Vorbemerkung: Der Redetext des Referates wurde für den Druck im Oktober 2006 - auch aufgrund der aktuellen Ereignisse nach dem 12. September und dem 19. September 2006 erneut durchgesehen und in Fußnoten ergänzt. Hier wird nun der Drucktext dokumentiert, der freilich eine Aktualisierung zum Redemanuskript darstellt. Im Original sind eine Reihe von Anmerkungen und Literaturhinweisen enthalten, die hier nicht dokumentiert werden, die aber im Druck berücksichtigt sind.
I.
Die so genannte Säkularisierungsthese, wonach die Religion im Zuge der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modernisierung einem zunehmenden und unaufhaltsamen Bedeutungsverlust im Raum der Öffentlichkeit ausgesetzt ist, gehörte über Jahrzehnte zum scheinbar gesicherten Repertoire der Sozialwissenschaften . Inzwischen haben sich die Zeiten gründlich geändert. Die Säkularisierungsthese wird allenfalls noch mit erheblichen Einschränkungen und Differenzierungen vertreten. Zu offenkundig und mit Macht ist die Religion auf die globale Bühne zurückgekehrt, sofern sie diese denn überhaupt je wirklich verlassen hatte. Mit gewissen Einschränkungen gilt dies auch für die westliche Welt.
Erwartungen und Befürchtungen richten sich deshalb heute nicht mehr auf das Verschwinden einer öffentlich wirksamen Religion, sondern, wie z.B. bei Samuel Huntington , auf einen „Kampf der Kulturen“, wobei diese als wesentlich religiös bestimmt oder jedenfalls mitbestimmt wahrgenommen werden. Die Reaktionen auf die Regensburger Vorlesung von Papst Benedikt XVI. vom 12. September 2006 zeigen einmal mehr, wie sehr die Religionen den öffentlichen Diskurs zu mobilisieren vermögen.
Es ist vor diesem Hintergrund alles andere als verwunderlich, dass – vor allem seit dem 11. September 2001, dessen Bilder der Zerstörung tief in das Bewusstsein der heutigen Menschheit eingelassen sind – weitgesteckte Erwartungen mit einem Dialog der Religionen verbunden werden. Er soll die Spannungen entschärfen, die in der internationalen Staatengemeinschaft, in der Weltgesellschaft und in einzelnen Ländern herrschen, und zum gemeinsamen Zeugnis der Religionen für den Frieden führen. Hier klingen die Imperative an, die Hans Küng seinem „Projekt Weltethos“ zugrunde gelegt hat: „Kein Zusammenleben auf unserem Globus ohne ein globales Ethos! – Kein Frieden unter den Nationen ohne Frieden unter den Religionen! – Kein Frieden unter den Religionen ohne Dialog der Religionen!“
II.
Während sich das „Projekt Weltethos“ prinzipiell an alle Religionen wendet, richtet sich das weltweite öffentliche Interesse derzeit vor allem auf das christlich-muslimische Gespräch oder aber auf den Dialog der so genannten abrahamitischen Religionen, also auf Judentum, Christentum und Islam, die sich allesamt auf den in der Bibel und im Koran bezeugten Urvater Abraham zurückbeziehen. Dies hat – wie unschwer zu erkennen ist – mit den Konfliktlagen zu tun, die in unseren Tagen den Nahen Osten und das Verhältnis zwischen Orient und Okzident bestimmen. So führen die islamistischen Kämpfer, die sich dem heiligen Krieg gegen die Ungläubigen verschworen haben und letztlich die Errichtung eines totalitären Gottesstaates anstreben, ihren Krieg gegen „Zionisten“ und „Kreuzfahrer“ – d.h. gegen den jüdischen Staat Israel und den Westen, der aller Entkirchlichung und multireligiösen Durchmischung zum Trotz als „christlich“ interpretiert wird. Die konfliktbehaftete Nähe zwischen den drei Religionen wird zudem besonders anschaulich im Streit um den Status von Jerusalem, das Juden, Christen und Muslimen heilig ist. Auch die Integrationsprobleme mit muslimischen Migranten in Westeuropa, von denen sich manche Jüngere aus der 2. und 3. Einwanderergeneration islamistischem Gedankengut verschreiben und einige wenige sogar auf den Weg der Gewalt abdriften, berühren nicht nur die christliche Mehrheitsbevölkerung, sondern auch die hier lebenden Juden. Dem Antisemitismus in den Randzonen der traditionell ansässigen Bevölkerung hat sich längst eine antizionistisch motivierte Judenfeindlichkeit zugesellt, die an manchen Stellen ideologisch mit dem klassischen Rechtsextremismus verschmilzt.
All dies macht den Ruf nach einem Dialog zwischen Islam, Christentum und Judentum – den „abrahamitischen Religionen“ – gut verständlich. Indes ist es wichtig, die Möglichkeiten eines solchen Dialogs sorgfältig auszuloten und dabei auch der Grenzen einsichtig zu werden. Falsche Erwartungen können den Dialog belasten, stören und sogar unfruchtbar machen. Enttäuschungen und Frustrationen werden damit geradezu programmiert.
Zunächst einmal ist festzuhalten, dass bislang weder von einem „Kampf der Kulturen“ noch gar von einem Kampf der Religionen die Rede sein kann. Der westliche „Kulturkreis“ (um hier einmal die Terminologie von S. Huntington aufzugreifen) wird von islamistischen Terroristen angegriffen, nicht von den muslimischen Staaten und auch nicht vom Islam als Religion. Vielmehr sind auch die muslimisch geprägten Länder Opfer der Gewalt, weil sie sich der Ideologie und den Machtansprüchen der Dschihadisten widersetzen. Die augenblickliche Krisensituation beruht also wesentlich auch auf einem innerislamischen Konflikt, der nicht einfach auf dem Wege eines interreligiösen Dialogs gelöst werden kann. – Ebenso wenig vermag das Gespräch der Religionen die fundamental politische Auseinandersetzung über Gebietsansprüche und die staatliche Existenz der Völker im Heiligen Land zu überwinden. Der Kern des Konflikts im Nahen Osten ist nicht religiöser Natur.
Das heißt nun aber nicht, dass die Religionen im Ringen um die heute bedrängenden Friedensfragen einfach abseits stehen müssten oder auch nur dürften. Richtig ist vielmehr: Gerade indem die Grenzen des interreligiösen Gesprächs für die Klärung dieser Probleme sorgfältig bestimmt werden, treten die den Religionen gestellten Aufgaben umso deutlicher und präziser hervor.
Es zeigt sich dann: Zwar kann die Überwindung der dschihadistisch-islamistischen Ideologie letztlich nur innerhalb des Islam selbst erfolgen. Im Gespräch zwischen den Religionen können aber die Fehlwahrnehmungen der jeweils anderen Religion korrigiert werden. Damit wird verhindert, dass es kleinen extremistischen Gruppen schließlich doch gelingt, die Mehrheiten in den Religionsgemeinschaften gegeneinander aufzuhetzen. Im Dialog können darüber hinaus wechselseitig kritische Fragen gestellt werden, die die Selbstreflexion innerhalb der Religionen voranbringen. Damit verbunden müssen die Religionen vor allem auch daran arbeiten, die Verzweckung der Religionen für politische Ziele und zur Legitimation politischer Gewalt aufzudecken und ihr gemeinsam entgegenzutreten. Indem sie sich freimachen von politischer Instrumentalisierung, bewahren die Religionen ihr eigenes Wesen davor, von sekundären Interessen verdunkelt zu werden. Gerade so dienen sie auch dem Frieden.
III.
Grundsätzlich muss vor der etwas naiven, jedoch weit verbreiteten Vorstellung gewarnt werden, der interreligiöse Dialog sei eine Art Hilfsaggregat der Politik, das sich jederzeit zur Beruhigung internationaler und innergesellschaftlicher Konflikte anwerfen lasse. Die Begegnung zwischen den Religionen wird vielmehr nur dann auf lange Frist fruchtbar und damit auch friedensförderlich sein, wenn sie die Mitte der Religionen und die der Religion insgesamt eigenen Grundfragen berührt. Die vom Zweiten Vatikanischen Konzil am 28. Oktober 1965 verabschiedete „Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen“ – nach ihren Anfangsworten meist „Nostra aetate“ genannt – sieht das Verbindende der Religionen gerade darin, dass diese sich den gleichen Fragen nach den „ungelösten Rätseln“ des Lebens stellen: „Was ist der Mensch? Was ist Sinn und Ziel unseres Lebens? Was ist das Gute, was die Sünde? Woher kommt das Leid, und welchen Sinn hat es? Was ist der Weg zum wahren Glück? Was ist der Tod, das Gericht und die Vergeltung nach dem Tode? Und schließlich: Was ist jenes letzte und unsagbare Geheimnis unserer Existenz, aus dem wir kommen und wohin wir gehen?“ (Art. 1). Diese Fragen sind den Menschen zu allen Zeiten aufgegeben. Hier wird nicht nach diesem und jenem gefragt. Das Geheimnis menschlicher Existenz selbst spricht sich darin aus. Der Mensch ist sich selbst als Frage aufgegeben, ohne sich doch selbst Antwort geben zu können.
Diese jedem Menschen aufleuchtenden Grundfragen können durchaus als philosophisch bezeichnet werden. In ihnen kommt die menschliche Vernunft in ihrer wahren Tiefe und Weite zum Ausdruck. Wenn aber die Vernünftigkeit des menschlichen Fragens nach sich selbst und nach dem Grund und Ziel aller Wirklichkeit anerkannt wird, dann stellt sich damit auch das Problem der Vernünftigkeit der Antworten, die die Religionen geben. Nach christlichem Glauben ist diese darin gegründet und verbürgt, dass der Logos – das schöpferische Wort, die Vernunft Gottes – die Schöpfung trägt und durchwaltet. Darauf hat Papst Benedikt XVI. in seiner viel beachteten Vorlesung, die er am 12. September an seiner alten Wirkungsstätte in Regensburg gehalten hat, so nachdrücklich hingewiesen. Keineswegs ging es ihm darum, wie manche meinten, der Vernünftigkeit des christlichen Glaubens die fehlende Vernünftigkeit anderer Religionen – namentlich des Islam – entgegenzusetzen. Vielmehr ist hier darauf angesprochen, dass es auf Seiten aller Religionen der Reflexion auf die universale Verbindlichkeit der Vernunft bedarf, die somit auch die Religionen verbindet. Die Antworten auf die Frage nach der Vernunft und nach der Vernunft der Religion werden gewiss nicht einfach gleichlautend ausfallen können. Auch die Vernunft ist kein Abstraktum, sondern weist ihre spezifischen geschichtlichen Prägungen auf. Gerade so aber ist ein den Religionen gemeinsamer Spannungsraum gegeben, der Gemeinsames und Trennendes umfasst und die Möglichkeit eröffnet, sowohl die theologischen Fragen - vor allem die nach dem Gottesbild - als auch die ethischen Herausforderungen, denen sich die Religionen in unserer Zeit stellen müssen, im Dialog aufzugreifen. – Zum Verständnis der Vorlesung von Papst Benedikt XVI. vgl. den Exkurs am Ende des Textes.
IV.
Diese Überlegungen gelten letztlich für alle Religionen. Dennoch steht das Christentum zu den verschiedenen Religionen der Welt in unterschiedlicher Nähe, was für den Dialog nicht ohne Auswirkungen bleiben kann. Judentum, Christentum und Islam sind dabei in besonderer Weise aufeinander bezogen. Regional und historisch entstammen sie einem gemeinsamen Zusammenhang. Teilweise rekurrieren sie auf die gleichen religiösen Erfahrungen und Erzähltraditionen. Abraham wird von allen als Urvater des Glaubens verehrt. Das Christentum hat die jüdische Überlieferung als erstes Buch seiner Bibel übernommen. Der Islam greift auf die Tradition der Patriarchen und Propheten zurück und erkennt auch Jesus als Propheten an. Alle drei Religionen bekennen sich zum Glauben an Einen Gott, der die Welt erschaffen hat und den Menschen als sich erbarmender Retter, aber auch als Richter gegenübertritt.
Trotz dieser Gemeinsamkeiten der drei Religionen ist und bleibt das Christentum dem Judentum jedoch in einer grundlegend anderen Weise verbunden als dem Islam. Schon Paulus wusste, dass Christen, wenn sie die Treue Gottes zu seinem auserwählten Volk Israel bestreiten, die Grundlage ihres eigenen Glaubens zerstören (vgl. Röm 11). Die Kirche ist durch ein untrennbares Band mit dem Judentum verbunden. Sie wurzelt konstitutiv im Judentum. Die Herkunft Jesu aus dem Judentum ist nicht zufällig, sondern bestimmt seine – und damit auf bestimmte Weise auch der Christen – Identität. Jesu Gott ist der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs – der Gott des auserwählten Volkes. Kein anderer ist der Gott der Christen. Die Katholische Kirche ist heute überzeugt, dass der Bund Gottes mit dem Volk Israel durch den in Christus begründeten „neuen Bund“ nicht aufgehoben ist. Dies hat auch Auswirkungen auf die Frage der so genannten „Judenmission“. So überrascht es auch nicht, dass Papst Johannes Paul II., der unendlich viel für ein neues Verhältnis der Kirche zum Judentum getan hat und dabei mit großer Eindringlichkeit auch von den Verbrechen gesprochen hat, deren sich Christen im Laufe der Zeiten an Juden schuldig gemacht haben, diese als die „älteren Brüder“ der Christen bezeichnen konnte.
Ein solches Verwandtschaftsverhältnis besteht zwischen Christentum und Islam nicht. Zwar gibt es eine Nähe zwischen beiden Religionen (vgl. Nostra aetate, Art. 3), die schon daraus resultiert, dass Mohammed seine Lehre in Auseinandersetzung mit der Kirche formulierte und dabei den Anspruch erhob, die Verkündigung Jesu von Verfälschungen der Christen zu reinigen. Die Beziehung zum Islam kann aber für die Kirche niemals eine konstitutive, theologisch im eigentlichen Sinne grundlegende Bedeutung erlangen. Das ist der entscheidende Unterschied.
V.
Allen drei Religionen gemeinsam ist die Verehrung des Abraham (in der muslimischen Tradition Ibrahim genannt). Religionsgeschichtlich markiert er die Entstehung des Monotheismus, des Glaubens an den Einen und einzigen Gott. Sowohl die Bibel als auch der Koran berichten, wie sich Abraham mit den „Götzen“, den vielen Göttern, die in seiner Familie und Umgebung verehrt wurden, auseinander setzte. Für die Überlieferung wesentlich wurde die unbedingte Bereitschaft Abrahams, sich dem Wort des ihn ansprechenden Einen Gottes bedingungslos anzuvertrauen und zu unterwerfen. Einen besonders dramatischen Ausdruck findet dies darin, dass er dem Auftrag Gottes folgend sogar seinen Sohn Isaak (in der muslimischen Tradition möglicherweise Ismael, den Stammvater der Araber) zu opfern bereit ist – eine vielschichtige Erzählung, die auch vom Ende des Menschenopfers in den monotheistischen Religionen handelt. Gerade als „Vater des Glaubens“, an dem ansichtig wird, was Glauben bedeutet, gehört Abraham so zum Gemeinsamen der jüdisch-christlichen und der muslimischen Tradition. Papst Johannes Paul II. hat dies 1985 in einer Rede vor jungen Muslimen in Casablanca in die Worte gefasst: „Abraham ist für uns ein Modell des Glaubens an Gott, der Hingabe an seinen Willen und des Vertrauens in seine Güte.“
Für das Gespräch von Juden, Christen und Muslimen ist Abraham aber nicht nur von Belang, weil die Religionen an ihm ihre Gemeinsamkeit entdecken. An der theologischen Deutung des Abraham werden vielmehr auch Unterschiede der Religionen deutlich, die im Dialog aufgegriffen werden sollten, um ein gemeinsames Verstehen und Lernen zu ermöglichen. In der jüdischen Deutung des Abraham tritt der Gedanke der Wanderung und der Verheißung in den Vordergrund. So heißt es im Buch Genesis (12,1-5): „Der Herr sprach zu Abraham: ‚Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde. Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen. Ein Segen sollst du sein. … Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen’“. Die Religion, das Gottesverhältnis der Menschen, ist damit auf sich verändernde Räume und Zeiten, auf eine Geschichte hin geöffnet. Abraham ist zur Wanderschaft, zur Bewegung gerufen. Auf seinem Weg in eine ihm eröffnete und offene Zukunft will Gott ihm nahe sein.
Anders im Islam. Dort ist die wahre Religion schon Adam, dem ersten Menschen, von Gott vollständig geoffenbart. Etwas inhaltlich Neues, eine neue Gestalt oder gar eine neue Qualität der Begegnung Gottes mit den Menschen ist damit von vorne herein ausgeschlossen. Geschichte bedeutet von daher nicht das Beschreiten neuer Horizonte im Vertrauen auf Gott, der diese Wege begleitet. Sie ist vielmehr charakterisiert durch immer wiederkehrenden Abfall vom monotheistischen Glauben und durch den wiederholten Ruf Gottes, zum Urpakt zurückzukehren. In eben diesem Sinne werden Gestalt und Funktion des Abraham im Koran gedeutet.
Auch zwischen Juden und Christen gibt es Unterschiede in der theologischen Interpretation und heilsgeschichtlichen Einordnung der Gestalt Abrahams. Entscheidend ist, dass aus der Sicht des Neuen Testaments das auf Abraham genealogisch zurückgehende Volk Israel mit dem Christusereignis aufgehört hat, der exklusive Träger der göttlichen Offenbarung zu sein. Das ist gemeint, wenn Johannes der Täufer im Matthäus-Evangelium (3,9) die Phärisäer mahnt: „Meint nicht, ihr könnt sagen, wir haben ja Abraham zum Vater. Denn ich sage euch: Gott kann aus diesen Steinen Kinder Abrahams machen“. Die Segensverheißung an die Völkerwelt, die mit dem Namen Abrahams verknüpft ist, geht mit der Ablehnung Jesu durch die Mehrzahl der Juden auf die Kirche aus allen Völkern und Sprachen über, wenngleich dadurch der Bund mit Israel nicht aufgehoben wird.
In der Frage des Geschichtsverständnisses sind sich Juden und Christen hingegen nahe, während Christen und Muslime hier über strukturell unterschiedliche Grundmodelle verfügen. Dies ist alles andere als ein akademisches Thema. Man darf nämlich mindestens vermuten, dass die muslimische Deutung von Geschichte eine produktive Auseinandersetzung des Islam mit der modernen Welt und die Herausbildung einer tragfähigen Synthese zwischen der Moderne und den traditionellen Orientierungen in den islamisch bestimmten Ländern jedenfalls erschwert. In diesen Zusammenhang gehören auch das Verständnis des Korans als geschichtlicher Deutung unzugänglichem Wort Gottes und die Vorstellung von der unabänderlich wörtlichen Geltung des muslimischen Gesetzes, der Scharia.
Ein Dialog zwischen Christen, Juden und Muslimen muss solche grundsätzlichen Fragen aufgreifen. Noch einmal zeigt sich hier, dass gerade der offizielle, amtliche Dialog zwischen den Religionsgemeinschaften sein eigentliches Thema und Ziel verfehlen würde, wenn er sich von bloßer Aktualität leiten ließe. Der interreligiöse Dialog muss seine eigene Agenda und seinen eigenen Rhythmus entwickeln. Er muss als ernsthaftes und in die Tiefe gehendes Gespräch von Glaubenden entwickelt werden – und eben nicht als routinierte Begegnung von Glaubensmanagern, die dem Interessenkalkül der eigenen Gemeinschaft entsprechen und vor dem Forum der Öffentlichkeit punkten wollen. Ein solches bloßes Schauspiel des Dialogs bliebe leer und fruchtlos. Es diente schließlich niemandem.
VI.
Nur ein interreligiöses Gespräch, das sich offen den Grundfragen der Religion stellt, wird auch in der Lage sein, die besonders schwierigen und prekären Probleme aufzugreifen.
Hier ist zunächst die Frage nach der Gewalt zu nennen. Damit kommen wir auch wieder auf die schwierige Aussage von Kaiser Manuel II in der siebten Gesprächsrunde mit dem Perser, wo es um die Ausbreitung des Glaubens durch das Schwert geht. Alle großen Religionen kennen die Versuchung, Gewalt im Namen des Glaubens zu üben oder zu rechtfertigen. Alle sind in der Geschichte dieser Versuchung auch erlegen. Nicht nur im Gespräch mit Muslimen, sondern auch in der kritischen Selbstbefragung, die ein konstitutiver Bestandteil jeden religiösen Lebens ist, werden Kirche und Christen deshalb immer auch die Gewalttendenzen in der eigenen Geschichte offen legen und anerkennen. Das Schuldbekenntnis der Katholischen Kirche, das Papst Johannes Paul II. im Jahr 2000 abgegeben hat, spricht hier eine klare und unmissverständliche Sprache. Dies vorausgesetzt und ohne falsche Anklagen, Besserwisserei und Dünkel müssen wir unsere muslimischen Gesprächspartner dann aber auch damit konfrontieren, dass in der heutigen Weltsituation vorgeblich religiös motivierte und religiös legitimierte Gewalt ein Phänomen darstellt, das sich vorwiegend – wenngleich nicht ausschließlich – am Islam festmacht. Natürlich lassen sich viele Gründe für die Unruhe benennen, die die Länder des so genannten „Größeren Mittleren Ostens“ (vom Magreb bis nach Pakistan und Indonesien) ergriffen hat – eine Unruhe, die manche Gewalteruption begünstigt. Aber diese Gewaltträchtigkeit der Verhältnisse erklärt aus sich heraus ja nicht, warum Gewaltanwendung vielfach religiös begründet wird und dies auch Widerhall in Teilen der muslimischen Gesellschaften findet. Dies festzustellen, bedeutet nicht, mehr als eine Milliarde Muslime unter den Generalverdacht zu stellen, mit den Dschihadisten zu sympathisieren und Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung mit den „Ungläubigen“ und zur Ausbreitung des Islam zu akzeptieren. Niemand, der in der Kirche Verantwortung trägt, macht sich eine solche Unterstellung zueigen. Aber es muss gleichwohl gefragt werden, inwieweit in der heutigen Gewaltproblematik der muslimischen Religion die theologische Tradition des kämpfenden und herrschenden Islam, die mit einer gewissen Ungebrochenheit die Zeiten überdauert zu haben scheint, eine Rolle spielt. Und inwieweit erschwert – auch dies muss man fragen – die Grundgeschichte des Islam, die den Propheten Mohammed nicht nur als Religionsstifter, sondern auch als Feldherrn und Herrscher zeigt, bis heute eine Entfaltung gewaltkritischer Tendenzen des Islam?
VII.
Der zweite schwierige Themenkomplex, der dem interreligiösen Dialog aufgegeben ist, betrifft die Religionsfreiheit und die Verfasstheit des modernen Staates. Beides gehört eng, ja unauflöslich zusammen. Die Freiheit der Religion – und zwar als positive und als negative Religionsfreiheit: als Freiheit zu glauben und als Freiheit, nicht zu glauben – nämlich begründet nicht nur einen autonomen, von Vorgaben des Staates freien Raum des Individuums und der Religionsgemeinschaften, sondern damit zugleich auch ein Verständnis des Staates, das nicht von einer bestimmten Religion definiert ist.
Natürlich sind die hier angesprochenen Zusammenhänge weitaus komplizierter. Religionen prägen Kulturen, und Kulturen bestimmen die konkrete Gestalt von Gesellschaften und Staaten. Auch ist die Autonomie von Religionen und Staat nicht notwendigerweise eine wechselseitig gleichgültige oder gar feindselige. Es gibt eine Vielzahl kooperativer Formen, in denen das Verhältnis von Staat und Religionen auf ein gedeihliches Zusammenwirken im Interesse der Menschen ausgerichtet ist. Deutschland bietet dafür ein gutes Beispiel. Die Autonomie der Religion gegenüber dem Staat – und dies bedeutet auch: die Freiheit aller religiösen Bekenntnisse – wie des Staates gegenüber der Religion bleibt jedoch, all dessen ungeachtet, die Grundachse jeder modernen Gesellschaft. Es bedarf keiner ins Detail gehenden Analyse, um festzustellen, dass sich die islamische Welt insgesamt mit diesem Begriff der Freiheit und damit auch mit dem gesamten Konzept der Menschenrechte außerordentlich schwer tut, wenngleich sich die Verhältnisse in den einzelnen muslimisch geprägten Staaten durchaus sehr unterschiedlich darstellen. Auch dies muss Thema des interreligiösen Dialogs sein.
Wiederum geht es dabei nicht darum, christliche (oder gar westliche) Überlegenheit vorzuführen. Stattdessen sollte die schwierige Geschichte, die das europäische Christentum mit der neuzeitlichen Idee der Freiheit verbindet, offen auch im Gespräch mit den Muslimen dargestellt werden. Manches Argument, das heutige Muslime gegen die modernen Freiheitsrechte ins Feld führen, ist uns auch aus der Geschichte des Christentums (und zumal auch aus der Katholischen Kirche) bis weit ins 19. Jahrhundert hinein geläufig: die Sorge vor um sich greifender Dekadenz, einem rein individualistischen Gebrauch der Freiheit oder auch vor einem massenhaften Abfall vom Glauben.
Dennoch muss man auch hier tiefer bohren. Die Antwort auf die Frage, ob der heutige Islam im Sinne der Moderne freiheitsfähig ist, hängt auch davon ab, wie sich Muslime zum traditionellen Konzept der Einheit von Religion und Gemeinwesen und zum Gedanken der Herrschaft des Islam (mit entsprechend minderen Rechten der Angehörigen aller anderer Religionen) verhalten. Die Vielzahl unterschiedlicher Herrschaftsformen, die die islamische Welt über die Jahrhunderte hinweg hervorgebracht hat, die auch in der Geschichte des Islam hervorgetretenen herrschaftskritischen Tendenzen und die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Bemühungen mancher Gelehrter um eine muslimische Aufklärung geben Anlass zu der Hoffnung, dass in diesen Fragen Bewegung möglich ist, auch wenn heute manches in eine andere Richtung zu deuten scheint.
VIII.
In einem kurzen Beitrag wie diesem muss vieles ungesagt bleiben. So konnten auch die vielen guten Beispiele eines gelingenden alltäglichen Zusammenlebens und auch gemeinsamen Handelns von Christen, Muslimen und Juden hier nicht angemessen gewürdigt werden. Wir alle brauchen jedoch diese Hoffnungszeichen für eine bessere Zukunft. Auch für theologische und offizielle Begegnungen der religiösen Repräsentanten sind sie eine wichtige, ja unverzichtbare Grundlage. Beispielhaft möchte ich deshalb auf ein Projekt hinweisen, das die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen, der Zentralrat der Juden, der Zentralrat der Muslime und die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB) gemeinsam in Deutschland durchführen. Es trägt den Titel „Weißt Du, wer ich bin?“ und unterstützt auf der Basisebene die Begegnung von Gruppen und Menschen aus den verschiedenen Religionsgemeinschaften. Das Motto dieses Projektes darf auch als Zielperspektive für das Zusammenleben und den Dialog der Religionen hierzulande und weltweit verstanden werden: „Verbindendes entdecken, Unterschiede respektieren, füreinander einstehen, gemeinsam handeln“.
Nicht zufällig spielt auch im Zweiten Vatikanischen Konzils die Abrahamgestalt eine wichtige Rolle, nicht nur in „Nostra aetate“ (Art. 3), sondern auch in anderen wichtigen Dokumenten, z.B. in den Dokumenten „Dei verbum“ (Art. 3), „Presbyterorum ordinis“ (Art. 22) und in der Kirchenkonstitution „Lumen gentium“. Dort heißt es in Art. 16: „Der Heilswille (Gottes) umfasst aber auch die, welche den Schöpfer anerkennen, unter ihnen besonders die Muslim, die sich zum Glauben Abrahams bekennen und mit uns den einen Gott anbeten, den barmherzigen, der die Menschen am jüngsten Tag richten wird.“ Schließlich darf auch noch Papst Johannes Paul II. angeführt werden, der in seinem „Römischen Triptychon“, veröffentlicht mit einer Einführung von Joseph Kardinal Ratzinger, den dritten Teil überschreibt „Der Berg im Lande Morija“. Dort heißt es:
„Wenn wir heute zu jenen Orten pilgern,
von denen Abraham einst auszog,
wo er die Stimme vernahm, wo sich die Verheißung erfüllte,
so deshalb,
um an der Schwelle zu stehen –
und zum Ursprung des Bundes zu gelangen.“
***
Das Thema von Papst Benedikt XVI. war nicht dem Islam gewidmet, sondern einem Problem, das den Theologen Joseph Ratzinger seit dem Beginn seiner akademischen Lehrtätigkeit an den Universitäten im Jahr 1959 beschäftigte, nämlich das Verhältnis von Glaube und Vernunft. Aber nun ergab sich ein Zusammenhang mit der Klärung des Verhältnisses zwischen dem Christentum und den nichtchristlichen Religionen. Die Anführung eines Satzes aus einem Dialog zwischen dem byzantinischen Kaiser Manuel II. Palaiologos (1391-1425) und dem persischen, also muslimischen Gelehrten Mudarris war zur Durchführung des genannten Themas gewiss nicht zwingend notwendig, aber einige Formulierungen aus diesem Dialog des 14. Jahrhunderts (wohl 1391, ausformuliert zwischen 1394 und 1402) haben den Papst im Zusammenhang seiner Aufgabe, wie er sagte, so „fasziniert“, dass er sie zum „Ausgangspunkt“ für seine Überlegungen machte. Ausdrücklich sagt er auch, dass die erwähnte Aussage „im Aufbau des Dialogs eher marginal“ sei.
Der Text stammt aus einem theologischen Streit, vor allem der Byzantiner mit dem Islam, den wir heute kaum mehr kennen. Der gesamte Dialog erstreckt sich in 26 Gesprächsrunden über den ganzen Bereich des von Bibel und Koran umschriebenen Glaubensgefüges und bezieht sich vor allem auf das Gottes- und Menschenbild des Islam und des Christentums, besonders aber auch auf das Verhältnis „Altes Testament / Neues Testament / Koran“. Die groß angelegte Apologie ist in der ersten Hälfte gegenüber dem Islam eher kritisch-offensiv, in der zweiten Hälfte geht es mehr um eine positive Begründung des christlichen Glaubens. Aufschlussreich ist auch die literarische Form eines gewiss kämpferischen Dialogs, die aber zeigt, dass man auch von muslimischer Seite durchaus der wechselseitigen Argumentation mächtig war. In der schon genannten Edition von A. Th. Khoury geht es nur um die siebte Gesprächsrunde bzw. Kontroverse. Was uns heute überraschend vorkommen mag, ist die Tatsache, dass der byzantinische Kaiser Manuel II. zu den gebildetsten Herrschern und den interessantesten Theologengestalten aus Byzanz gehört. Er gilt aber auch als „einer der ritterlichsten Erscheinungen auf dem byzantinischen Kaiserthron“ . Dem Kaiser ging es um die innere Überlegenheit des Christentums. Der Dialog hat eine große Bedeutung in der Geschichte der griechischen Texte bezüglich des Islam. Er gehört zu den umfangreichsten Schriften dieser Art überhaupt.
Nun muss man auch den „Sitz im Leben“ dieses Dialogs verstehen. Kaiser Manuel II. stand damals unter allergrößtem Druck. Er verspürte die ganze Wut und Wucht des Sultans und seiner Macht und musste schwere Verluste hinnehmen. Die Schärfe der Äußerung ist also zweifellos auch durch die damalige militärische Lage von Byzanz bedingt, das im Endkampf gegen die muslimischen Türken stand und ja auch nur wenige Jahrzehnte später unterging (1453). Mehrfach suchte der Kaiser westliche Hilfe – umsonst. Der Papst weist nur ganz knapp auf diesen wichtigen „Sitz im Leben“ hin, indem er im Blick auf die Ausführungen des Kaisers von einer „erstaunlich schroffen Form“ spricht. Dabei geht es im Dialog zunächst vor allem um die moralische Ordnung und den Lebensstil. Der Islam sieht dieses „Gesetz“ in dreifacher Stufung: Gleichsam unten ist das Gesetz des Mose mit vielen Unvollkommenheiten, dann das Gesetz Jesu Christi und endlich als Höhepunkt das Gesetz Mohammeds. Zwar habe das Christentum manches gemeinsam mit dem Islam, wie z.B. das Gebet, das Fasten und manche anderen religiösen Vollzüge, aber die Lebensordnung des Propheten sei prinzipiell überlegen, nicht zuletzt weil sie die menschliche Schwäche ernster nehme und damit auch praktischer sei. Das Christentum vertrete unrealistische Exzesse: wie z.B. die Familie zu hassen, die Feindesliebe, Armut in Verbindung mit Seligkeit, aber auch Jungfräulichkeit und Ehelosigkeit. Im Übrigen tadelt der Muslim die Juden, weil sie Jesus zurückgewiesen hätten (vgl. 7,3.5.61). Aber auf keinen Fall dürfe man Jesus einen „Sohn Gottes“ nennen.
Das Niveau ist also keineswegs primitiv, wie die Kontroverse um die Papst-Vorlesung manchmal nahe zu legen scheint. Der persische Gelehrte ist durchaus zur Diskussion fähig. Dem Kaiser bescheinigt die Forschung Lauterkeit, Kenntnis in theologischen Fragen und ein abgeklärtes Urteil. Ja, es ist trotz der Verbindung mit heftigeren Vorgängern von „neuen Tönen“ beim Kaiser die Rede. „Er geht auf seinen Gegner ein und hört ihm zu; er lässt ihn wirklich zu Wort kommen und seine Position in extenso darlegen und Manuel macht den Versuch, ihm gerecht zu werden, er lässt sich Zeit für die Antwort und die Antwort hält Sache und Person auseinander.“ H.-G. Beck spricht bei Manuel II. von einem „ungeheuren Fortschritt gegenüber früheren Jahrhunderten“ . So kommt ein anderes Standardwerk zu Byzanz zu dem Urteil, Manuels Auseinandersetzung „stellte die gründlichste Widerlegung der Lehre des Islams, die in byzantinischer Zeit geschrieben wurde, zusammen“. Auch wenn uns die noch genauer zu nennenden Aussagen etwas schockieren, so dürfen wir das intellektuelle Niveau dieser Auseinandersetzung keineswegs unterschätzen.
Worum geht es? Der Kaiser kommt auf das Thema des Heiligen Krieges zu sprechen, bis heute eines der großen heißen Eisen im Verständnis des Islam. Er kennt natürlich die Sure 2,256 „Kein Zwang in Glaubenssachen“, aber er kennt auch die später entstandenen Bestimmungen über den Heiligen Krieg (vgl. Sure 9,29.36.73.111). In diesem Zusammenhang geht er angesichts des überlegenen Pathos seines Gesprächspartners sehr direkt auf die zentrale Frage nach dem Verhältnis von Religion und Gewalt zu und sagt: „Zeig mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat, und da wirst du nur Schlechtes und Inhumanes finden wie dies, dass er vorgeschrieben hat, den Glauben, den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten.“ (7,2,c, Edition Khoury 142/143) Der Kaiser begründet dann eingehend, dass eine Verbreitung des Glaubens durch Gewalt im Widerspruch zum Wesen Gottes und zum Wesen der Seele steht. „Gott hat kein Gefallen am Blut, und nicht vernunftgemäß („syn logo“) zu handeln ist dem Wesen Gottes zuwider. Der Glaube ist Frucht der Seele, nicht des Körpers. Wer also jemanden zum Glauben führen will, braucht die Fähigkeit zur guten Rede und ein rechtes Denken, nicht aber Gewalt und Drohung.“ (7,3 b+c, Khoury 144/145)
An dieser Stelle muss man die konkrete Situation im Dialog beachten und darf den in Frage stehenden Satz nicht aus dem Kontext reißen. Man muss sehen, dass der Kaiser Manuel II. vom Überlegenheitsbewusstsein der Muslime ausgeht, das wir bisher vielleicht zu wenig beachtet haben. Es besteht darin, „dass sie (die Religion des Islam) in ihren Anhängern ein Gefühl absoluter religiöser Überlegenheit schaffe. Aus diesem Überlegenheitsgefühl und dem phantastischen Selbstbewusstsein des Islam ist jene hartnäckige Weigerung geboren, sich einer anderen geistigen Welt zu öffnen.“ Mudarris begründet sie ja auch konkret mit dem Hinweis auf die drei bereits erwähnten „Gesetze“. An dieser Stelle des Dialogs geht nun Manuel sehr genau und sehr konkret auf dieses Überlegenheitsbewusstsein ein und fragt seinen Partner – gleichsam „ad hominem“ – nach dem Neuen und dem Anstößigen, der Gewalt in Glaubensfragen. Damit trifft der Kaiser, auch wenn die Herausforderung schroff ist, das zentrale Problem Religion-Gewalt.
Ich verfolge jetzt nicht weiter, wie es dem Papst in seiner Vorlesung ganz auf die vernunftgemäße Struktur des Glaubens – dies ist ja sein Thema – in strikter Übereinstimmung mit dem Wesen Gottes ankommt. Für ihn ist wichtig, dass der Christ bei aller Unverwechselbarkeit des Glaubens vernunftgemäß handelt in Entsprechung zum Wesen Gottes. Hier tut sich für den Papst im Blick auf jemand, der so etwas wie eine völlige Willkür Gottes vertritt, „ein Scheideweg im Verständnis Gottes und so in der konkreten Formverwirklichung von Religion auf, der uns heute ganz unmittelbar herausfordert“. Es geht um den so genannten Voluntarismus im Gottesbild.
Nach meinem Empfinden besteht die einzige Schwierigkeit darin, dass Papst Benedikt XVI. die Voraussetzungen und den Hintergrund dieser Aussagen nur kurz streift. Dadurch konnten Missverständnisse entstehen. Aber bei manchen Reaktionen muss man nicht nur mangelnde Information voraussetzen, sondern auch eine absichtliche Fehldeutung unterstellen. Natürlich hat der Islam in der Theologie des Koran auch eine eigene Rationalität, sodass hier einige Differenzierungen notwendig sind. Es gibt gerade in der Bestimmung des Verhältnisses von Vernunft und Offenbarung verschiedene Rationalitätstypen.
Hier handelt es sich nicht um ein simples Missverständnis. Auch der Papst hat sich im Lauf des letzten Jahres, als die katholische Kirche des Entstehens der Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen „Nostra aetate“ vor 40 Jahren gedachte , immer wieder die Kernaussagen in Artikel 3 zum Verhältnis gegenüber dem Islam angeführt: „Mit Hochachtung betrachtet die Kirche auch die Muslim, die den alleinigen Gott anbeten, den lebendigen und in sich seienden, barmherzigen und allmächtigen, den Schöpfer Himmels und der Erde, der zu den Menschen gesprochen hat. Sie mühen sich, auch seinen verborgenen Ratschlüssen sich mit ganzer Seele zu unterwerfen, so wie Abraham sich Gott unterworfen hat, auf den der islamische Glaube sich gerne beruft... Da es jedoch im Lauf der Jahrhunderte zu manchen Zwistigkeiten und Feindschaften zwischen Christen und Muslim kam, ermahnt die Heilige Synode alle, das Vergangene beiseite zu lassen, sich aufrichtig um gegenseitiges Verstehen zu bemühen und gemeinsam einzutreten für Schutz und Förderung der sozialen Gerechtigkeit, der sittlichen Güter und nicht zuletzt des Friedens und der Freiheit für alle Menschen.“ Man braucht aber auch nur die Ansprache des Papstes bei der Begegnung mit Vertretern einiger muslimischer Gemeinschaften im Erzbischöflichen Haus in Köln am 20. August 2005 (Weltjugendtag) nachzulesen, um zu sehen, wie viele Stellungnahmen zu seiner angeblichen Mentalität nicht nur schlechthin haltlos sind, sondern das Denken des Papstes total in das Gegenteil verkehren.
In der Tat besteht kein Zweifel, dass die Frage nach der Gewalt, vor allem bezüglich des Menschen- und Gottesbildes, im Dialog der Religionen eine große Rolle spielt, nicht zuletzt im Blick auf das Gespräch mit dem Islam.
***
Hier sollte zunächst nur das „Papst-Zitat“ vom 12. September 2006 interpretiert werden. Der Papst hat selbst – Erklärungen der Mitarbeiter gingen voraus – mehrfach Missverständnisse korrigiert und bedauert. Diesen Worten ist nichts hinzuzufügen. Bereits im Text der Vorlesung vom 12. September 2006 wurde am Ende angekündigt, dass der Papst sich vorbehält, „diesen Text später mit Anmerkungen versehen zu veröffentlichen. Die vorliegende Fassung ist also als vorläufig zu betrachten.“ Er hat vermutlich wegen der intensiven Diskussion dieses Vorhaben rasch in die Tat umgesetzt und am 11. Oktober diese überarbeitete Fassung vorgelegt.
Der Papst klärt dabei seine Ausführungen in zwei Anmerkungen:
1.„Dieses Zitat (gemeint ist das erste Manuel-Zitat) ist in der muslimischen Welt leider als Ausdruck meiner eigenen Position aufgefasst worden und hat so begreiflicherweise Empörung hervorgerufen. Ich hoffe, dass der Leser meines Textes sofort erkennen kann, dass dieser Satz nicht meine eigene Haltung dem Koran gegenüber ausdrückt, dem gegenüber ich die Ehrfurcht empfinde, die dem heiligen Buch einer großen Religion gebührt. Bei der Zitation des Texts von Kaiser Manuel II. ging es mir einzig darum, auf den wesentlichen Zusammenhang zwischen Glaube und Vernunft hinzuführen. In diesem Punkt stimme ich Manuel zu, ohne mir deshalb seine Polemik zuzueignen.“
2.Im Blick auf das zweite Manuel-Zitat (zum Zusammenhang zwischen Glaube und Vernunft): „Einzig um dieses Gedankens willen habe ich den zwischen Manuel und seinem persischen Gesprächspartner geführten Dialog zitiert. Er gibt das Thema der folgenden Überlegungen vor.“
Es lohnt sich, auch sonst den durchgesehenen Text vom 11. Oktober mit der Fassung vom 12. September zu vergleichen. So heißt es z.B. zuerst im Blick auf Manuels Anfrage zum Heiligen Krieg, sie erfolge „in erstaunlich schroffer, uns überraschend schroffer Form“, während es in der späteren Version heißt: „in erstaunlich schroffer, für uns unannehmbar schroffer Form“.
Eine neue Situation entstand, als am 14. Oktober 2006, veröffentlicht im „Islamica Magazine“ (Los Angeles), ein „Offener Brief“ von 38 Islam-Gelehrten bekannt wurde (datiert vom 12. Oktober, also genau einen Monat nach der Regensburger Vorlesung). Er schlägt ganz andere Töne an und ist ein hoffnungsvolles Zeichen für den künftigen Dialog. Dieser Text bedarf der sorgfältigen Analyse, was freilich hier nicht mehr geschehen kann. Gewiss bleibt auch danach die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Gewalt zentral.
(c) Karl Kardinal Lehmann
Im Orginal sind eine Reihe von Fußnoten enthalten.
Dokumentation:
Die Vorlesung von Papst Benedikt XVI. in Regensburg am 12.9.06
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz