Christliche Weltverantwortung zwischen Getto und Anpassung

Vierzig Jahre Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“

Datum:
Dienstag, 25. Januar 2005

Vierzig Jahre Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“

Vorlesung in der Katholischen Privatuniversität Linz am 25. Januar 2005 in Linz

Das Zweite Vatikanische Konzil hat eine vielfache Öffnung über die Römisch-Katholische Kirche hinaus vollzogen. Man kann im Blick auf die verabschiedeten Beschlüsse von drei besonders ausgeprägten Bewegungen dieser Öffnung sprechen: Zuwendung zu den Quellen des christlichen Glaubens, Begegnung mit den nichtkatholischen Christen und Aufnahme des Dialogs mit der „Welt”. Die Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute war der letzte Beschluss dieser Kirchenversammlung. Sie war und ist das umfangreichste Dokument, das je ein Konzil verabschiedet hat. Sie ist in der Fragestellung und Methode ungewohnt und neu, sodass die Beratung und Formulierung besonders schwierig war. Die Pastoralkonstitution „Gaudium et spes” hat wohl auch am meisten Kritik von allen Konzilstexten erfahren, schon in der Aula des Konzils und erst recht in der Zeit nach 1965. Nicht wenige haben dieses Dokument, das unter großem Zeitdruck erarbeitet und verabschiedet wurde, verantwortlich gemacht für die tiefgreifende „Krise”, die das Leben der Kirche in der Folgezeit erschüttert hat.

 Allein schon diese unterschiedlichen Wertungen sind Grund genug, um sich nach 40 Jahren diesem Dokument näher zuzuwenden. Im Folgenden soll dies in vier Schritten geschehen:

 I.Das Werden der Pastoralkonstitution
II.Innere Risse im Grundgefüge von „Gaudium et spes”
III.Die nachkonziliare „Krise” in der Weltzuwendung
IV.Neuinterpretation unter veränderten Vorzeichen

 Der Text der Konstitution muss dabei im Wesentlichen als bekannt vorausgesetzt werden , wenngleich in den ersten beiden Abschnitten grundlegende Inhalte zur Sprache kommen.

 I.Das Werden der Pastoralkonstitution

 Das Entstehen der Pastoralkonstitution hängt engstens mit der Geschichte des Konzils selbst zusammen . Dieses Dokument war von der Vorbereitungskommission nicht geplant, obgleich diese 70 so genannte „Schemata“ erarbeitet hatte. Dieser Beschluss war der einzige Entwurf, den Papst Johannes XXIII. ausdrücklich gewünscht hatte . Es ist darum nicht verwunderlich, dass die Arbeit an diesem Text nur langsam in Gang kam. Als am Ende der ersten Sitzungsperiode im Dezember 1962 die 70 Entwürfe auf 17 reduziert wurden, hieß das letzte Vorhaben „über die wirksame Präsenz der Kirche in der Welt“ . Darum hatte es lange den Namen „Schema XVII”.

 Das Vorhaben gehörte zu den Grundaufgaben des Konzils. Bald zeigte sich eine fundamentale Korrelation zwischen der Meditation der Kirche über ihr eigenes Wesen und ihrer Öffnung auf die Fragen und Nöte der gegenwärtigen Welt hin. So war schon zu einem frühen Zeitpunkt offenbar geworden, dass die beiden großen Themen „Ecclesia ad intra” und „Ecclesia ad extra” – so schon im ersten Programm von Kardinal Suenens – einander wie Brennpunkte einer Ellipse fordern und brauchen .

 Das genannte Spannungsverhältnis war nicht ohne Probleme, aber es war typisch für die Situation: Man musste von einer Kirche ausgehen, die sich in den Kämpfen und Schwierigkeiten der Neuzeit durch Verteidigungsstellung und Rückzug einigermaßen unversehrt bewahrt hatte, dafür aber die lebendige Begegnung mit der jeweiligen zeitgenössischen Kultur und den gesellschaftlichen Fragen eher eingebüßt hatte. Der neuzeitliche Katholizismus war eine feste Burg geworden, die im Inneren der Kirche den wahren Glauben und eine organisatorische Schlagkraft bewahrte, dennoch aber von den großen kontroversen Lebensproblemen der Moderne sich eher abgeschnitten empfinden musste . Im Grunde kann man fast alle großen Herausforderungen zwischen Glaube und Kultur, Kirche und Gesellschaft in der Neuzeit als elementare Konfliktsituationen zwischen Bewahrung der Identität und Dialogfähigkeit mit der Welt beschreiben, angefangen vom Galilei-Konflikt bis zu den erbitterten Kämpfen um das Heimatrecht der kritischen Methode in der Theologie während der Modernismus-Krise zu Beginn des 20. Jahrhunderts Jahrhunderts.

 So hatten sich bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil in immer neuen Schüben viele Konflikte angestaut: Verhältnis zur Demokratie, Gewährung von Religionsfreiheit, Antwort auf soziale Fragen, neue philosophische Probleme, Rolle des mündigen Laien, Naturwissenschaften und Theologie, Einschätzung der Technik und Verhältnis zur modernen Zivilisation. Wenn zwischen den verschiedenen Bereichen nicht mehr unmittelbare Feindschaft herrschte, so bestimmten Unwissenheit, Gleichgültigkeit und Misstrauen das Verhältnis. Es war eigentlich ganz unkatholisch, dass ein Dualismus zwischen einer sich sorgsam abschließenden Kirche und einer sich selbst überlassenen Welt die Grundfigur des Verhältnisses bestimmte. Hans Urs von Balthasar hat schon viele Jahre vor dem Konzil von einer „Schleifung der Bastionen” (Einsiedeln 1952) gesprochen und damit zehn Jahre zuvor genau das Hauptproblem des geplanten Konzilsdokumentes getroffen.

 Die Idee, das Ganze der aktuellen Fragen christlicher Orientierung in der Welt von heute in einem großen und neuen Entwurf zusammenzufassen, erwies sich von Anfang an als ein ungewöhnlich gewagtes Unternehmen. Einer fast narzisstischen Binnenorientierung sollte missionarische Öffnung entgegengesetzt werden. Statt autoritärer Verfügung setzte man auf Dialog. An die Stelle des Pochens auf eigene Rechte und Privilegien trat Dienst. Soziale Zweckmäßigkeit sollte eingegrenzt werden durch den Vorrang des Personalen. Ein abstrakter Naturbegriff sollte nicht mehr vorherrschend sein, sondern der unbefangene Blick auf die konkrete Wirklichkeit des Menschen und der Geschichte. Besonders heikle Diskussionsthemen waren das Verhältnis der Kirche zum technischen Fortschritt und die Beziehung der christlichen Hoffnung zur fortschreitenden Umgestaltung der Welt. In diesen Themen sammelte sich in einer bestimmten zeitgeschichtlichen Situation die Frage nach der Versöhnung von Christentum und Modernität. Dabei traten die Fragen der Armut in der so genannten Dritten Welt und der Friedenssicherung für die Menschheit in den Vordergrund. Von der Kirche her musste die Beziehung zur zeitgenössischen Kultur und zu den modernen Wissenschaften neu formuliert werden.

 Der Vorbereitungsprozess dieses Entwurfs war jedoch aus sehr vielen Gründen ungewöhnlich schwierig. Die Probleme erwuchsen zunächst dem Zweifel, ob denn ein ökumenisches Konzil, das ja in der Tradition der Kirche gewöhnlich nur über dringend aufgegebene Sachverhalte des Glaubens bzw. der Lehre und der Kirchendisziplin entscheidet, sich mit sehr umstrittenen gesellschaftlichen, politisch relevanten und kulturellen Fragen beschäftigen dürfte, und dies notwendigerweise mit lehramtlicher Autorität. Es gab kaum Modelle für ein solches Dokument. Am ehesten kann man den gewandelten Stil der neueren Enzykliken der Päpste Johannes XXIII. „Pacem in terris“ (1963) und Paul VI. „Ecclesiam suam“ (1964) zum Vergleich heranziehen. Man konnte überhaupt schon die Vorfrage stellen, woher denn das Lehramt die Kriterien aus den Quellen kirchlichen Sprechens nehmen soll, um in kontroversen und konflikthaltigen Auseinandersetzungen der heutigen Welt bindende Orientierungen zu geben. Zur Lösung solcher Fragen war auch die theologische Wissenschaft nicht gerade ausreichend vorbereitet. Einerseits war eine verhältnismäßig abstrakte und geschichtsenthobene Betrachtung der menschlichen „Natur” vorherrschend, andererseits verlangte nicht nur die biblische Denkweise mit neuen Ergebnissen Berücksichtigung, sondern auch empirische Daten drängten sich in den Vordergrund. So entstand ein gewisses Ringen um die Integration von dogmatischen Überlegungen und empirischen Erkenntnisweisen. Die moraltheologischen Themen standen gewissermaßen zwischen diesen Spannungen. Auch auf einem anderen Gebiet tat man sich trotz besten Willens schwer: Man redete zwar über zentrale Belange der modernen Welt, aber ziemlich spät zog man wenige ernsthaft kompetente Laien zur Beratung der Entwürfe heran.

 Diese Aporien zeigten sich bereits von Anfang an. Die Gemischte Kommission aus den jeweils selbstständigen Kommissionen für die Glaubens- und Sittenlehre und für das Laienapostolat war zunächst mit 60 Mitgliedern viel zu groß. Die meisten und wichtigsten Mitglieder der Theologischen Kommission waren in den ersten Konzilsperioden durch die intensive Arbeit an den Konstitutionen „Lumen gentium” und „Dei Verbum” sowie am Ökumenismus-Dekret „Unitatis redintegratio” so in Anspruch genommen, dass die gleichzeitige Sorge um diese besonders schwierige Aufgabe zurücktrat. Man tut auch den großen Theologen des Konzils kein Unrecht an, wenn man einerseits auf eine gewisse Ermüdungserscheinung aufmerksam macht und andererseits ein gewisses Misstrauen feststellt, das von Anfang an gegenüber der theologisch etwas weniger tiefen Orientierung jener Mitglieder und auch Verfasser bestand, die wissenschaftlich eher empirisch ausgerichtet waren. Gerade die deutschsprachige Theologie, die mit den französischen Fachleuten in der Erarbeitung der großen dogmatischen Texte federführend war, hatte zwar eine korrektive Funktion im Blick auf die einzelnen Textstufen, war aber viel weniger produktiv beteiligt. Die Front zwischen „Progressiven” und „Konservativen” (Integralisten, Kurialen) galt nicht mehr in der bisherigen Konstellation. Die Gruppe der Fortschrittlichen begann sich selbst zu differenzieren. Neue Fronten, die erst in der Zeit nach dem Konzil sich vollends formieren sollten, traten langsam in Erscheinung.

 Alle diese Schwierigkeiten konnten nicht verhindern, dass im Ganzen nach vielen Textstufen ein überraschend guter und differenzierter Gesamttext zu Stande kam. Die Überarbeitungen waren jeweils sehr einschneidend. Die verschiedenen Stationen der Erarbeitung des Textes sind mit den Namen Mechelen, Rom, Zürich und Ariccia verbunden. In der Zwischenzeit hieß das Dokument „Schema XIII”, denn die Zahl der Beschlüsse musste nochmals reduziert werden. Im April 1965 tauchte zum ersten Mal der Begriff „Pastoralkonstitution” auf, der in der wichtigen Anm. 1 des Vorwortes erläutert wird. Von der fast unermesslichen Arbeitslast kann man sich ein Bild machen, wenn man allein an die 20.000 Abänderungsanträge denkt, die in der letzten Phase der Überarbeitung des Textes bewältigt werden mussten.

 Schon damals waren einzelne einflussreiche Konzilsväter erbitterte Gegner gerade dieser Konstitution. Ein Vorspiel der späteren Traditionalisten-Bewegung zeigte sich am Horizont, das man freilich nicht so ernst nahm. Die feierliche Schlussabstimmung ergab am 7. Dezember 1965 – einen Tag vor der feierlichen Schlusssitzung des Konzils – 2309 Ja- gegen 75 Nein-Stimmen. Vielleicht kann man als Synthese einige Sätze aus dem IV. Kapitel des ersten Teils anführen: „Zugleich ist sie (die Kirche) der festen Überzeugung, dass sie selbst von der Welt, sei es von einzelnen Menschen, sei es von der menschlichen Gesellschaft, durch deren Möglichkeiten und Bemühungen viele und mannigfache Hilfe zur Wegbereitung für das Evangelium erfahren kann” (Art. 40). Von besonderer Wirkung erwies sich das Prooemium des Beschlusses mit den Titelworten: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände” (Art. 1).

 II.Innere Risse im Grundgefüge von „Gaudium et spes”

 Trotz mancher Schwierigkeiten und vieler Hindernisse kam das Vorhaben der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute überraschend gut zum Ziel. Der Text hatte gerade in der allerletzten Phase noch gewonnen. Die Presse und das Interesse auch einer kirchlich sonst wenig interessierten Öffentlichkeit haben die Aufmerksamkeit sehr auf diesen letzten Text gelenkt.

 Von besonderem Gewicht ist zweifellos die Tatsache, dass eine dualistische Frontstellung von Kirche und Welt weitgehend überwunden wird und dass im ersten Hauptteil eine knappe, aber an Aussagen reiche christliche Anthropologie (I. Kapitel) versucht wird. Auch sonst sind zweifellos entscheidende Durchbrüche gelungen, die sich vor allem auf die Wertung der irdischen Dinge in ihrer relativen Eigengesetzlichkeit, auf die Zuordnung der technischen Welt zum Leben des Menschen, auf die Lehre von Ehe und Familie sowie auf Aussagen über Krieg und Frieden beziehen. Einzelne Passagen, z.B. über das Verständnis und die Auseinandersetzung mit dem Atheismus, sind auch heute noch längst nicht abgegolten. Hinzufügen lässt sich noch die Betonung von Kultur und Wissenschaft und ihr Verhältnis zur Kirche. In der Pastoralkonstitution liegen auch die Wurzeln für die bis heute immer wichtiger werdende Verteidigung der Würde und der Rechte des Menschen.

 An diesen und vielen anderen Aussagen hat auch die Kirche von heute einen bleibenden Auftrag, der keineswegs erfüllt ist. Man kann sogar mit sehr guten Gründen die These vertreten, dass die wirkliche Aufnahme der Pastoralkonstitution noch gar nicht begonnen hat. Eine weitere Reihe von mehr methodischen Erkenntnissen und Problemen ist durch die Pastoralkonstitution wenn nicht zufriedenstellend gelöst, so doch gleichsam offiziell als Aufgabe markiert worden. Dies gilt zunächst für das Verständnis der „Zeichen der Zeit” und für Kriterien ihrer Beurteilung. Schon Papst Johannes XXIII. hatte bei der Einberufung des Konzils im Jahre 1961 dieses Stichwort gebraucht und damit zum Ausdruck gebracht, dass für die Kirche nicht eine bestimmte Epoche allein maßgebend ist, sondern dass jede Zeit im Lichte des Evangeliums nach den Spuren des Geistes Gottes erforscht werden muss. Allein schon solche Formulierungen zeigen, dass die vieldeutigen „Zeichen der Zeit” nur durch das Einüben in die Unterscheidung der Geister für Glauben und Kirche fruchtbar gemacht werden können. Eine weitere wichtige Weichenstellung ist die Tatsache, dass die Pastoralkonstitution methodisch „von unten” ansetzt und damit Erfahrungen ins Spiel bringt, die sich freilich nicht nur auf die empirisch wahrnehmbare Realität beschränken. Damit war die freilich vom Konzil nicht zu lösende Aufgabe gestellt, sozialwissenschaftliche Erkenntnisweisen mit normativen Grundgegebenheiten des christlichen Glaubens zu vermitteln. Selbst wenn dieses Vorhaben nicht ausreichend geglückt ist, so wird doch damit ein nicht ausreichend eingelöstes Erfordernis festgehalten. Schließlich ist bis heute die Frage einer umfassenden Integration eines erneuerten Naturrechtsdenkens und biblischer Denkformen wenig ernsthaft weiterverfolgt worden, ganz abgesehen von der Vermittlung mit empirisch gewonnenen wissenschaftlichen Einsichten.

 Diese grundsätzliche Bewertung der Pastoralkonstitution muss auch dann aufrechterhalten werden, wenn man ihre Grenzen aufzeigt. Sie sind schon durch den Prozess ihrer Entstehung offenkundig. Die Arbeit litt an der Überlastung vieler Kommissionsmitglieder durch andere Aufgaben; die Vorbereitung war darum weder zeitlich noch sachlich kontinuierlich; man darf auch nicht vergessen, dass kaum Vorarbeiten verfügbar waren; sprachliche Probleme bei der notwendigen Übersetzung in das Latein erschwerten die Beratungen auf allen Ebenen; es gab keine anregenden und vergleichbaren Muster aus der bisherigen lehramtlichen Praxis. Es war nicht leicht, die Zustimmung der Bischöfe zu gewinnen für eine ausführliche Erörterung zahlreicher zeitgebundener und geschichtlich-gesellschaftlich bedingter, wandelbarer Probleme . Schließlich überschritt der Umfang des Dokumentes vermutlich die Grenze, die einem Gremium von zweieinhalbtausend Bischöfen arbeitstechnisch möglich ist. Von einer gewissen Müdigkeit und Überlastung vieler und gerade wichtiger Theologen war schon die Rede. Diese objektiven und strukturellen Mängel haben sich selbstverständlich mannigfach im Dokument niedergeschlagen. Man möchte gerne jenen an der Erarbeitung wesentlich beteiligten Bischöfen- (z.B. M. G. McGrath) Recht geben, die glaubten, ein weiteres Jahr der Beratung wäre im Blick auf eine Ausreifung des Textes, zur Ausfeilung einzelner Formulierungen und zur Verstärkung der Kohärenz des Ganzen notwendig gewesen.

 Der Zeitdruck machte sich auch in der nicht ausreichend gelungenen Verbindung mit den anderen Konzilsdokumenten bemerkbar. Vermutlich ist gerade dadurch der notwendige Gesamtkontext der Pastoralkonstitution zu wenig erschlossen worden. So fällt auf, dass die Dimension von Gebet und Gottesdienst und damit auch der Anschluss an die wichtige Liturgiekonstitution fast ganz ausfällt. (Es findet sich nur ein Hinweis auf „Sacrosanctum Concilium“.) Die Verklammerung mit der benachbarten und eng zusammengehörigen Kirchenkonstitution „Lumen gentium” ist bei näherem Zusehen außerordentlich schwach. Die Zahl der 20 Zitate in der Pastoralkonstitution (davon allein die Hälfte im IV. Kapitel des ersten Hauptteils) darf darüber nicht hinwegtäuschen, denn – schon quantitativ gesehen – enthält die um mehr als die Hälfte kürzere Verlautbarung über die Missionstätigkeit der Kirche 50 Zeugnisse aus der Kirchenkonstitution. Viel gravierender ist jedoch der Umstand, dass zwei theologisch hochbedeutsame Dokumente des Konzils überhaupt nicht erwähnt werden, nämlich die Konstitution über die göttliche Offenbarung „Dei Verbum” und das Dekret über den Ökumenismus „Unitatis redintegratio”. Wären die Einsichten dieser Beschlüsse freilich nicht nur dem Buchstaben, sondern dem Geist nach zum Tragen gekommen, so wären die Voraussetzungen für die Sendung der Kirche in die Welt deutlicher geworden und damit auch die Anforderungen an jede christliche Weltverantwortung: Nur eine von ihrer Mitte her erneuerte und gestärkte Kirche kann eine intensivere Sendung in die Welt hinein wagen.

 Natürlich hätte die Integration mit den genannten Texten allein das Sachproblem einer Öffnung der Kirche auf die moderne Welt hin nicht schlechthin lösen können. Dafür sind noch ganz andere Anstrengungen notwendig. Gerade an diesen Bemühungen setzte aber schon vor Konzilsende innerhalb der im Konzil zuständigen Fachleute harte Kritik ein. Es ist nicht zufällig, dass diese sich vornehmlich auf die Stellungnahme zum technischen Fortschritt und überhaupt zur modernen Zivilisation richtet. Man hat eine zu harmlose Identifizierung von technischem Fortschritt und „christlichem Fortschritt” entdecken wollen. Der Prozess der Umgestaltung der Welt durch den Menschen und die Erwartung des Reiches Gottes werden eng miteinander verbunden. An diesem empfindlichen Punkt musste die Öffnung zur Welt hin eine Bewährungsprobe bestehen.

 Ich bin der Meinung, dass man hier die Pastoralkonstitution gerechter beurteilen muss, als es gelegentlich geschieht. Sie weist doch mehr auf die Brüchigkeit der menschlichen Existenz, die Zweideutigkeit des „Fortschritts“ und die Macht der Sünde hin, als vielleicht von früheren Entwürfen her manchem Konzilstheologen in Erinnerung ist. Es gibt durchaus genügend Sperren gegen eine Interpretation im Sinne eines optimistischen Fortschrittsglaubens. Dennoch kann man nicht leugnen, dass eine bestimmte Euphorie des Aufbruchs, die spurenweise auch in den Eröffnungsreden der Päpste zu den jeweiligen Sitzungsperioden zum Ausdruck kommt, und auch Reste einer manchmal etwas naiv wirkenden Fortschrittsgläubigkeit viele Aussagen prägen. Dies war einerseits ein Zeichen neuer Hoffnung, die nicht heute desavouiert werden darf, aber es war irgendwie auch ein Tribut an den Geist der Zeit, wie man aus dem größeren Abstand von 40 Jahren deutlicher sehen kann.

 Anderseits kann man nicht bezweifeln, dass durch die französischen Hauptverfasser des Textes im Zusammenhang einer wohl zu wenig reflektierten Begeisterung für Teilhard de Chardin eine theologische Komponente zur Deutung des technischen Fortschritts hinzukam und sich eng damit verbunden hat: Der fortschreitende Humanisierungsprozess der Welt entspricht der geschichtlich sich entfaltenden Idee des kosmischen Christus. So wurden bei den Aussagen über das Verhältnis von Wohl und Heil, Fortschritt und ewigem Leben, Geschichte und Ewigkeit, Immanenz und Transzendenz die konvergierenden und identifizierenden Aussagen vorherrschend, während die Momente der Differenz eher zurücktraten. Es gelang offensichtlich nicht recht, gleichzeitig mit aller Deutlichkeit auch die Schattenseiten des Fortschritts und die bleibende Zweideutigkeit mancher Entwicklungen beim Namen zu nennen. Dieser Zug ist von der Intention der Pastoralkonstitution her verständlich, denn man wollte die Ressentiments gegen die technische Zivilisation abbauen. Es fehlte jedoch offensichtlich die Kraft, dieses Ja zur Welt so zur Sprache zu bringen, dass man auch unbefangen und nüchtern die Ambivalenz sowie den Rückschritt im Fortschritt festhielt.

 In diesem Sinne hat sich der Zeitdruck, unter dem die Ausarbeitung stand, nachteilig bemerkbar gemacht. Eine tiefere Reflexion auf die eigene Kraft der christlichen Erlösung und des Christusgeheimnisses hätte vor einer etwas voreiligen Versöhnung zwischen Christentum und Moderne bewahren und eine gelegentlich durchschimmernde Verklärung des Technischen verhindern können. Es ist übrigens – was hier zu weit führen würde – aufschlussreich, dass gerade die Beobachter der nicht-katholischen Kirchen vor solchen Gefahren klar warnten . Eine differenzierte Theologie des Kreuzes sucht man vergeblich.

 III.Die nachkonziliare „Krise” in der Weltzuwendung

 Diese Risse im Gefüge der Pastoralkonstitution kann man nicht leugnen. Aber man sollte sie auch nicht negativ überbewerten. Alles kommt darauf an, in diesen Problemen Anzeigen für die weitere Arbeit im Sinne ihrer Lösung zu erblicken. Es wäre fatal, wollte man aus den später wahrgenommenen Mängeln der Pastoralkonstitution die Intention des Vorhabens selbst in Frage stellen. Eine solche Sicht schließt nicht aus, sondern fordert geradezu auf, den Rezeptionsprozess von „Gaudium et spes” kritisch zu verfolgen. Man kann heute die Texte von 1965 nicht mehr naiv lesen, sondern muss sie durch die Wirkungsgeschichte hindurch in ihrer komplexen ursprünglichen Intention und Struktur zu verstehen suchen.

 Dabei muss zuerst die „Dynamik” angesprochen werden, die man oft in das Konzil und seine Dokumente hineingelesen hat. Das ganze Konzil wird von den einen als eine progressive Befreiung von den Mächten des „Traditionalismus“ verstanden und kommt über das Ökumenismusdekret und die Erklärungen über die Religionsfreiheit und die nichtchristlichen Religionen erst zu seiner vollen Entfaltung. Die außerordentliche Aussage des Konzils, die ja aus dem Rahmen konziliarer Verlautbarungen und lehramtlichen Sprechens herausfällt, erscheint als das wahre Ziel dieser Kirchenversammlung. Andere dynamische Faktoren (Öffnung, „Aggiornamento“, Dialog) und bestimmte Zielsetzungen des Konzils (keine Verurteilungen, pastorale Absicht), die zunächst selbstverständlich richtig sind, gelten als flankierende Perspektiven einer solchen Deutung des Textes. Es ist dann auch verständlich, dass die Aussagen der Pastoralkonstitution selbst – in ihrer Mehrschichtigkeit, ihren Absicherungen und Vorbehalten – als „Buchstabe” wenig gelesen und studiert werden; sie erscheinen eher als Richtungsanzeiger im Sinne der beharrlichen Fortsetzung des nun einmal eingeschlagenen Weges. So hat man zwei Dinge unterlassen, die künftig mehr die Rezeption bestimmen müssen, nämlich einmal die Rückbindung an die zentralen Dokumente des Konzils zu erkennen und „Gaudium et spes” mit allen Nebentönen und Vorbehalten, die zu der Pastoralkonstitution gehören, zu lesen.

 Aber eine sicher einseitige Aufnahme der Pastoralkonstitution – nicht ohne Zusammenhang mit deren eigenen Schattenseiten – kann noch nicht das begründen, was man später die „Krise der Weltzuwendung” genannt hat. Ein Text allein schafft solche Veränderungen nicht von sich aus. Jetzt erst zeigt sich, was in der Kirche alles angestaut war. In der modernen Welt haben sich Fermente der Kultur und des gesellschaftlichen Lebens entwickelt, die nun wie ein Wirbelwind durch die geöffneten Türen der Kirche eingedrungen sind. Diese hatte sich so auf Verteidigung und Abwehr eingestellt, dass sie praktisch unfähig war, diese Öffnung zur Welt hin mit der notwendigen Unterscheidung der Geister durchzuführen. Das Getto forderte seinen Preis, indem nämlich in der Auseinandersetzung mit der modernen Welt wenig echte Widerstandskräfte lebendig waren. So resultierte aus der notwendigen Öffnung nicht selten eine ungewollte Anpassung.

 Vieles war in der Kirche angesammelt, wie z.B. die Probleme der Arbeiterbewegung, des Kolonialismus, der historischen und biblischen Kritik, des Modernismus, des Marxismus, der Religionskritik, neuerer philosophischer Fragen. Nicht selten wurden die damit entstandenen Konflikte auf dem Weg der Verwaltung und der Disziplinierung „erledigt”, ohne dass man sich mit offenem Visier den Sachfragen stellte. Diese wurden eher verdrängt, schwelten aber im Inneren der Kirche weiter. Man hat diesen oft verborgenen Gärungsprozess und die Explosivität dieser ungelösten Fragen wahrscheinlich unterschätzt, weil man viel zu sehr auf die monolithische Geschlossenheit des Katholizismus, seine äußeren Erfolge in der Defensive und die formale Autorität des Amtes vertraute. Als aber nun die Schleusen hochgezogen worden sind, flutete das Wasser mächtig herein. Das Eis war geschmolzen, doch das kam eher dem Einbruch eines überstürzten Tauwetters gleich. Zeitgeschichtler haben immer wieder darauf hingewiesen, dass viele spätere Bewegungen der sechziger und siebziger Jahre sich schon in den fünfziger Jahren angekündigt haben (spontane Gruppenbildung, ökumenische Begegnung, philosophische Problemstellungen, liturgische Reformen, Vorrang des Individuums und der Autonomie, Betonung existenzieller Haltungen gegenüber abstrakten Normen und Institutionen usw.). In diesen Ereignissen war auch in der Tat – wenn auch nie in reiner Form – zuviel Wahres und Notwendiges, als dass man ihnen nicht offen begegnen und sich damit mutig auseinandersetzen musste. Jetzt, als man den Dialog mit der Welt begann, zeigte sie ihre ganze Faszination und fesselte manchen, der bisher kein reales Verhältnis zu ihnen gewinnen konnte. Nur so ist es verständlich, dass über Nacht hartgesottene Integralisten plötzlich modern und eng erzogene Konservative fortschrittlich geworden sind.

 Man muss freilich nach den Gründen fragen. Eine wesentliche Ursache für die schwierige Rezeption ist vor allem der außerordentlich einschneidende Umbruch des Jahres 1968. Die Studentenrevolte in Paris erwies sich als ein Faktum von weltweiter Bedeutung, das mit einigen zeitlichen Verschiebungen in Tokio, Rom, Frankfurt und auch in Warschau auftrat. Hier kam etwas zum Vorschein, was wenige Jahre zuvor noch nicht so deutlich zu spüren war. Es ging dabei vor allem um Kritik an jeglicher Institution, an allem, was sich den Menschen auferlegt bzw. aufzwingen will, ohne dass sie einen Einfluss darauf nehmen können. Aber es ist nicht nur Kritik und Zerstörung, sondern hinter diesen Formen der Ablehnung und der Verweigerung, in dieser etablierten Welt mitzuspielen, steht ein weitgefächertes Bündel von Bedürfnissen: Aussteigen aus jeglicher Sklaverei, dafür Gewinn uneingeschränkter Freiheit, Befreiung von der Last der Geschichte und der Autorität, dafür Suche nach unverkürzter Identität; Vernichtung alter Herrschaftsstrukturen, dafür Existenz in einem Prozess wachsender Emanzipation; Auseinandersetzung mit den Interessen der Großmächte (Stichwort: Vietnam, Biafra, Ende des Prager Frühlings). Die „Welt” war plötzlich sehr anders geworden. Sie hatte nicht mehr den Glanz beinahe unaufhaltsamen technischen Fortschritts und immer mehr wachsender Freiheit, sondern sie wurde als ein Ensemble zu verändernder Verhältnisse empfunden, deren Wahrheit und Gerechtigkeit man nun leidenschaftlich in militantem Protest bestreitet.

 Im Grunde ist dieser kulturelle Umbruch trotz aller Rede von einer „Tendenzwende” – wenigstens in der Öffentlichkeit unseres Lebens – noch mächtig. Die Kirche selbst musste sehr bald weniger von außen, sondern von innen her erfahren, dass mit ihr nicht anders verfahren würde als mit den übrigen etablierten Institutionen. Hatte man in „Gaudium et spes” noch den Eindruck, hier würde eine fast zeitenthobene und von den letzten Stürmen kaum bedrohte Kirche sich helfend zur Welt hin öffnen, so gab es nun inmitten der Kirche einen ganz unerwarteten Widerhall des großen kulturellen Umbruchs. Es ist wohl nicht zufällig, dass genau in dieser Zeit von jenen Theologen, die an hervorragender Stelle das Konzil mitgestaltet haben, das Wort „Krise” geradezu zum Buchtitel gemacht wird. H. de Lubac beklagt , dass die Konstitution „Gaudium et spes” eben keine generelle Öffnung zur Welt hin empfehle, wie manche annehmen. „Doch erleben wir jetzt nicht, dass ganz im Gegenteil aufgrund einer massiven Täuschung diese ,Öffnung' zum Vergessen des Heiles, zur Entfremdung vom Evangelium, zur Verwerfung des Kreuzes Christi führt, zu einem Weg in den Säkularismus, zu einem Sich-gehen-Lassen in Glaube und Sitten, kurz zu einer Auflösung ins Weltliche, einer Abdankung, ja einem Identitätsverlust, d.h. zum Verrat unserer Pflicht der Welt gegenüber?“

 Die weitere Entwicklung ist bekannt. Durch eine vielfach lähmende Polarisierung verliert die Kirche in vielen Ländern ihre Kraft zur Weltverantwortung. Da sie in dieser entscheidenden Zeit gesellschaftlicher und kultureller Veränderungen außerordentlich intensiv mit der Reform von Strukturen und Ämtern in ihrem eigenen Bereich beschäftigt ist, verliert sie nochmals Chancen ihres Weltauftrags. Wenigstens dürfte dies für Mitteleuropa gelten. Dass jedes Pauschalurteil hier schwierig ist, zeigt die ganz andersartige Entwicklung in den Ländern Lateinamerikas, wo man sich aufgrund der Anstöße durch das Konzil und besonders im Anschluss an „Gaudium et spes” an eine eigenständige Umsetzung dieser Impulse im Kontext dieses Subkontinents machte. (vgl. Medellin 1968) Vielleicht ist die Umwandlung der lateinamerikanischen Kirchen das nachhaltigste Ereignis, das von „Gaudium et spes” seinen Ausgang genommen hat. Der Konflikt wurde weltweit im Jahre 1968 noch durch die Enzyklika „Humanae vitae” verschärft: Gerade dieses delikate Problem der Gestaltung von Ehe und Familie hatte die Pastoralkonstitution dem Papst und einer von ihm einberufenen Kommission zur Klärung überlassen.

 Es ist im Rahmen dieses Vortrags nicht möglich, die Metamorphosen des Weltverständnisses in der Theologie dieser Zeit zu beschreiben. Diese Wandlungen haben viele Etappen, die zwar selten – was auch wiederum bezeichnend ist – mit der von „Gaudium et spes” aufgeworfenen Problematik direkt in Zusammenhang stehen, aber letztlich ohne den konziliaren Aufbruch nicht verständlich sind. Wenn man wenigstens schlagwortartig diese Veränderungen ansprechen darf, so lassen sich folgende Kennzeichnungen skizzieren: Die konziliare Aussage von der relativen Eigenständigkeit der weltlichen Sachbereiche wird in einer theologischen Deutung der Säkularisierung radikalisiert. Durch die oft totale Freigabe der „weltlichen Welt” entsteht ein meist gleichgültiges Nebeneinander zwischen Kirche und Welt. Mit dieser Tendenz verbindet sich oft eine emphatische Hervorhebung des Zukunftsaspektes der Geschichte. „Welt” wird nämlich immer mehr zu einer ausschließlich geschichtlich verfassten Größe, die durch den „Hominisierungsprozess, das aktive Handeln des Menschen und die Befreiung von den Mächten der bisherigen Geschichte gekennzeichnet wird. Von da aus war es kein sehr weiter Schritt, die säkularisierte Welt als menschliche Geschichte unter den Programmen der Emanzipation oder gar der Revolution zu betrachten. Die Beziehungslosigkeit zwischen Glaube und Welt, die sich durch eine weitgehende Freigabe der Welt ergab, wich einer anderen Konstellation. Im Lichte der eschatologischen Verheißungen der biblischen Tradition (z.B. Friede, Gerechtigkeit, Versöhnung) erscheint die „Welt” einmal in ihrer Vorläufigkeit, was ihre Umgestaltung erleichtert, und andererseits in ihrer Distanz zu dem, was sein soll. Die Verheißungen der Offenbarung sind also unter den konkreten geschichtlichen Bedingungen der Gegenwart kritisch befreiende Imperative, die den Widerspruch zur bestehenden Welt verdeutlichen. Wirklichkeit wird nun nicht mehr betrachtend und vorstellend verstanden, sondern kann nur in aktiver Weltverwandlung realisiert werden. Darum ist die christliche Eschatologie produktiv, schöpferisch und in aktiver Erwartung. Die Zukunft ist das wahre Konstitutiv der Geschichte.

 So wurde die „politische Theologie” eines neuen Stils geboren. Diese selbst hat wiederum immer neue Akzentuierungen erfahren, die im Rahmen dieses Versuchs nicht besprochen werden können. Zwei Stichworte müssen genügen. Einmal wird die ganz zukunftsorientierte politische Theologie korrigiert durch die Figur der „Erinnerung”, welche sich auf solche Überlieferungen stützt, die bisher unterdrückt wurden und das Unabgegoltene, Gefährliche und Herausfordernde bisher nicht erfüllter Hoffnungen wachrufen. So wird versucht, die drohende Gefahr einer nur abstrakt zukünftigen Welt durch die Dimensionen der Herkunft und der Geschichte nach rückwärts zu ergänzen. Der andere Gesichtspunkt besteht in einer Radikalisierung der apokalyptischen Dimension des christlichen Glaubens. Apokalyptik bringt Zeit- und Handlungsdruck in die Nachfolge Jesu Christi und steht quer zu einem evolutiv gestimmten Denken, das letztlich erwartungslos ist und zur Passivität verführt. Mit Hilfe einer Erneuerung dieser Nachfolge zwischen Mystik und Politik kann die bürgerliche Religion verwandelt werden in ihre ursprüngliche Gestalt. Dies gelingt jedoch nicht zuerst in den etablierten Großkirchen, sondern vielleicht in den erneuerten Orden oder in modernen Basisgemeinden.

 Damit sind wir bei den Fragen des gegenwärtigen Weltverständnisses. Es ist durchaus konsequent, wenn dieses in anderer Richtung wiederum Korrekturen verlangt. Das Weltverständnis, wie es eben besprochen wurde und auch in der Pastoralkonstitution anklingt, hat kaum Platz gelassen für die Schöpfung außerhalb des Menschen und für den Kosmos im Ganzen. Welt war wesentlich Geschichte. Jetzt verlangt die verdrängte und manipulierte Natur ihr Recht. Der Weltbegriff auch von „Gaudium et spes” und der nachkonziliaren Theologie erwies sich als ziemlich unfähig, die Wirklichkeit der Welt als Kreatürlichkeit zu begreifen. So ist der Zugang zur ökologischen Thematik zunächst schwierig. Weil auch hier ein gewaltiges Defizit entstanden ist, gibt es wenig Impulse im Blick auf die Herausforderungen der Ökologie. Die Bewahrung der nichtmenschlichen Schöpfung und der Lebensbedingungen des Menschen hatte im System und in den Wandlungen dieser Weltauffassungen kaum einen Platz .

 Das Panorama der Wandlungen zeigt nach rückwärts wiederum die von der Pastoralkonstitution nicht mehr bewältigten Aufgaben. Es war wohl auch nicht in ihrem Pflichtenkreis, die erwähnten Dimensionen des Weltbegriffs aufzuarbeiten und einzeln zu entfalten. Aber sie selbst hat in der Tat nur einige Perspektiven hervorgehoben und so indirekt und unbeabsichtigt einseitige Tendenzen begünstigt, die dann immer wieder nach einer sukzessiven Korrektur riefen. Die Theologie selbst hat freilich nur knappe Programmentwürfe zu einem umfassenden Weltbegriff geliefert, die meist nur von kurzweiligen Trends bestimmt waren und sich relativ diskontinuierlich ablösten. Eine umfassende Bestimmung des Weltbegriffs und erst recht der Kirche-Welt-Beziehung blieb auf der Strecke.

 IV. Neuinterpretation unter veränderten Vorzeichen

 Am Ende sollen wenigstens thesenhaft einige Perspektiven aufgezeigt werden, die aufgrund der inzwischen eingetretenen Wandlungen notwendig sind bei der künftigen Rezeption der Pastoralkonstitution. Es ist dabei unvermeidlich, dass man einerseits in einem erneuten Anlauf die Intention dieses Dokumentes und den Text selbst unter den gegenwärtigen Bedingungen interpretiert und man andererseits im Sinne eines Korrektivs jene Dimensionen zur Geltung bringt, die bisher zu kurz kamen.

 1.Die in „Gaudium et spes” zur Sprache gebrachten Intentionen und ihre Schwierigkeiten im verabschiedeten Text müssen positiv aufgenommen und als Problemanzeigen einer theologischen Arbeit begriffen werden, die heute nicht minder wichtig ist als vor 40 Jahren. Darum ist jede blasierte Kritik und jedes gleichgültige Übergehen der Pastoralkonstitution ebenso zu vermeiden wie ein Fixieren des Konzilstextes.

 2.Die künftige Rezeption muss gerade die Schichten und Dimensionen des Konzilstextes hervorheben, die bis jetzt sich als querliegend zum zeitgenössischen Bewusstsein erwiesen haben und darum weitgehend verdrängt worden sind. Im Blick auf die Rezeption muss eine Wiederbeschäftigung mit der Pastoralkonstitution diesen Text gegen den Strich bürsten, d.h. gerade die widerborstigen und bisher nicht integrierten Gesichtspunkte zur Geltung bringen.

 3.Unter diesen Voraussetzungen fängt die wahre Rezeption dieses Dokumentes erst an. Viele Impulse sind unausgeschöpft. Es ist ein offenes Dokument, das vom Konzil bewusst in einer vorläufigen und unabgeschlossenen Form angenommen worden ist. Um der Dringlichkeit der vielen Probleme willen hat man manche Unausgeglichenheit in Kauf genommen. So verpflichtet das Aufzeigen der Fragen und Nöte auch die heutige und künftige Kirche. Das Ethos des Textes ist in diesem Sinne wichtiger als seine Lösungen. So fordert „Gaudium et spes” selbst einen neuen Anfang.

 So weit zum Weg der künftigen Rezeption, die aus der Geschichte der bisherigen Deutung lernen muss. Darin ging es vor allem um formale Gesichtspunkte im Umgang mit diesem Dokument.

 In mehr inhaltlicher Hinsicht sollen abschließend ebenfalls einige Thesen formuliert werden:

 4.Das Verständnis der „Welt” muss viel mehr als bisher mit der spannungsvollen Realität von Geschichte und Gesellschaft, aber auch von Mensch und Natur rechnen. Die Annahme der Welt in ihrer „Weltlichkeit” hebt ihre heilsgeschichtliche Verfasstheit nicht auf. Es gibt keine theologisch neutrale Welt. Sie ist immer schon entweder auf den größeren Gott hin geöffnet, auch wenn sie es nicht weiß, oder sie hat sich ihm verweigert. Damit ist der Entscheidungscharakter von Welt und Geschichte neu zur Geltung zu bringen. Ethisch hängen damit der Begriff der Verantwortung und theologisch der Gerichtsgedanke eng zusammen. Für die weltlichen Strukturen bedeutet dieser erweiterte Ansatz, dass sie viel mehr in ihrer ambivalenten, gleichsam „gemischten” Qualität wahrgenommen werden: zwischen gut und böse, zwischen immanent und transzendent, zwischen schädlich und nützlich. Schließlich muss das Widerständige aller Strukturen bedacht werden, das sich einer bleibenden Veränderung zum Guten hin widersetzt.

 5.Diese Hinweise zeigen schon von ihrer profanen Erfahrung her, dass die Bedeutung des Kreuzes Jesu Christi bei der Erfüllung des christlichen Weltauftrags einen zentralen und unaufgebbaren Platz einnimmt: die Vergeblichkeit, die Mühsal und auch das Scheitern der Umgestaltung der Welt. Gerade darum darf sich jedoch der Christ, der eine Hoffnung gegen alle Hoffnung lebt, nicht entmutigen lassen. Die wahre, uneigennützige und im Lichte des Evangeliums einzig erfolgreiche Weltveränderung geschieht in der Passion der Liebe. Je enger die Kirche und der Christ sich an die Mitte des christlichen Glaubens anschließen, um so gewagter kann ihr Mut zur Umgestaltung der Welt werden. Nur wenn die Sünde der Welt in uns und um uns herum ernstgenommen wird, erlahmt nicht die Kraft geduldiger Veränderung.

 6.Kirche und Welt lassen sich nicht adäquat voneinander unterscheiden. Sie sind umschlossen von der Schöpfung und von der Geschichte des Heils oder des Unheils. Man kann sie nicht reinlich scheiden. Der Geist Gottes weht auch außerhalb der Kirche – in der Welt. Und die Kirche selbst ist bis zum Ende der Tage, wie besonders Matthäus lehrt, immer auch ein Stück Welt. Die Welt bleibt für den Christen unaufhebbar dialektisch beides, nämlich Ort der Sendung und des Kampfes, der Hoffnung und des Todes, der Liebe und der Verwundung. Sie ist stets Heimat und Fremde zugleich. Deshalb gibt es kein Ja des Glaubens zur Welt, das in dieser aufgehen könnte. Wer die Welt nicht absolut setzt oder sie gar vergötzt, kann sie tiefer bejahen.

 Schließlich hat schone in Christ des 2. Jahrhunderts dies alles treffend und gültig bis heute so zur Sprache gebracht: „An einen solchen erhabenen Platz hat Gott selbst die Christen versetzt, den zu verlassen ihnen nicht zusteht.“

 (c) Karl Kardinal Lehmann

Redemanuskript - es gilt das gesprochene Wort. Im Original sind eine Reihe von Fußnoten enthalten.

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz