so sehr aus dem Grund, dass der im spanischen Kulturkreis gebürtige und davon bestimmte Prälat schon mehr als 27 Jahre tot ist, sondern ein Hauptgrund dafür ist die Tatsache, dass seine Gestalt auch als Seliger und Heiliger von vornherein überdurchschnittlich geprägt ist durch das Vorverständnis, das jemand zu dem von ihm gegründeten Werk, dem Opus Dei, mitbringt. Obwohl die Auseinander-setzung darüber nachgelassen hat, gibt es bis in die jüngste Zeit hinein sehr dezidierte Darstellungen und auch heftige Diskussionen (Vgl. z.B. P. Hertel, Schleichende Übernahme. Josemaría Escrivá, Sein Opus Dei und die Macht im Vatikan, Oberursel 2002 (Publik forum); ders., „Ich verspreche euch den Himmel", Düsseldorf ²1980; K. Steigleder, Das Opus Dei, Zürich (4. Auflage) 1991; Paulus-Akademie (Hg.), Opus Dei – Stoßtrupp Gottes oder „Heilige Mafia"?, Zürich 1992.).

Diese haben auch vor der Heiligsprechung nicht Halt gemacht. Um so notwendiger scheint es mir zu sein, nun einmal sine ira et studio auf die spirituelle Gestalt des Opus Dei-Gründers zurückzukommen.

Die Stoßrichtung der Kritik wird leicht erkennbar aus dem Klappen-Text des Buches von P. Hertel „Schleichende Übernahme". Dort heißt es, gewiss auch in der Intention der Werbung: „Unglaublich, was immer noch geschehen kann: Die Heiligsprechung von Josemaría Esrivá, Gründer des Opus Dei. Eine Absicht seines Geheimbundes ist es, die Macht in der römisch-katholischen Kirche zu erobern. Das unverschmutzte Opus Dei solle als Werk Gottes die nach dem letzten Konzil verschmutzte Kirche reinigen und zur Tradition zurückführen. Weil der Papst nicht nur vom Hl. Geist inspiriert sei, müsse Opus Dei auch diese Lücke füllen. – Peter Hertel... deckt auf, mit welchen Mitteln die straff organisierte Formation sich in den Kommandozentralen festsetzt. Der Machtzuwachs des Geheimbundes ist rasant, der Verwaltungsapparat des Papstes durchsetzt, die Wahl des nächsten Papstes vom Opus Dei ‚gut‘ vorbereitet. Die aufgedeckten Regelverstöße auf dem kirchlich vorgeschriebenen Weg der Heiligsprechung zeigen auf, mit welchen Finessen Opus Dei arbeitet."

Es wird nicht leicht sein, sich ein in jeder Hinsicht ungeschminktes, möglichst vorurteilsfreies Bild zu machen von einem Heiligen, der wie alle anderen Menschen auch schließlich ein Anrecht hat auf die Wahrung des guten Rufes und die Vermeidung von Vorurteilen oder gar Vorverurteilungen. Ich sehe in der möglichst unbefangenen Darstellung des Lebens und Wirkens, vor allem auch der spirituellen Gestalt Escrivás die einzige Möglichkeit, durch diese Vorurteile und Verzerrungen hindurch zur authentischen Gestalt durchzustoßen. Dies soll in diesem Beitrag versucht werden. Man kann auf die Dauer das spirituelle Profil – die kleine Schrift „Camino" ist in über 40 Sprachen übersetzt und in über vier Millionen Exemplaren verbreitet – nicht einfach übergehen.

II.

Als Voraussetzung zur Erfassung der spirituellen Gestalt mag es gut sein, zuerst die wichtigsten Daten der Biographie von Josemaría Escrivá zu erwähnen. Er hat in der Zeit von 1902 bis zu seinem Tod 1975 eine für Europa und besonders für Spanien schwierige Zeit durchlebt, mit zwei Weltkriegen und dem Spanischen Bürgerkrieg der Jahre 1936 bis 1939. Er ist am 9. Januar 1902 in Barbastro in der spanischen Provinz Aragón als zweites Kind von José Escrivá y Corzán und Maria Dolores Albás Blanc geboren worden. Die Schwester Carmen war um drei Jahre älter. Der Vater besaß einen Tuchladen und eine kleine Schoko-ladenfabrik. Mit zwei Jahren war der Junge so schwer erkrankt, dass die Ärzte ihn bereits aufgegeben hatten. Die Eltern gelobten im Fall seiner Genesung eine Wallfahrt zu dem altehrwürdigen Gnadenbild von Torreciudad. In der Tat wurde das Kind ganz plötzlich und überraschend gesund. Zwischen 1910 und 1915 sterben die drei nach ihm geborenen Schwestern Rosario, Mariá Dolores und Chou im Alter zwischen 9 Monaten und 8 Jahren. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg beginnt er das Gymnasium an einer von Piaristen geleiteten Schule in Barbastro (1912-1915). Zwischen 1915 und 1917 macht der väterliche Betrieb Bankrott. Die Familie zieht weg und übersiedelt nach Logroño.

Um den Jahreswechsel 1917/18 hatte der Fünfzehnjährige ein Erlebnis, das sein Leben entscheidend prägen sollte. Er entdeckt im Schnee die Fußspuren eines Unbeschuhten Karmeliten. Sie wecken in ihm den Wunsch nach einer großherzigen Bereitschaft für Gott.

Es ist das erste Ahnen einer Berufung. Er entschließt sich, Priester zu werden. Er beginnt im Jahr 1918 das Theologiestudium als Externer im Priesterseminar in Logroño. Der Wunsch wurde immer lebendiger, das Leben auf irgendeine Weise großzügig für Gott einzusetzen. Aber er wusste noch nicht, wohin ihn dieser Ruf führen könnte. 1919 wird der sehnlich von ihm selbst erwartete Bruder Santiago geboren. Dieser sollte, wenn Josemaría Priester wird, seinen nun leeren Platz für die Familie ersetzen.

Nach Abschluss der Studiengänge in humanistischer Kultur und Philosophie wechselt er von 1920 bis 1927 zur Fortsetzung des Theologiestudiums an die Päpstliche Universität von Saragossa. Der Weg zum Priestertum und besonders zum Diözesanpriester war nicht selbstverständlich. Lange hatte er überlegt, ob er nicht in den Karmel eintreten sollte. Einige Zeit zog es ihn jedoch zur Architektur hin. Er achtete das Priestertum. „Zu Hause hatte ich gelernt, dass Priestertum zu achten und zu ehren. Aber das war nichts für mich, das war etwas für andere!" (D. M. Helming, Fußspuren im Schnee. Josemaría Escrivá. Gründer des Opus Dei, St. Ottilien 1991, 13.) Deshalb war auch sein Vater ziemlich überrascht und erstaunt. „Eines guten Tages sagte ich meinem Vater, dass ich Priester werden wollte. Es war das einzige Mal, dass ich ihn weinen sah. Er hatte zwar andere Pläne für mich, widersetze sich aber nicht. Er sagte nur: Mein Sohn, überlege dir das gut. Die Priester müssen heilig sein. Es ist sehr hart, kein Zuhause und keine irdische Liebe zu haben. Denke noch einmal darüber nach. Aber ich werde mich nicht widersetzen." ( Ebd., 13f.)

Josemaría war ein hervorragender Student der Theologie. Er wuchs auch in seinem inneren Leben. Täglich besuchte er das Gnadenbild der Mutter Gottes vom Pilar. Viele Nächte verbrachte er still für sich auf einem Balkon mit Sicht auf das Allerheiligste in der Seminar-Kirche. Er fastete oft, schlief auf dem Fußboden und verrichtete andere Werke der Buße, um sich Gott auch im Blick auf seinen Leib ganz verfügbar zu halten.

Wenige Monate vor der Priesterweihe starb plötzlich sein Vater am 17. November 1924. Der beispielhafte Einsatz des Vaters für die Familie hat Escrivá tief geprägt. Die Eltern erzogen den Sohn in großer Freiheit. Er wird später einmal sagen, dass er seinem Vater die Berufung verdankt und dass er jeden Morgen und jeden Abend die Gebete spricht, die er von seiner Mutter gelernt hat. Kaum übertreffbare Worte findet er über die Mütter, die „wirklich heroisch sind, auch wenn sie niemals spektakulär in Erscheinung treten. Sie machen keine Schlagzeilen – wie man so sagt –, aber sie opfern sich immer wieder auf, sie stellen freudig ihre Wünsche und Neigungen zurück, sie verschenken ihre Zeit oder verzichten auf Selbstbehauptung und auf mögliche Erfolge, damit ihre Kinder glücklich sind." ( Ebd., 15.)

III.

Am 28. März 1925 wurde Josemaría zum Priester geweiht und feierte zwei Tage später in der Mutter Gottes-Kapelle der Kathedrale in Saragossa seine Primiz. In dem kleinen Dorf Perdiguera auf dem Lande übernahm er die Vertretung des erkrankten Pfarrers. Er lernte das harte, schwere Leben der kleinen Leute, aber auch des Landpfarrers kennen. Wie in Spanien oft üblich, holte er seine Familie, nämlich Mutter, Schwester und Bruder, nach Saragossa. Sie sollten ihn aber selten sehen. Denn im Jahr 1923 hatte er bereits ein Zusatzstudium der Rechtswissenschaften an der staatlichen Universität von Saragossa begonnen. Im Januar 1927 macht er dort das juristische Abschlussexamen und übersiedelt bald danach nach Madrid, um seine Studien mit dem Doktorrat im Zivilrecht abzuschließen, was dann erst 1939 gelingt. Er hatte dieses Studium mit Billigung seines Vaters im Jahr 1923 begonnen. Der Vater sah darin wohl so etwas wie eine zusätzliche Sicherheit. In Saragossa arbeitet er auch in der Krankenseelsorge. Gleichzeitig hat er eine Dozentur für Römisches Recht und für Kirchenrecht an einer Akademie inne. Außerdem gibt er Privatstunden, um seine Familie unterstützen zu können. Schließlich kümmerte er sich mit einigen Mitstudenten, wie schon in Saragossa, so auch jetzt in Madrid um sozial Schwache und Schwerkranke. Den Waisen- und Straßenkindern erteilte er Katechismus- und Erstkommunionunterricht. Zugleich ist er Seelsorger für die Lehrenden und Lernenden der Hochschule. Josemaría war ein gebildeter, gewandter und trotz seiner durchlöcherten Schuhe ziemlich eleganter junger Mann. Seine Studenten konnten kaum glauben, dass er sich mit dem „Proletariat" abgab. Sie haben ihm nachspioniert – er ging tatsächlich zu den Randsiedlern.

Im Grunde wartete Josemaría jedoch immer noch auf einen Wink des Herrn, um Klarheit über seine Berufung zu finden. Dies sollte sich bald ändern. Am Schutzengelfest (2.10.) des Jahres 1928 beschäftigt er sich während einiger Besinnungstage nochmals mit seinen geistlichen Notizen aus den letzten zehn Jahren. Wie er selbst berichtete, „sah" er dabei plötzlich in seiner vollen Gestalt das, was später „Opus Dei" heißen sollte. Er bleibt später mit Informationen über dieses Ereignis ziemlich zurückhaltend, aber es ist kein Zweifel, dass der 26jährige Priester hier die geistliche Geburt der von ihm gegründeten Gemeinschaft erfahren durfte.

Es ist auch zugleich der „Kern" dieser Botschaft erkennbar: Menschen aus allen Berufen und sozialen Situationen sollen inmitten ihres alltäglichen Tuns nach der Fülle des christlichen Lebens streben. Er sollte diesen Laien den göttlichen Ruf bewusster machen und Wege der Heiligung in der beruflichen Arbeit und in der Erfüllung der gewöhnlichen Aufgaben der Christen weisen. Hier liegt auch das Zentrum seiner Botschaft, die er im Jahr 1966 in einem Interview mit der New York Times folgendermaßen formulierte: „Der Geist des Opus Dei greift die herrliche, jahrhundertelang von vielen Christen vergessene Wirklichkeit auf, dass jede Arbeit, die im Menschlichen lauter und rechtschaffen ist, zu einem göttlichen Tun werden kann. Wenn man Gott dienen will, gibt es keine belanglosen oder zweitrangigen Arbeiten: alle sind von größter Bedeutung. – Um Gott zu lieben und ihm zu dienen, ist es nicht nötig, auffallende Dinge zu tun. Alle Menschen ohne Ausnahme ruft Christus auf, vollkommen zu sein wie ihr himmlischer Vater vollkommen ist (vgl. Mt 5,48). Heiligwerden bedeutet für die überwiegende Mehrzahl der Menschen, ihre eigene Arbeit zu heiligen, sich in dieser Arbeit selbst zu heiligen und die anderen durch die Arbeit zu heiligen, damit sie täglich auf dem Weg ihres Lebens Gott begegnen. – Die gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklung, die eine immer stärkere Bewertung der Arbeit mit sich bringt, erleichtert offensichtlich den Menschen unserer Zeit das Verständnis für diesen Aspekt der christlichen Botschaft, den die Spiritualität des Opus Dei so sehr hervorhebt. Entscheidend aber ist das Wehen des Heiligen Geistes, der in seinem lebensspendenden Wirken unserer Zeit zum Zeugen einer tiefen Erneuerung im ganzen Christentum hat machen wollen. Liest man die Dekrete des Zweiten Vatikanischen Konzils, so erscheint als ein wichtiger Teil dieser Erneuerung gerade die neue Wertschätzung der gewöhnlichen Arbeit und der Würde der Berufung zu einem christlichen Leben und Arbeiten mitten in der Welt."( Gespräche mit Msgr. Escrivá de Balaguer, Köln 1969, 4. Auflage 1992, 84f. Die in diesem Band gesammelten Interviews aus den Jahren 1966-1968 geben einen ausgezeichneten Einblick in Leben und Werk von Josemaría Escrivá.)

IV.

Offensichtlich konnte der noch erstaunlich junge Priester diese Vision anderen von Anfang an mit äußerster Klarheit vor Augen führen. Sie war auch nicht an eine konkrete historische Situation gebunden, obgleich es immer um die Umsetzung der empfangenen Botschaft vor Ort und in der konkreten Zeit ging. Er war überzeugt, dass es dafür eigentlich nur zweier Mittel bedarf, nämlich das Kreuz und das Evangelium. Nun erfolgt rasch der Ausbau dessen, was er in der Vision gesehen hatte. Bereits im Jahr 1930 wird ihm deutlich, dass zum Opus Dei Frauen gehören sollten. Es wäre aufschlussreich, der Bedeutung und Stellung der Frau näher nachzugehen. Die ersten Berufungen kommen. Das erste Apostolische Werk, die Akademie DYA, wird in Madrid eröffnet. Die ersten wichtigen Schriften erscheinen im Jahr 1934: „Geistliche Betrachtungen" und „Der heilige Rosenkranz", das erste ein Vorläufer des Camino, der Rosenkranz erschien mit über 100 Auflagen in 20 Sprachen.

Während des Bürgerkrieges, der am 18. Juli 1936 ausbricht, bleibt Josemaría Escrivá unter Lebensgefahr in Madrid. Im September 1937 besorgt er sich über den Konsul von Honduras die nötigen Dokumente, um Spanien verlassen zu können. In einem Gewaltmarsch überquert er die Pyrenäen und trifft am 2. Dezember 1937 über Andorra in Frankreich ein. Während des Bürgerkriegs, der am 28. März 1939 endet, lebt er eine Weile in Burgos und nimmt zunächst von dort die Apostolische Arbeit wieder auf. Nach dem Krieg ist er wieder in Madrid. Ein wichtiger Einschnitt ist die Approbation des Opus Dei am 19. März 1941 als „Fromme Vereinigung" (pia unio). Bald darauf gründet er die „Priesterliche Gesellschaft vom Hl. Kreuz", die eng mit dem Opus Dei verbunden ist. Am 22. April stirbt unerwartet seine Mutter. Am 11. Oktober 1943 erhält das Opus Dei die erste Approbation vom Hl. Stuhl. 1944 werden die ersten aus den Opus Dei hervorgegangenen Priester geweiht, darunter auch der spätere Nachfolger von Josemaría Escrivá, der lange Zeit mit ihm zusammenarbeiten sollte: Don Alvaro Del Portillo. Alle drei Neupriester waren Ingenieure. Als 1947 die Säkularinstitute offiziell kirchlich gegründet werden (Vgl. dazu G. Pollak, Der Aufbruch der Säkularinstitute und ihr theologischer Ort, Vallendar 1986.), erhält auch das Opus Dei die Zulassung nach dieser neuen Form geistlichen Lebens. Der Gründer ist nicht glücklich über diese Form, aber sie ist das, was unter den gegebenen Möglichkeiten am ehesten seiner Vision entspricht.

Rasch erfolgt der weitere weltweite Ausbau der Gemeinschaft. Seit 1946 lebt Josemaría Escrivá als Generalpräsident des Opus Dei in Rom. Der Gründer wird öfter vom Papst Pius XII in Privataudienz empfangen. 1948 wird das „Collegium Romanum Sanctae Crucis" als Studienzentrum eröffnet, in dem Tausende aus allen Ländern der Welt ihre geistliche Bildung erhalten. Es ist vor allem für die Priester gedacht. Im Jahr 1950 gewährt Papst Pius XII. dem Opus Dei die endgültige Approbation. 1952 beginnt in Pamplona der Aufbau der Universität von Navarra, die dem Gründer bis ans Lebensende ganz besonders am Herzen liegt. Im Jahr 1953 wird das Bildungszentrum auch für die Frauen des Opus Dei eröffnet (Vgl. dazu Gespräche mit Msgr. Escrivá de Balaguer, 129-172.) In dieser Zeit dürfen auch Nicht-Katholiken und Nicht-Christen Mitarbeiter werden. Hatte er im Jahr 1939 das Doktorrat in den Rechtswissenschaften erhalten, so wird er im Jahr 1955 an der Päpstlichen Lateranuniversität das Doktorat in Theologie erhalten. 1960 empfängt der neue Papst, Johannes XXIII., den Generalpräsidenten in Audienz. Während des Zweiten Vatikanischen Konzils wirkt vor allem Don Alvaro Del Portillo als Berater mit (Zum Opus Dei und zum Konzil, vgl. P. Berglar, Opus Dei, Salzburg 1983, 267-278.). Josemaría Escrivá begibt sich in dieser Zeit und danach als Pilger zu vielen europäischen Heiligtümern, übrigens auch nach Guadalupe in Mexiko.

Im Jahr 1975 begeht er in Rom sein Goldenes Priesterjubiläum. Ende Mai führt ihn seine letzte Reise nach Spanien. Wenige Tage nach seiner Rückkehr nach Rom, am 26. Juni, stürzt er in seinem Arbeitszimmer zu Boden und stirbt. Jede Hilfe, die ihm noch zuteil wird, ist vergeblich. Anderthalb Stunden dauerte der Kampf um sein Leben. Sein Leichnam ruht in der Krypta der Kirche Maria vom Frieden im Zentralsitz der Prälatur in Rom.

V.

Bald nach seinem Tod entsteht eine große Wallfahrt zu seinem Grab. Es sind besonders viele junge Menschen. Die Pilger kommen aus allen Erdteilen. Bereits am 12. Mai 1981 wird der Seligsprechungsprozess eröffnet, der 1986 auf der Diözesanebene abgeschlossen und am 17. Mai 1992 durch die feierliche Seligsprechung zu Ende geführt wird.

Im Jahr 1982 gibt Papst Johannes Paul II. der Öffentlichkeit seine Entscheidung bekannt, das Opus Dei als Personalprälatur zu errichten. Mit der Apostolischen Konstitution „Ut sit" vom 28. November kommt die juristische Suche nach einer angemessenen kirchlichen Organisations-Gestalt des Opus Dei an ein Ende. Es ist die rechtliche Form, die Josemaría Escrivá immer gesucht und gewünscht hatte. Die Personalprälatur, angeregt durch das Dekret über Dienst und Leben der Priester des Zweiten Vatikanischen Konzils (PO 10), soll für Weltpriester eine eigene Möglichkeit der Inkardination schaffen, um deren mobilen und flexiblen Einsatz zu ermöglichen. Eine endgültige Regelung erfolgt einerseits im Motu proprio „Ecclesiae Sanctae" und anderseits im Rahmen des neuen Kirchenrechtes (vgl. cc. 294-297 CIC). Damit können auch im Jahr 1983 die Statuten der Prälatur vom Hl. Kreuz und Opus Dei erlassen werden. (Näheres dazu bei A. de Fuenmayor u.a., Die Prälatur Opus Dei. Zur Rechtsgeschichte eines Charismas. Darstellung, Dokumente, Statuten = Münsterischer Kommentar zum CIC, Beiheft 11, Essen 1994 (Übersetzung aus dem Spanischen, wo das Werk 1989 erschienen ist), 4. Auflage, Navarra 1990. In diesem Band sind auch alle wichtigen Dokumente abgedruckt: 513-679. Die Statuten wurden auch eigens herausgegeben: Rom 1982.)

Die Personalprälatur besteht aus Weltpriestern und ist geprägt durch ihren Zweck. Das Personalbistum ist eine Diözese, deren konstitutiver Teil des Gottesvolkes neben dem Territorium durch eine personale Kategorie umschrieben ist (vgl. can. 372 § 2 CIC). Die Personalprälatur ist ein eigenständiger, zweckgebundener, für die Weltgeistlichen bestimmter Inkardinationsverband, den es nur in der lateinischen Rituskirche gibt. Zur Personalprälatur gehören also die in ihm inkardinierten Priester, aber auch die der Prälatur eingegliederten Laien. Alle vereint eine einzige Berufung, ein Geist, ein Ziel, eine Leistung. Das Opus Dei ist bisher die einzige Einrichtung mit dieser Bezeichnung. Sie weicht in ihrer Struktur von der im CIC vorgezeichneten Gestalt ab. Die Diskussion über diese Form einer Gemeinschaft, die weder dem Ordensstand noch dem Säkularinstitut entspricht, geht weiter.

Die Seligsprechung hatte ein großes Echo. So wurde der Ruf nach einer Heiligsprechung immer lauter. In der Tat konnte Johannes Paul II. bald nach der Feier des 100. Geburtstages von Josemaría Escrivá am 6. Oktober 2002 unter großer Anteilnahme die Heiligsprechung vollziehen. (Zur Selig-sprechung vgl. den Bildband: Geh ein in die Freude deines Herrn. Seligsprechung von Josefmaria Escrivá, Gründer des Opus Dei, Köln 1992. )

Viele Veröffentlichungen des Gründers erschienen nach dem Tod und haben in vielen Sprachen sehr hohe Auflagen erreicht. Die wichtigsten Bücher sind: Der Weg (Köln 1983); Die Spur des Sämanns (Köln 1986); Im Feuer der Schmiede (Köln 1987); Christus begegnen (Köln 1981); Freunde Gottes (Köln 1980); Der Kreuzweg (Köln 1981); Der Rosenkranz (Köln 1976 u.ö.). Im Zusammenhang der Heiligsprechung begann auch das Erscheinen der bisher umfangreichsten, auf drei Bände berechneten Biographie von Andrés Vásquez de Prada. (Der Gründer des Opus Dei. Josemaría Escrivá. Eine Biographie. Band 1: Die frühen Jahre (Köln 2002). Dieser Band endet mit dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs 1936. Band 2 soll die Jahre 1936 bis 1945, Band 3 die Jahre 1945 bis 1975 umfassen. Zum 100. Geburtstag und zur Heiligsprechung erschien ein wichtiger Band „Josemaría Escrivá. Profile einer Gründergestalt", herausgegeben vom früheren Prälaten der deutschen Region, César Ortiz, Köln 2002.)

VI.

Mit dieser biographischen Skizze sind zugleich auch die Umrisse der spirituellen Gestalt von Josemaría Escrivá sichtbar geworden. Nach langer Zeit des Wartens ist, so haben wir gesehen, bei der entscheidenden Vision vom 2. Oktober 1928, die Grundintuition mit großer Deutlichkeit erkennbar geworden. Ein Kern liegt in der Aussage, „dass jede Arbeit, die im Menschlichen lauter und rechtschaffen ist, zu einem göttlichen Tun werden kann. Wenn man Gott dienen will, gibt es keine belanglosen oder zweitrangigen Arbeiten: alle sind von größter Bedeutung. – Um Gott zu lieben und ihm zu dienen, ist es nicht nötig, auffallende Dinge zu tun". Es gibt viele Interpretationen, um das damit Gemeinte näher zu entfalten. (Vgl. dazu P. Berglar, Opus Dei, 278ff.; V. Messori, Der „Fall" Opus Dei, Aachen 1995 (italienische Ausgabe: Mailand 1994), C. Ortiz (Hg.), Josemaría Escrivá, 123, 225ff., 253ff., 311ff., 347ff.; D. Le Tourneau, Das Opus Dei, Stein am Rhein 1987, 49ff.; P. Rodgríuez u.a., Das Opus Dei in der Kirche, Paderborn 1997, 107ff., 159ff.; )

Vielleicht ist das Wort von der „neuen Weltverantwortung", das wir auch im Titel benutzen, noch zu künstlich und anspruchsvoll für das Elementare, das in dieser Spiritualität zum Ausdruck kommt. Escrivá geht davon aus, dass der Christ ein unbefangeneres, freilich keineswegs naives Verhältnis zur Welt und zu seiner Arbeit gewinnen muss.

Hier setzt er sich am stärksten von den klassischen Orden ab. Er bestreitet entschieden und grundlegend, dass nur derjenige ein ganz auf Gott gerichtetes Leben führen kann, der auf irgendeine Weise Abstand von der Welt hält, so z.B. durch Klostermauern, Gelübde, Ordenskleid und auch Ordensregeln. Er sah es als falsch an, dass das eigentliche christliche Leben faktisch oft gleichgesetzt worden ist mit der Abgeschiedenheit von der Welt, wie dies ein Ideal vieler Ordensgemeinschaften war. Auch die Weltpriester haben nach Escrivá ihr persönliches religiöses Leben weitgehend in dieser Richtung, wenn auch in abgemilderten Formen, orientiert. Weil der Laien-Christ oft noch stärker Versuchungen und Zerstreuungen ausgesetzt ist, hat man ihm ein Leben nach dem Evangelium gar nicht zugetraut und ihn nicht selten als einen „Christen zweiter Klasse" gesehen, der die bedingungslose Nachfolge Jesu Christi nicht beschreiten könne. Die Laien selbst haben sich nach Escrivá dieser negativen Vorstellung zu lange gebeugt.

Diese Tradition prägte – gewiss mit Ausnahmen – nach Escrivá die ganze katholische Kirche. Es scheint, dass sie im Spanien der 20er und 30er Jahre besonders krasse Formen angenommen hatte. Es liegt also gewiss etwas Revolutionäres darin, wenn Escrivá sich mit solchen Argumenten nicht mehr mit einer ausgedünnten Ordensspiritualität für Laien abfinden möchte. Er traut der Gnade Gottes im Wirken vieler Laienchristen mehr zu. So hat Escrivá ganz grundlegend die Berufung jedes Christen in den Vordergrund gestellt. Wiederum ist hier das Time-Interview vom 15. April 1967 aufschlussreich: „Am ehesten ist das Opus Dei zu verstehen, wenn man sich das Leben der ersten Christen vergegenwärtigt. Sie lebten ihre christliche Berufung mit uneingeschränkter Hingabe; sie suchten ernsthaft jede Vollkommenheit, zu der sie durch die einfache und erhabene Tatsache der Taufe gerufen waren. Äußerlich unterscheiden sie sich nicht von den anderen Leuten. Die Mitglieder des Opus Dei sind normale Menschen, die einer normalen Arbeit nachgehen und in der Welt als das leben, was sie sind: als christliche Staatsbürger, die den Forderungen ihres Glaubens ganz entsprechen wollen." (Gespräche mit Msgr. Escrivá de Balaguer, 50. Vgl. auch ebd., 49ff., 77ff., 87ff.) Kann man nicht verstehen, dass dieses Programm, auch wenn es vielleicht manchmal missverständlich umgesetzt wurde, viele Menschen anzog und anzieht?

Die Unbefangenheit dieser Worte kann leicht täuschen. Es handelt sich keineswegs um eine naive Zuwendung zur Welt. Der Gründer war sich vollkommen klar, dass derjenige, der mehr in der Welt lebt, um so tiefer die Wurzeln seiner Existenz in Gott erfahren muss. Nicht zur Abkehr von der Welt ist der Laien-Christ gerufen, sondern zu ihrer verantwortlichen Gestaltung im Sinne des Schöpfers. Immer wieder kommt die Formulierung vor: sich durch seinen Beruf heiligen, seinen Beruf heiligen und die anderen durch den eigenen Beruf heiligen. Im Jahr 1967 formuliert Escrivá diese grundlegende Überzeugung in einer Predigt mit folgenden Worten: „Für euch, Männer und Frauen der Welt, steht jede Flucht vor den ehrbaren Wirklichkeiten des alltäglichen Lebens im Gegensatz zum Willen Gottes... Gott ruft euch auf, ihn gerade in den materiellen, weltlichen Aufgaben des menschlichen Lebens und aus ihnen heraus zu dienen. Im Labor, im Operationssaal eines Krankenhauses, in der Kaserne, auf dem Lehrstuhl einer Universität, in der Fabrik, in der Werkstatt, auf dem Acker, im Haushalt, in diesem ganzen, unendlichen Feld der menschlichen Arbeit wartet Gott Tag für Tag auf uns... Es tut unserer Zeit Not, der Materie und den ganz gewöhnlich erscheinenden Situationen ihren edlen, ursprünglichen Sinn zurückzugeben, sie in den Dienst des Reiches Gottes zu stellen und sie dadurch, dass sie zum Mittel und zur Gelegenheit unserer ständigen Begegnung mit Jesus Christus werden, zu vergeistigen." (Zitiert nach D. M. Helming, Fußspuren im Schnee, 22)

Deshalb hat Escrivá immer auch wieder Leute gesucht und mit ihnen gerungen, die ein intensives weltliches Leben führten und große Aufgaben erfüllen mussten. Er hielt die Einsatzbereitschaft und die Disziplin solcher Menschen für günstige Voraussetzungen, um sich in ähnlichem Maß auch für geistliche Ziele einzusetzen, die die alltäglichen Aufgaben nicht etwa verdrängen, sondern – wie er gerne sagte – „veredeln". Er war überzeugt, dass Menschen, die den beruflichen Anforderungen eher ausweichen und auch wenig Änderungsbereitschaft erkennen lassen, weniger geeignet sind für das Opus Dei. Eine solche Aussage kann im Blick auf die Armen, Schwachen und Bedrängten gewiss zwiespältig werden. Aber die entscheidende Stoßrichtung ist klar. Es kommt nicht in erster Linie darauf an, dass Escrivá die Mächtigen und Einflussreichen aufsuchen und gewinnen wollte, sondern Menschen mit einer hohen Bereitschaft zum Einsatz und auch zur Veränderung. Das ganze menschliche Leben muss in der Kontemplation wurzeln. Immer wieder sagte Escrivá, die Waffe des Opus Dei sei nicht die Arbeit, sondern das Gebet.

Damit hat er manchmal Menschen in der Welt geradezu verblüfft. Prof. Victor García Hoz, Psychologe und später Mitglied von Opus Dei, erzählt uns: „Im Jahre 1941 sagte Don Josemaría einmal zu mir: ‚Gott ruft dich auf dem Weg der Kontemplation.‘ Ich war total verblüfft. Ich war schließlich ein verheirateter Mann mit damals drei Kindern, zu denen noch weitere dazukommen konnten und tatsächlich auch kamen. Außerdem hatte ich hart zu arbeiten, um meine Familie zu ernähren. Dass jemand einem Mann wie mir Kontemplation, geistliche Beschaulichkeit, als ein erreichbares Ziel hinstellte, das war in der damaligen Zeit einfach ungeheuerlich" (Ebd., 21.). Die Welt selbst wird so für den Laien im strengen Sinn zum Ort der Begegnung mit Gott. Jederzeit und an jedem Ort stehen die Wege der Kontemplation allen offen, die arbeiten. „Alles Wesentliche an der christlichen Berufung bleibt unverändert. Doch neu ist die Weise, sie zu verwirklichen. Nachdem anderthalb Jahrtausende lang das Ordensideal vorherrschte, greift das Opus Dei wieder die Art auf, mit der die Christen der ersten Jahrhunderte ihren Glauben lebten. Ein in mancher Hinsicht gewagtes Unternehmen. Kein Wunder, dass es bei aller Zustimmung auch auf Missverständnisse und Skepsis, ja Ablehnung stieß und stößt." (Ebd., 22.)Gerade hier darf man nicht vergessen, dass von den über 80.000 Mitgliedern in fast 100 Ländern nur 2% Priester sind.

VII.

Ich verzichte darauf, diese Aspekte zu vertiefen und weiter zu entfalten. Wenn man jedoch Escrivá verstehen will, muss man immer wieder zu diesem grundlegenden Gedanken zurückkehren. Nur von daher ist es auch verständlich, dass er in relativ kurzer Zeit so viele Menschen ansprach, die mitten im säkularen Leben standen und dennoch Christen sein wollten. Viele haben einen solchen Weg der Heiligung mitten in der Welt gesucht, ihn aber mit den traditionellen Wegen nicht finden können.

Dennoch ist dieser Weg eigentlich nicht etwas Neues. Mit Recht hat der Gründer immer wieder gesagt, dieser Geist des Opus Dei sei „so alt wie das Evangelium – und wie das Evangelium so neu". (Ebd.) Er verweist auf das frühe Christentum. Aber es gibt natürlich auch Akzentuierungen und Vorläufer, die solche Gedanken bereits thematisierten. Man wird hier, wie in allen Lebensprozessen, nicht immer alles mit Zitaten nachweisen können. Escrivá hat sich bestimmt manche Aussagen der Ordensspiritualitäten zu eigen gemacht, z.B. das Benediktinische Ethos des „Ora et labora" („Bete und arbeite"). Dies gilt ganz gewiss auch für das „Gott suchen in allen Dingen" des hl. Ignatius von Loyola und des Jesuitenordens, aber vermutlich auch für die Spiritualität der Theresia von Lisieux, in der das alltägliche Leben eine besondere Form der Heiligung erfährt. Schließlich darf man nicht vergessen, wie zentral „Heiligung" im AT und NT ist, besonders auch in der reformierten Tradition. (Vgl. z.B. J. Zmijewski, Heiligung, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Auflag, Band IV, Freiburg i.Br. 1995, 1331-1332.)

Bei diesem Vergleich denke ich z.B. an Aussagen der folgenden Art: „Ich versichere euch, wenn ein Christ die unbedeutendste Kleinigkeit des Alltags mit Liebe verrichtet, dann erfüllt sich diese Kleinigkeit mit der Größe Gottes. Das ist der Grund, warum ich immer und immer wieder betone, dass die christliche Berufung darin besteht, aus der Prosa des Alltags epische Dichtung zu machen. Himmel und Erde scheinen sich am Horizont zu vereinigen; aber nein, in euren Herzen ist es, wo sie eins werden, wenn ihr heiligmäßig euren Alltag lebt." (Gespräche mit Msgr. Escrivá de Balaguer, 177 (Nr. 116). Besonders hingewiesen sei auf den beinahe klassischen Text „Die Welt leidenschaftlich lieben", ebd., 173-183, eine Ansprache an der Universität von Navarra am 8. Oktober 1967.) Wenn man in die Kleinigkeiten des Alltags Liebe hineinlegt, dann wird man auch die Spuren Gottes darin finden. Alles andere ist für Escrivá „Blechmystik", die letztlich aus eitlen Träumereien und falschen Idealismen besteht. Escrivá scheut sich nicht, unmittelbar die ganz materielle Wirklichkeit als Feld christlicher Bewährung zu sehen und spricht wiederholt von einer „Materialisierung" des christlichen Lebens oder auch von einem „christlichen Materialismus". Wir haben vielleicht heute Schwierigkeiten mit einer solchen Sprache. Aber jeder, der verstehen will, kann diese Sprache deuten und auslegen – was wir ja sonst auch machen.

Ich denke aber auch an die Einschätzung der irdischen Dinge und ihre Autonomie bei Thomas von Aquin, der den Eigenwert der Schöpfungswirklichkeit und das Gutsein der aus den Händen Gottes hervorgegangenen Welt unmissverständlich betont. Man wird aber auch nicht fehlgehen, wenn man an Männer wie Thomas Morus denkt, die ihre Überzeugung aus dem Gewissen mit ihrem Leben besiegelten. Es ist jedoch das Verdienst von Escrivá, dass er mit Entschiedenheit die Ansätze der Tradition aufgreift und daraus wirklich nicht nur eine „Spiritualität für Laien", sondern eine „laikale Spiritualität" schafft. In diesem Sinne ist Escrivá ohne jede Frage ein Vorläufer des Zweiten Vatikanischen Konzils. Viele Aussagen des Konzils über die Berufung zur Heiligkeit in der Kirche und zum Glaubenszeugnis in Kirche und Welt haben hier ihre Wurzeln.

In dieser Grundintuition ist alles andere vorgezeichnet. Deshalb ist es auch nicht notwendig, an dieser Stelle die Konsequenzen sichtbar zu machen. Dies gilt z.B. für die Suche nach einer adäquaten rechtlichen Form, in der die Grundgedanken des Opus Dei angemessen gelebt werden können. „Für einen Lebensweg, der die Heiligung des Laien-Christen im Alltag und durch ihn zum Ziel hatte, für die spezifische Berufung zu etwas Unspezifischem also, gab es in der Kirche noch kein juridisches Modell. Erst das realiter von Menschen in aller Welt gelebte Opus Dei schaffte nach und nach eine innerkirchliche Gegebenheit, welcher schließlich, gemäß den organischen Lebensprinzipien der Kirche die adäquate Rechtsform zuwachsen musste." (P. Berglar, Opus Dei, 11) Diese Einsicht bestimmt auch manche andere Eigenheiten des Opus Dei. So gibt es im Bereich der irdischen, säkularen Probleme eine große innere Freiheit, wie sie der Einzelne im Alltag seines Berufes auch braucht, während die Ausrichtung auf ein transzendentes, übernatürliches Ziel mit großer Gemeinsamkeit verfolgt wird.

VIII.

Ich kehre kurz an den Anfang zurück. Es kam mir darauf an, die spirituelle Grundgestalt des neuen Heiligen darzulegen. Wenn die Kirche einen neuen Heiligen geschenkt bekommt, dann muss sie sich auch fragen, was der Geist Gottes durch einen solchen Zeugen hindurch der Kirche einer Zeit sagen möchte. Wir haben dies vielleicht bisher zu wenig versucht. Dies gilt nicht nur für Josemaría Escrivá, sondern auch für Mutter Teresa, Edith Stein, Adolf Kolping, Maximilian Kolbe, Titus Brandsma und manche andere. Es wäre ein unverzeihliches Versäumnis, wenn wir uns nicht wenigstens mühen würden, das spezifische Zeugnis in dieser Bedeutung für uns heute zu entdecken.

Deshalb habe ich mir auch den Mut genommen, einmal alle üblichen Diskussionen über das Opus Dei zurückzustellen. Ich will dabei nicht leugnen, dass es in der Vergangenheit da und dort bei der Inkulturation eines solchen Werkes in unserer Gesellschaft Probleme und Missverständnisse gegeben hat, die freilich auf mehreren Seiten liegen. Aber die spirituelle Herausforderung, die im Opus Dei liegt, darf nicht einfach mit Rückgriff auf diese Verdächtigungen abgewürgt werden. Leider gehen nicht wenige Veröffentlichungen auf das grundlegende Charisma von Josemaría Escrivá überhaupt nicht ein. (Vgl. R. Hutchison, Die heilige Mafia des Papstes, München 1996; M. del Carmen Tapia, Hinter der Schwelle. Ein Leben im Opus Dei. Der schockierende Bericht einer Frau, Zürich 1993; J. Ropero, Im Bann des Opus Dei. Familien in der Zerreißprobe, Solothurn 1995; zur Auseinandersetzung vgl. auch Opus Dei. Ziele, Anspruch und Einfluss, hrsg., von H. Schützeichel, Düsseldorf 1992, vgl. hier auch die Beiträge von H. St. Puhl; „Katholischer" Fundamentalismus. Häretische Gruppen in der Kirche, hrsg. von W. Beinert, Regensburg 1991. Vgl. auch oben Anm. 1)

Es scheint mir gerade darum ein Gebot der Stunde zu sein, mit Sorgfalt und Fairness das Profil des neuen Heiligen genauer zu betrachten. Wenn das Opus Dei selbst in der Verwirklichung des Werkes etwas falsch gemacht hat oder machen sollte, dann muss man es zuerst gewiss an der Bibel, besonders aber an der Gestalt des Gründers und seiner Vision messen. Alles andere wäre nicht seriös. Darum macht man es sich zu einfach, wenn man versucht, das Opus Dei als eine Sekte oder gar so etwas wie eine Mafia abzustempeln.

Die Kirche kann es sich heute nicht leisten, Charismen, die in ihr entstanden und aufgeblüht sind, zu verachten. Sie kann sich auch nicht leisten, Bewegungen dieser Art gegeneinander auszuspielen. Ich bin fest überzeugt, dass wir angesichts der großen Herausforderung des christlichen Glaubens heute alle Kräfte bündeln müssen, um bei aller Ausformung im Einzelnen aus der Mitte des Glaubens heraus ein gemeinsames Zeugnis vor der Welt ablegen zu können. Dies ist gerade auch wichtig in der Stoßrichtung dessen, was Josemaría Escrivá im Blick auf eine „laikale Spiritualität" wollte. Die Kirche muss die Laien befähigen, inmitten ihrer säkularen Tätigkeit authentische Zeugen des Evangeliums zu sein. Es ist gar nicht möglich, dass der Arm der verfassten Kirche überall hinreicht. Es braucht die Selbstständigkeit aller Christen je an ihrem Ort, um dem Evangelium in allen Feldern unseres Lebens einen Weg zu bahnen und Raum zur Entfaltung zu geben. Davon wird in hohem Maß die Zukunft der Kirche abhängen.

Ich will evtl. vorhandene Probleme nicht verdrängen oder gar verdecken. Aber sie können wirklich nur gelöst werden, wenn wir uns der zündenden Idee im Leben und Wirken des heiligen Josemaría Escrivá stellen. So möchte ich mit einer wichtigen Aussage des neuen Heiligen schließen: „Es versteht sich von selbst, dass sich diese Vorstellungen von einem heiligmäßig gelebten Alltag kaum verwirklichen lassen, wenn man nicht im Besitz jener vollen Freiheit ist, die dem Menschen – auch nach der Lehre der Kirche – aufgrund seiner Würde als Ebenbild Gottes zusteht. Die persönliche Freiheit – wenn ich von Freiheit spreche, meine ich natürlich immer eine verantwortungsbewusste Freiheit – besitzt eine wesenhafte Bedeutung für das christliche Leben. – Versteht also meine Worte als das, was sie sind: als Aufforderung, tagtäglich und nicht nur in besonderen Notsituationen eure Rechte auszuüben, ehrlich eure staatsbürgerlichen Pflichten in Politik, Wirtschaft, Universität und Beruf zu erfüllen und mutig die Folgen eurer persönlichen Entscheidungen sowie die Bürde der euch zustehenden Autonomie auf euch zu nehmen. Diese christliche Laienmentalität wird euch dazu befähigen, jede Form von Intoleranz und Fanatismus zu meiden; oder positiv ausgedrückt: sie wird euch helfen, in Frieden mit all euren Mitbürgern zusammenzuleben und das friedliche Zusammenleben in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft zu fördern." (Gespräche mit Msgr. Escrivá de Balaguer, 178 (Nr. 117).)

So kommt es in erster Linie darauf an, endlich einmal den heiligen Josemaría Escrivá selbst zu Wort kommen zu lassen. Dies sollte mein Beitrag sein, sich dieser oft verkannten Gestalt neu zu nähern und sie besser zu verstehen. Die Heiligsprechung vom 6. Oktober 2002 könnte dabei eine wichtige, ja entscheidende Hilfe sein.

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz