„Christus, Licht der Völker"

Kardinal Lehmann predigt bei "Heilig-Rock-Tagen" in Trier

Datum:
Samstag, 18. April 2015

Kardinal Lehmann predigt bei "Heilig-Rock-Tagen" in Trier

Wir dokumentieren im Folgenden die Predigt von Kardinal Karl Lehmann im Pontifikalgottesdienst des Bischofs von Trier, Dr. Stephan Ackermann, während der Heilig-Rock-Tage 2015 am 18.04.2015 in Trier (Liebfrauenbasilika)

Predigttext: Joh 19,23-24

Die Heilig-Rock-Tage in Trier sind ein kostbares Gedenken an den Tod Jesu und die Früchte seines Sterbens für uns bis zum heutigen Tag. Gewiss sind wir immer wieder erstaunt, dass wir erst so spät durch schriftliche Zeugnisse informiert werden über die Ursprünge der Verehrung des Heiligen Rocks. Seit dem Mittelalter, vor allem im 12. Jahrhundert, gibt es eine Überlieferung, nach der das Bistum Trier und die Domstadt der Heiligen Helena, der Mutter Kaiser Konstantins, den Heiligen Rock verdanken. Die Heilige Helena war in der Tat auch selbst im Heiligen Land, und zwar im Jahr 327/328. Dort soll sie im Schutt des Berges Golgotha das Kreuz Christi gefunden haben. Das älteste Zeugnis für die Annahme, dass Helena den Heiligen Rock nach Trier bringen ließ, findet sich in der bekannten trierischen Chronik des frühen 12. Jahrhunderts („Gesta Treverorum"). Die Nachricht, zu der auch noch die Übertragung anderer Reliquien nach Trier gehört, z.B. die Kreuznägel, ist in verschiedenen mittelalterlichen Quellen überliefert.

Von der ersten Ausstellung („Zeigung") des Heiligen Rockes hören wir im Jahr 1512 bei einer großen Versammlung des Reiches in Trier. Es war der Wunsch von Kaiser Maximilian I. nach einer Ausstellung des Heiligen Rocks. Gewiss hat danach auch die Bevölkerung verlangt, den Heiligen Rock sehen zu dürfen, was zur ersten großen Wallfahrt führte. Diese hat dann für längere Zeit - wohl bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts - alle sieben Jahre stattgefunden, aber doch in unregelmäßigen Abständen. Dabei spielten die jeweiligen Zeitumstände, z.B. Kriege, für den Zeitpunkt einer Wallfahrt eine wichtige Rolle.

Wenn man so auf die uns bekannten Ursprünge dieser Wallfahrt schaut, bekommen die Menschen manche Zweifel. Die Bischöfe von Trier haben sich zur Frage der Verehrung der Reliquie des Heiligen Rockes besonders in den letzten 60 Jahren geäußert und deutlich gesagt, niemand sei verpflichtet, an die Echtheit der Reliquie zu glauben. Wir haben keine Beweise dafür, dass die Reliquie wirklich das Gewand ist, das Jesus zu Lebzeiten getragen hat. Aber man muss auch mit derselben Klarheit sagen, dass niemand behaupten kann, der Heilige Rock sei unecht. Der Klarheit halber muss man auch noch anfügen: Immerhin wissen wir, dass im Rückenteil des Heiligen Rockes eine Tuchreliquie enthalten ist, die sehr alt ist. Das Kerngewebe, das sorgfältig aufbewahrt worden ist, wurde in die Gewandform einer sogenannten Tunika eingearbeitet. Mehr braucht man hier nicht zu sagen, denn selbstverständlich gibt es nach bald 2.000 Jahren auch viele Stoffschichten und Ausbesserungen, die im Lauf der Zeit hinzugekommen sind.

Aber wir haben eine ganz besondere Kostbarkeit, wie wir soeben im Evangelium gehört haben. Dies kann uns den Ursprung des Heiligen Rockes und eben auch seiner Verehrung wesentlich näherbringen. Hören wir noch einmal die beiden Verse aus der Passionserzählung des Johannes: „Nachdem die Soldaten Jesus ans Kreuz geschlagen hatten, nahmen sie seine Kleider und machten vier Teile daraus, für jeden Soldaten einen. Sie nahmen auch sein Untergewand, das von oben her ganz durchgewebt und ohne Naht war. Sie sagten zueinander: Wir wollen es nicht zerteilen, sondern darum losen, wem es gehören soll. So sollte sich das Schriftwort erfüllen: Sie verteilten meine Kleider unter sich und warfen das Los um mein Gewand. Dies führten die Soldaten aus." (Joh 19,23-24, Zitat aus Ps 22, 19)

Wir fügen einige Sätze zur Erklärung hinzu. Zunächst erfährt der Leser, dass eine kleine militärische Einheit von vier Soldaten mit der Kreuzigung beauftragt war. Die ersten drei Evangelisten spielen auf Ps 22,19 zurückhaltend an (Mk 15,24; Mt 7,35; Lk 23,34), während Johannes ein wörtliches Zitat aus diesem Psalm anführt. Offensichtlich handelt es sich um ein Gewohnheitsrecht der zur Hinrichtung kommandierten Soldaten. Johannes unterscheidet genauer das Verteilen der Kleider und das Verlosen des Untergewandes. Es war - wie gehört - nahtlos und von oben bis unten aus einem Stück gewebt. Sie wollten dieses offenbar schöne und seltene Stück nicht einfach zerschneiden, vielmehr sollte das Los entscheiden, wer dieses unteilbare Untergewand bekommen sollte.

Dies erinnert viele an den Hohenpriester, der ebenfalls ein Gewand trug, das ungenäht und aus einem Stück gewebt war. Es ist gewiss nicht einfach, alle Anspielungen zu verstehen, die auch noch in den folgenden Auslegungen der nächsten Jahrhunderte gemacht wurden. Es ist auch offenkundig, dass man hinter dem Untergewand einen wichtigen untergründigen Hinweis auf tiefere Dinge sah. So hat man - wir kommen noch darauf zurück - in diesem Untergewand die Einheit des Leibes Jesu selbst und seiner Kirche gesehen. Die Einheit der Kirche ist gerade bei Johannes ein zentrales Thema. (vgl. 10,16; 11,52,17; 21,11) Johannes hat ja auch sonst etliche Bildworte, die viel aussagen. Denken wir nur an die Nacht und das Licht, das Brot und den Wein. Man darf auch nicht vergessen, wie sehr Psalm 22 der Passionspsalm schlechthin ist. Die Passion Jesu war so unverständlich und absurd, so dass man die Schrift (natürlich des Alten Testamtens) intensiv befragt, wir dieses Geschick verstanden werden könnte. Immerhin fällt ja auch auf, wie sehr das vierte Evangelium diese Szene mit großer Ehrfurcht und Liebe beschreibt. Jedenfalls haben die frühen Christen die alttestamentlichen Leidenspsalmen, vor allem über den ungerecht leidenden Gerechten, als Weissagungen und genaue Beschreibungen der Passion Jesu Christi gelesen. Dieser Psalm ist wirklich das Gebet des Elenden in einer großen dreifachen Klage. Dazu gehört auch das Gebet über die Verlassenheit und Gott.

Vielleicht müssen wir mehr über das Kleid nachdenken, um die ganze Szene zu verstehen. „Kleider machen Leute", sagt das Sprichwort, aber nicht nur im Sinne, dass man sich heraussputzt. Das Kleid gehört zum Menschen. Es ist das Symbol der persönlichen Existenz. Es darf dem Menschen nicht genommen werden. Deswegen ist es auch eine schlimme Sache, wenn man einem Menschen gegen seinen Willen die Kleider wegnimmt. Wenn man ihn einfach „auszieht", nimmt man ihm seine Würde. Vielleicht kann man von da aus verstehen, wie sehr Jesus nicht nur durch den Tod am Kreuz, sondern auch und gerade durch die Entkleidung wirklich in das letzte Elend eines Menschen herabgezwungen wird. Dies erhöht noch einmal die Exekution: Er hat sein Leben und auch seine Würde verwirkt. Gott steigt wirklich in seinem Sohn in die letzte Verlorenheit dieser Welt hinab. Romano Guardini sagt einmal: „Die Epiphanie der Verlorenheit wäre ohne diese letzte Erniedrigung nicht ganz geschehen. Der Mensch hätte nicht erfahren, wie sehr zerstört er ist." Damit steigert gerade das Anführen von Psalm 22 das Unsägliche, das geschehen ist. Damit wird noch einmal deutlich, wie sehr Jesus uns gleich geworden ist und alles in unserer Welt ausleiden muss. Man raubt ihm auch seine Kleider. Er hat die Bedürftigkeit und die Nacktheit des Menschen bis zum Äußersten geteilt. Ich glaube, dass man diese Szene nicht versteht, wenn man nicht tiefer über die Bedeutung des Kleides für den Menschen nachdenkt. Jedenfalls ist die Klage aus dem Psalm die stärkste Steigerung, die jedoch in diesem Psalm schon im nächsten Vers zugleich durchdrungen ist von dem Vertrauen auf Gott selbst (vgl. 22,20ff.). Hier sind auch Ähnlichkeiten zum vierten Gottesknechtslied (vgl. Jes. 53). Dieser Text sagt uns viel auch über die Grausamkeiten in unserer Welt, nicht zuletzt auch die intensiven Christenverfolgungen.

So kann man jetzt vielleicht doch besser verstehen, warum man von der Zeit der Kirchenväter an in dem nahtlosen Kleid ein Symbol für die von Gott her geschenkte Einheit und Liebe in der Kirche gesehen hat. So schreibt Augustinus: „Die von oben her gewebte Tunika - was bedeutet sie, wenn nicht Liebe? Die von oben her gewebte Tunika - was bedeutet sie, wenn nicht Einheit?" Allerdings war diese Einheit der Kirche in ihr und außerhalb immer schon gefährdet. Ihre Ganzheit war verletzt: durch Lieblosigkeit, vor allem auch durch Glaubensspaltungen. Wiederum sagt Augustinus in seiner Auslegung des Johannes-Evangeliums: „Die Henker haben das Kleid nicht zerrissen; Christen zerteilen die Kirche." Denken wir mit dem Kleid Jesu auch an den Leib Jesu Christi, der von diesem Kleid bedeckt wurde. Wir sollten dankbar sein für die Wallfahrt zum Heiligen Rock, denn sie erinnert uns gerade im Land der Reformation an die Einheit der Kirche. Deshalb begrüße ich es, dass unsere evangelischen Schwestern und Brüder seit einiger Zeit diese Wallfahrt tiefer zu verstehen sich bemühen und mitgestalten

Wir feiern 2017 das Reformationsjubiläum. Es gibt schon viele Vorschläge, dieses Gedenken als ein „Christusfest" zu begehen, wie immer dies noch genauer gedeutet werden muss. Es ist ein gutes Vorspiel dazu, dass Bischof Dr. Stephan Ackermann die Heilig-Rock-Tage 2015 unter das Motiv gestellt hat „Christus, Licht der Völker". Dies verbindet uns auch ganz eng mit den tiefsten Gedanken des Konzils über die Kirche, denn so beginnt ja „Lumen gentium": „Christus ist das Licht der Völker."

Und so mündet alles in das Trierer Pilgergebet:
„Jesus Christus, Heiland und Erlöser, erbarme dich über uns und über die ganze Welt.
Gedenke deiner Christenheit und führe zusammen, was getrennt ist. Amen."

(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz