vom 6.-10. April 2002 in den Rhein-Main-Hallen Wiesbaden
Zunächst möchte ich mich sehr herzlich bei Herrn Präsident Prof. Dr. Jürgen Meyer, Direktor der II. Medizinischen Klinik und Poliklinik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, für die freundliche Einladung bedanken, bei Ihrem auch dem Laien bekannten Kongress, der größten medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaft in unserem Land, in einem Plenarvortrag sprechen zu dürfen. Sie haben immer eine Mischung gestaltet von profunder klinischer Weiterbildung, der Darstellung von Spitzenforschung und mehr aktueller grundlegender Probleme. So haben Sie mich gebeten, zu den ethisch-moralischen Grundfragen der Gentechnologie, des Embryonenschutzes, aber auch der Problematik der aktiven Sterbehilfe zu sprechen. Diese Themen sind so komplex und vielfältig, dass ich mich im Rahmen dieses Referates nur mit einem freilich fundamentalen Ausschnitt beschäftigen kann, wie er im Titel angezeigt ist: Das Recht, ein Mensch zu sein und zu bleiben. Zur Grundfrage einer Ethik des Lebens heute. Eine ausführliche Erörterung der Fragen um „Sterben in Würde" darf ich zurückstellen.
Im Lauf der letzten Zeit haben sich außerordentlich viele Themen im Bereich der Gentechnik und Biomedizin in den Vordergrund geschoben, die auch eine große öffentliche Resonanz erhalten haben: das Human-Genom-Projekt, die Pränatale Diagnostik, die Präimplantationsdiagnostik, die Stammzellforschung, Patente auf Leben und Gentherapie. Aber es gibt in der gesamten Thematik auch so etwas wie einen roten Faden oder durchlaufende Perspektiven, die von Anfang an die Fragestellung beherrschen, wobei dies oft verborgen, indirekt oder implizit geschieht. Es sind Grundannahmen, die von Anfang an erkenntnisleitend sind und darum auch entschlossen thematisiert werden müssen. Dazu gehört zuerst die Frage nach dem Status des Menschen im Anfang seiner Existenz. Hier entscheidet sich, in welcher Perspektive sich das Menschwerden und das Menschsein von Beginn an bemerkbar machen und wie dies vom Menschen gewertet wird. Die Frage nach der Schutzwürdigkeit des menschlichen Lebens ist entscheidend von der anthropologischen Frage geprägt: Wann beginnt menschliches Leben? Diesem Problem vor allem nach dem moralischen Status des menschlichen Lebens soll hier nachgegangen werden, zumal die Antwort sehr wichtig ist auf die Frage, welche Rechte dem Embryo einerseits und welche Pflichten der Gesellschaft anderseits daraus erwachsen.
Gelegentlich wird die These vertreten, diese Frage nach dem Zeitpunkt für den Beginn des menschlichen Lebens habe an Bedeutung und Gewicht verloren. Durch die Entwicklung der Familienplanung und Geburtenkontrolle habe sich die Verantwortung überhaupt auf die Zeit vor der Zeugung verlagert. Das Recht zum Leben sei darum nicht mehr eine Naturgegebenheit, sondern eine Aufgabe der Eltern und der Gemeinschaft, die dieses Recht zu erteilen hätten. Daraus könnten später auch gewisse Rechte der Eugenik werden, wobei der Verdacht des Machtmissbrauchs nicht ganz von der Hand zu weisen sei.
Kinder müssen angenommen werden. Menschliches Leben ist angenommenes Leben. Der Akt dieser Annahme geht der bewussten Zeugung eines Kindes seitens der Eltern voraus und muss in den Verhältnissen seines Aufwachsens immer wiederholt werden. Dies offenbart bei aller Richtigkeit einiger Aspekte eine grundlegende Problematik. Denn hier wird gegenüber einem gewiss eindrucksvollen personalistischen Ethos die Leiblichkeit des Menschen mit seinen biologisch-somatischen Grundlagen übergebührlich in den Hintergrund gedrängt. Man kann diesen Ansatz zuspitzen und besonders von der Notwendigkeit der Nidation her die These vertreten, ein entscheidender Einschnitt in der Entwicklung menschlichen Lebens bestehe eben darin, dass der wirkliche menschliche Embryo der Mutter bedarf, um sich zu einem Menschen entwickeln zu können. Dies erfüllt sich eben erst in der vollen Annahme und Aufnahme einer befruchteten menschlichen Eizelle. Vom Menschen könne angemessen nur dialogisch geredet werden, nicht in der Aussageweise einer Substanz. Sein heißt Zusammensein und Zusammenleben. Eine solche Überzeugung findet es höchst problematisch, wenn das menschliche Leben vom Zeitpunkt der Befruchtung an als „embryonaler Mensch" betrachtet wird.
Es gibt eine Reihe von ähnlichen oder damit in Zusammenhang stehenden Auffassungen, die jeweils ein eigenes Kriterium haben. Eine Konsequenz der erwähnten Auffassung wäre, dass alle extrakorporal gezeugten Embryonen, die nach der Entscheidung der Frau nicht zur Einnistung bestimmt sind, ungeschützt und für den beliebigen Gebrauch und Verbrauch verfügbar sind. Geltung und Reichweite des Lebensschutzes hingen so von der Willkür der Mutter ab. Das Lebensrecht wird jedoch nicht durch die Annahme seitens der Mutter begründet, sondern durch die Verfassung, noch genauer: durch das Lebensrecht des Embryo. So kommt es auch zur These, dass Selbstbewusstsein und Selbstbestimmungsfähigkeit den Menschen ausmachen. Damit schiede der nasciturus von vornherein als Träger des Lebensrechtes aus. Damit wird auch die Frage provoziert, ob der Lebensschutz während des Schlafes nicht suspendiert wäre, für den Geisteskranken, vor allem aber für den Komatösen gar nicht gegeben sei. Aber der Mensch ist in seiner aktuellen Entfaltung nicht einfach Vernunftwesen. „Das Leben aber ist keine Erscheinung der Freiheit, sondern deren vitale Basis. Die Freiheit setzt Leben voraus, nicht umgekehrt." (J.Isensee, zu N. Hoerster und P. Singer). Ein mehr pragmatischer Ansatz verknüpft das Leben mit der Fähigkeit, eigene Interessen zu haben. Dazu gehöre vor allem das Verschontbleiben von Schmerzen. Solange noch keine Schmerzempfindung gegeben sei, fehle darum auch das Bedürfnis für den Schutz des Lebensrechtes. Andere Überlegungen gehen dahin, den Lebensanfang an ein bestimmtes Stadium der vorgeburtlichen Entwicklung des Hirns und des Nervensystems zu knüpfen. Dies wäre dann eine spiegelverkehrte Entsprechung zum Hirntod. Manche wollen den Lebensschutz auch erst mit dem Zeitpunkt der Geburt beginnen lassen.
Die Frage nach dem Beginn des menschlichen, vor allem des individuellen Lebens, war immer schon Gegenstand des menschlichen Suchens. Dabei stand früher besonders der Zeitpunkt der Beseelung im Vordergrund. Vor allem durch den Einfluss des Aristoteles hat z.B. Thomas von Aquin die Empfängnis (Conceptio) als ein zeitlich erstrecktes Geschehen (Sukzessivbeseelung) verstanden. Er nahm an, dass bei dem Ausformungsprozess des menschlichen Leibes drei Wesensformen zu unterscheiden sind (die vegetative, die sensitive und die rationale), von denen die höhere jeweils die Funktion der niedrigeren übernimmt. Der Embryo hat also bereits Leben, wird aber erst später beseelt, das männliche Kind am 40. Tag, das weibliche am 90. Tag. In Einzelheiten gibt es jedoch im Mittelalter beträchtliche Unterschiede. Albertus Magnus lehnt z.B. die Dreiteilung der Wesensform ab. Der Beginn des Eigenlebens und die Geistbeseelung fallen nach ihm in einem Augenblick zusammen (Simultanbeseelung).
Seit es im 19. Jahrhundert gelungen war, den Befruchtungsvorgang genauer zu beschreiben, wusste man, dass der Fötus als Ergebnis zweier lebendiger Zellen selber belebt und von einem formgebenden Prinzip durchwaltet war, das identisch erschien mit der menschlichen Seele. Man glaubte, der Einheit und Kontinuität des sich entwickelnden Lebens mit der Annahme einer einzigen und unteilbaren Seele, also durch eine Simultanbeseelung besser gerecht zu werden als durch eine Sukzessivbeseelung.( Vgl. in aller Kürze R. Schulte, Beseelung des Menschen, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., II. Bd., 311 – 312, Freiburg i.Br. 1994; dort auch Lit.; J.T. Noonan, Empfängnisverhütung = Walberberger Studien 6, Mainz, 1969, 104 ff u.ö; F. Böckle, in: Handbuch der christlichen Ethik, hrsg. von A. Hertz u. a., Aktualisierte Neuausgabe, Bd. 2, Freiburg i.Br. 1993, 36ff.)
Die Theorie der Sukzessivbeseelung schien bereits überholt zu sein, als in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine lebhafte Diskussion darüber einsetzte. Dabei war Anstoß dafür das von E. Haeckel aufgestellte „Biogenetische Grundgesetz", nach dem jedes einzelne Lebewesen im Laufe seines Werdeprozesses die stammesgeschichtliche Entwicklung durchläuft. Näherhin würde dies bedeuten, dass der Embryo erst allmählich, d.h. im Lauf seiner Entwicklung, zum Mensch wird. Viele thomistische Vertreter versuchten im Anschluss daran eine Neuinterpretation der Meinung des Thomas. Schließlich hatte vor allem der Göttinger Embryologe Erich Blechschmidt (1904 – 1992) dieses Biogenetische Grundgesetz widerlegt. (Vgl. zusammenfassend: Vom Ei zum Embryo. Die Gestaltungskraft des menschlichen Keims, Stuttgart 1968; neu bearbeitet u. aktualisiert unter demselben Titel: Reinbek bei Hamburg 1970; J. Reiter, Wann ist der Embryo ein Mensch? in: Ders., Menschliche Würde und christliche Verantwortung, Kevelaer 1989, 99-108.)
Die Diskussion wurde bald abgelöst, indem nicht mehr so sehr die Frage nach dem Zeitpunkt der Beseelung im Vordergrund stand, sondern die Beseelung als solche zum Problem wurde.
(Vgl. dazu im Einzelnen P. Overhage/K.Rahner, Das Problem der Homilisation = Quaestiones Disputatae 12/13, Freiburg 1961 u.ö. Auf Rahners Neuinterpretation des Werdebegriffs im Sinne einer „Selbstüberbietung der kreatürlichen Ursache kraft der Dynamik der göttlichen Ursächlichkeit" kann hier nicht näher eingegangen werden.)
Die entsprechenden Forschungen hatten ergeben, dass es sich beim menschlichen Leben vom ersten Tag der embryonalen Entwicklung an, die mit der Vereinigung von Ei- und Samenzelle beginnt, um spezifisch menschliches Leben handelt. Dies hat zur Konsequenz, dass heute neben anderen Wissenschaften auch die allermeisten Theologen den Zeitpunkt der Empfängnis, d.h. der Fertilisation, als den vor allem ethisch relevanten Zeitpunkt der Beseelung ansehen. Zwar gibt es immer wieder Versuche einer Anknüpfung an die Theorien der Sukzessivbeseelung, die ja den Vorteil hätte, einen zeitlichen Spielraum in der frühesten Entwicklung anzunehmen, der zwar von der Existenz menschlichen Lebens ausgeht, jedoch noch kein spezifisch individuelles Menschenleben besonders im Sinne von Personalität darstellt.(Vgl. dazu F. Böckle, in: Handbuch der christlichen Ethik, 36-45.)
Dabei wird öfter ein Einschnitt bei der Nidation angenommen, also bei der Einnistung des Embryos in die Gebärmutter. Dieser Prozess der Implantation findet zwischen dem 4. und 6. Tag statt. Manche wollen – wie schon erwähnt – um den 12. – 14. Tag einen gewissen Einschnitt sehen, der durch Entwicklungen im Kopfbereich und in der ersten Differenzierung der Nerven bestimmt werde.
Die Theorie der Sukzessivbeseelung hat durch ihre große Bedeutung in der Tradition auch heute noch eine starke Wirkungsgeschichte. Strömungen im Bereich der anglikanischen Kirche scheinen solchen Vorstellungen ebenso anzuhängen wie Teile des Judentums, die eine Beseelung des Menschen bei ca. 50 Tagen annehmen. Deshalb hat man auch in Israel eine eigene Einstellung zu den bioethischen Grundfragen.
Der Embryo ist von Anfang an Mensch. Dies gilt von der Befruchtung an, die selber einen Prozess darstellt, der mit dem Eindringen eines Spermiums in die Eizelle beginnt und mit der Fusion der Zellkerne endet. Die Fertilisation selbst erfolgt als eine kontinuierliche Abfolge von Ereignissen. Das eine Ereignis ist Voraussetzung für die folgende Entfaltung. Die Biologen machen aufmerksam, dass es sich dabei um eine menschliche Wahrnehmung handelt, wenn man einen stufenmäßigen Prozess dahinter sieht: „Die Aufzählung der Einzelereignisse wird lediglich von unserer Beobachtungsgenauigkeit bestimmt. Wegen des stufenartigen Erscheinungsbildes aufeinanderfolgender Reaktionen hat man den ganzen Vorgang auch als ‚Befruchtungskaskade‘ (H. M. Beier) bezeichnet. Es muss aber klar gesehen werden, dass die beschriebenen Stufen der Kaskade Ergebnis unserer begrifflichen Abgrenzungen, nicht aber der Wirklichkeit selbst sind. Jede ‚Stufe‘ folgt kontinuierlich aus den vorausgegangenen Prozessen."( G. Rager, in: Ärztliches Urteil und Handeln. Zur Grundlage einer medizinischen Ethik, hrsg. von L. Honnefelder und G. Rager, Frankfurt 1994, 77.).
Jedes Entwicklungsstadium geht kontinuierlich in das folgende über. Es gibt keinen Moment in der Entwicklung, an dem man sagen könnte, erst hier werde der Embryo zum Menschen. „Es ist immer wieder versucht worden, das Menschsein mit der Reifung des Gehirns beginnen zu lassen. Die Differenzierung des Nervensystems ist aber eines der besten Beispiele dafür, dass sich kein Punkt festlegen lässt, an welchem sprunghaft etwas Neues entsteht. Auch die Synaptogenese ist ein kontinuierlicher Prozess." (G. Rager, a.a.O., 346, Anm. 52, vgl. genauer 89ff.)
Einen Prozess mit verschiedenen Einschnitten suggeriert auch die unterschiedliche Terminologie für die Embryonalentwicklung. In einer „Medizinischen Embryologie"( B. Christ / Fr. Wachtler unter Mitarbeit von Chr. Wilhelm, Medizinische Embryologie. Molekulargenetik – Morphologie – Klinik, Wiesbaden 1998, 29) heißt es: „Am Beginn menschlichen Lebens steht die Fusion von Spermium und Eizelle, die Fertilisation. Die Zelle, die durch das Eindringen des Spermiums in die Eizelle entsteht, heißt Zygote; in ihr wird der Ablauf des Programms ‚Entwicklung‘ aktiviert. Mit den folgenden mitotischen Zellteilungen entsteht ein kugeliges Aggregat von Zellen, die Morula. Im Inneren der Morula entsteht die Blastozystenhöhle. Dadurch wird die Morula zur Blastozyste. In der Blastozyste lassen sich zwei Zellpopulationen unterscheiden: die außenliegende einschichtige Zellage des Trophoblasten und die exzentrisch im Inneren liegenden Zellen des Embryoblasten. Diese Entwicklung dauert etwa eine Woche und findet in der Tuba uterina statt." Aus der Tatsache der verschiedenen Namen wollen manche verschiedene Phasen ablesen, die auch einen qualitativ unterschiedlichen moralischen Status des menschlichen Lebens begründen. Es gibt aber keine diskreten Stufen der Entwicklung, sondern eher „Parameter der Reifungsvorgänge..., um eine Eindeutigkeit der Beschreibung zu erreichen."(G. Rager, a.a.O., 86.)
Einige Autoren haben auch den Begriff des Prae-Embryo eingeführt. Man meint damit weitgehend die Entwicklungsperiode von der Fertilisation bis zur Entstehung des „Primitivstreifens" (also bis zum ca. 14. Tag). Der Begriff legt nahe, es gäbe in der Frühentwicklung des Menschen eine Phase, in welcher ein menschlicher Embryo noch nicht vorhanden sei. Dies hat natürlich Konsequenzen für die Schutzwürdigkeit des Embryos. Der Begriff lässt sich also schlecht gebrauchen, ist unbestimmt und überflüssig, da es andere Begriffe zur Beschreibung der einzelnen Entwicklungsstadien gibt. Wenn ich recht sehe, wird er auch nur selten in den Hand- und Lehrbüchern der Humangenetik und der Embryologie verwendet.( Zu diesem Begriff vgl. G. Rager, a.a.O., 87 und Beginn, Personalität und Würde des Menschen, hrsg. von G. Rager = Grenzfragen 23, München 1997, 1998², 80, 312f., 388.)
Aus der embryologischen Entwicklung lassen sich für die ersten acht Wochen folgende Schlüsse ziehen (Vgl. dazu G. Rager, a.a.O., 82, 86f.; J. Reiter, Menschliche Würde und christliche Verantwortung, 102-106):
Mit dem Abschluss der Fertilisation, der Herausbildung der Zygote ist ein individuelles humanes Genom und damit ein menschlicher Embryo entstanden. Die Zygote besitzt bereits einen humanspezifischen Genbestand, aus dem sich unter entsprechenden Bedingungen ein vollständiges menschliches Individuum entwickeln kann. Es muss nichts Wesentliches mehr hinzugefügt werden. Bereits hier lässt sich eine „Potenz zur vollständigen menschlichen Entwicklung" feststellen.(Vgl. G. Rager, a.a.O., 82.)
Die Entwicklung verläuft im Sinne einer „humanspezifischen Entwicklung" (Ebd), so dass jedes Entwicklungsstadium kontinuierlich in das folgende übergeht. Es gibt keinen Zeitpunkt in der Entwicklung, an dem man sagen könnte, hier werde der Embryo erst zum Menschen. Es handelt sich in jedem Stadium um einen menschlichen Embryo. Es gibt in diesem Ablauf keine Zäsur, von der sich sagen ließe, hier entstehe etwas völlig Neues. E. Blechschmidt hat immer wieder gesagt, dass der Mensch nicht zum Menschen wird, sondern von Anfang an Mensch ist. Man spricht hier von der „Kontinuität der Entwicklung".( Ebd)
„Am Ende des zweiten Embryonalmonats ist der Embryo gerade 30 mm groß. Er hat auch für den normalen Beobachter schon alle Merkmale des Menschen entwickelt. 99% der Strukturen, die am Erwachsenen beschrieben werden, sind bereits vorhanden. Somit folgt aus der embryologischen Betrachtung der menschlichen Entwicklung, dass der Embryo von der Befruchtung an menschliches Leben darstellt und die Möglichkeit besitzt, dieses menschliche Leben voll zu entfalten, wenn ihm die dafür nötigen Umgebungsbedingungen geboten werden."( Ebd)
Damit geht auch einher, dass sich die Steuerung der Entwicklung menschlichen Lebens differenziert. Eine Entwicklung ist überhaupt nur möglich, wenn ein Programm vorhanden ist, das schon sehr früh die Aktivität der beteiligten Gene koordiniert. „Die Entwicklung bis etwa zum Vierzellstadium unterliegt noch weitgehend der genetischen Steuerung durch das mütterliche Genom. Im weiteren Verlauf wird zunehmend das embryonale Genom aktiviert, während der mütterliche Einfluss schnell zurückgeht."(H. Zankl, Von der Keimzelle zum Individuum. Biologie der Schwangerschaft = Beck´sche Reihe 2149, München 2001, 29, vgl. auch 25. Es ist aufschlussreich, dass dies wahrscheinlich derselbe Zeitraum ist (bis zum Vierzellstadium), in dem die frühen Blastomeren totipotent sind, d.h. aus jeder Zelle sich ein vollständiges Individuum entwickeln kann.)
Damit sind die Prinzipien beschrieben, die die Entwicklung des menschlichen Lebens bestimmen und die auch wichtig sind zur Entscheidung darüber, wann und wie das menschliche Leben beginnt. Im Grunde gibt es zwei gewichtige Einwände. Der eine bezieht sich auf die Tatsache, dass in der frühen Phase der Entwicklung, wie soeben beschrieben, die Zellen totipotent sind, so dass sich aus jeder Zelle ein vollständiges Individuum entwickeln kann. Man macht darauf aufmerksam, dass im Mehrzellenstadium die Zellen nicht einfach als selbstständige und unabhängige Gebilde nebeneinander liegen, sondern ab der ersten Zellteilung einen Verband mit eigenen Regelungs- und Steuermechanismen bilden. Dieses organische System ist eine Funktionseinheit. Diese gegliederte biologische Einheit, die untereinander in einer engen Kooperation steht, differenziert sich also von innen her. Erst wenn die Tochterzellen voneinander getrennt werden, gewinnen sie ihre Unabhängigkeit und können einen ganzen Embryo hervorbringen. Dies muss man beim Begriff „Totipotenz" vor Augen haben, denn man kann in diesem Sinne auch durchaus eine solche biologische Systemeinheit, die sich von innen her differenziert, mit einem komplexeren Begriff von „Individuum" in Verbindung bringen. Im Begriff Individuum geht es im Übrigen weniger um eine Unteilbarkeit, sondern um das Ungeteiltsein.
Dies ist besonders wichtig für einen eng damit zusammenhängenden Einwand, wenn nämlich spontan eineiige Zwillinge entstehen. In dieser frühen Phase sind die einzelnen Zellen, wie schon gesagt, noch totipotent. Bedeutet dies nun, dass der Embryo vor der Ausbildung des Primitivstreifens kein Individuum und erst recht keine Person ist, weil er sich noch in mehrere Individuen teilen kann? Ein Stück weit ist darauf schon durch die soeben gemachten Ausführungen geantwortet worden: „Wenn das lebendige Individuum nicht primär als etwas Unteilbares, sondern als ein Wesen verstanden wird, das ständig dynamisch seine Einheit herstellt, dann stellt die Entstehung von eineiigen Zwillingen keinen Widerspruch zu unserem Begriff von Individuum und Person dar."( G. Rager, a.a.O., 88). Mit Recht hat G. Rager darauf aufmerksam gemacht, dass man den Begriff Individuum für den Vorgang der Zellteilung nochmals durchdenken muss.(Ebd. 88f.) Hier fehlt ein Stück weit noch die theoretisch angemessene Begrifflichkeit. „Ex post nämlich betrachtet sich jeder der aus den beiden Zwillingsembryos hervorgegangenen Personen als gezeugt von den Eltern und in unmittelbarer Kontinuität seiner Entwicklung auf den Zeugungsakt zurückgehend. Aus dem retrospektiven Blickwinkel der erwachsenen Zwillinge setzt daher beider Identität mit dem Zeitpunkt der Zeugung des ‚Ursprungsembryos‘ ein."( Beginn, Personalität und Würde des Menschen, 238. Vgl. zur Zwillingsbildung 23f., 88, 92, 237f., 242, 312; zu den biologischen Grundlagen vgl. in aller Kürze H. Zankl, Von der Keimzelle zum Individuum, 40f.; ders. Genetik. Von der Vererbungslehre zur Genmedizin = Beck´sche Reihe 2094, München, 1998, 2282. Vgl. besonders auch M. Dreyer – K. Fleischhauer (Hg.), Natur und Person um ethischen Disput, Freiburg i. Br. 1998, 147 ff. (F. Ricken), 259ff. (L. Honnefelder).)
Man wird hier gewiss einräumen, dass die Frage nach dem Beginn des individuellen menschlichen Lebens gerade im Blick auf die totipotenten Zellen und die Mehrlingsbildung noch weiterer Klärung bedarf, nicht zuletzt im Blick auf die von uns verwendete Sprache.
Gestatten Sie dem Theologen einen kleinen Exkurs. Im Blick auf die kirchliche Lehre muss erklärt werden, dass sie zwar nicht vollständig, aber doch auf weite Strecken von der aristotelischen Konzeption einer Sukzessivbeseelung bestimmt war. Immerhin darf man nicht vergessen, dass man auch in dieser Konzeption überzeugt war, dass schon von Anfang an menschliches Leben gegeben ist und dass man deshalb – auch bei einer späteren Beseelung –keine Abtreibung vornehmen darf.
Der jüngere Sprachgebrauch der kirchlichen Dokumente wird vielleicht am deutlichsten in der Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre über die Achtung vor dem beginnenden menschlichen Leben und die Würde der Fortpflanzung, die 1987 veröffentlicht worden ist.
( Vgl. den deutschen Text in der gleichnamigen Veröffentlichung in der Reihe Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 74, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1987. Der lateinische und der italienische Text mit umfangreicheren Kommentierungen findet sich in der Schriftenreihe: Congregazione per la Dottrina della Fede. Documenti e studi 12: Istruzione „Donum vitae", Vatikan 1990. Der offizielle lateinische Text findet sich in: AAS 80 (1988) 70-102. Zur Interpretation vgl. auch St. Wetrowsky (Hg.), Lebensbeginn und menschliche Würde – Gentechnologie. Chancen und Risiken 14, Frankfurt/München 1987, vgl. dabei meinen Beitrag: 32 – 40 (Lit.).)
Dort heißt es: „Jedes menschliche Wesen muss – als Person – vom ersten Augenblick seines Daseins an geachtet werden." (I,1) Das Zweite Vatikanische Konzil hatte schon deutlich zum Ausdruck gebracht, dass es aus diesem Grund auch das menschliche Leben von der Empfängnis an mit höchster Sorgfalt schützt (vgl. GS 51). Im Anschluss daran hat die „Charta der Familienrechte" von 1983 formuliert: „Menschliches Leben muss vom Augenblick der Empfängnis an absolut geachtet und geschützt werden." (Nr. 4)( Vgl. die deutsche Ausgabe als Nr. 52 der Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls (1983).) In der „Erklärung zur vorsätzlichen Abtreibung" aus dem Jahr 1974 (Vgl. den lateinischen Text in: AAS 66 (1974) 730-747, hier: 738) heißt es: „Von dem Augenblick an, indem die Eizelle befruchtet wird, beginnt ein neues Leben, welches weder das des Vaters noch das der Mutter ist, sondern das eines neuen menschlichen Wesens, das sich eigenständig entwickelt. Es würde niemals menschlich werden, wenn es das nicht schon von diesem Augenblick an gewesen wäre. Die neuere Genetik bestätigt diesen Sachverhalt, der immer eindeutig war..., in eindrucksvoller Weise. Sie hat gezeigt, dass schon vom ersten Augenblick an eine feste Struktur dieses Lebewesens vorliegt: Eines Menschen nämlich, und zwar dieses konkreten menschlichen Individuums, das schon mit all seinen genau umschriebenen charakteristischen Merkmalen ausgestattet ist. Mit der Befruchtung beginnt das Abenteuer des menschlichen Lebens, dessen einzelnen bedeutenden Anlagen Zeit brauchen, um richtig entfaltet und zum Handeln bereit zu werden." (Zur Interpretation vgl. aus der oben Anmerkung 33 genannten Reihe der Glaubenskongregation „Documenti e studi" Nr. 3: Dichiarazione sull`aborto procurato, Vatikan 1988 (dort auch lateinischer und italienischer Text).)
Dabei muss die sorgfältige Argumentation im Kreuzungsfeld von Embryologie, Philosophie und Theologie beachtet werden: „Sicherlich kann kein experimentelles Ergebnis für sich genommen ausreichen, um eine Geistseele erkennen zu lassen; dennoch liefern die Ergebnisse der Embryologie einen wertvollen Hinweis, um mit der Vernunft eine personale Gegenwart schon vor diesem ersten Erscheinen eines menschlichen Wesens an wahrzunehmen. Wie sollte ein menschliches Individuum nicht eine menschliche Person sein? Das Lehramt hat sich nicht ausdrücklich auf Aussagen philosophischer Natur festgelegt, bekräftigt aber beständig die moralische Verurteilung einer jeden vorsätzlichen Abtreibung. Diese Lehre hat sich nicht geändert und ist unveränderlich."(Instruktion „Donum vitae" (I,1), deutsche Ausgabe: 14).
Man kann leicht erkennen, dass der Argumentationsgang behutsam vor sich geht. Die unterschiedlichen Methoden und Erkenntnisweisen der Humanwissenschaften und der Philosophie sowie der Theologie werden angesprochen. Jedoch enthalten die empirischen Forschungen auch wertvolle Hinweise, „um mit der Vernunft eine personale Gegenwart schon vor diesem ersten Erscheinen eines menschlichen Wesens an wahrzunehmen". Es wird klar zum Ausdruck gebracht, dass die empirischen Hinweise einer weiteren Reflexion bedürfen, auf diesem Weg aber auch zu einer gültigen Einsicht kommen können. Dabei ist die Aussage, dass es sich beim Embryo um eine „Person" handelt, einerseits eindeutig (auch in den anderen zitierten Quellen!), anderseits wird aber auch gegenüber dem Begriff Person eine gewisse Nachdenklichkeit zur Sprache gebracht, vor allem durch die fast überraschende Frage: „Wie sollte ein menschliches Individuum nicht eine menschliche Person sein?" Mit überraschender Deutlichkeit wird festgestellt, dass sich das Lehramt auch beim Gebrauch des Personenbegriffs „nicht ausdrücklich auf Aussagen philosophischer Natur festgelegt" hat. Außerdem geht man sehr stark auch von der ursprünglichen Intention dieser Aussagen aus, dass nämlich die Lehre der Kirche jede vorsätzliche Abtreibung beständig verworfen hat. Schließlich gilt die Anerkennung als Person vor allem auch dem Schutz des Embryos.
Diese differenzierte Beschreibung ist durch die große Enzyklika „Evangelium vitae", die eine der großen Achsen der Lehrverkündigung von Papst Johannes Paul II. ist, im Jahr 1995 wieder aufgenommen und bekräftigt worden, und zwar in einer lehramtlich nun noch stärker verbindlichen Form. In diesem Weltrundschreiben wird besonders auch die Begründung in der Offenbarung dargelegt.( Vgl. den deutschen Text in der Nr. 120 der Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Bonn 1995, Nr. 2, 3, 53-63.)
Aber im ganzen herrscht trotz aller Verklammerung mit den Lehrtexten eher ein auf die Katechese und Verkündigung abgestimmter Ton. Zusammengefasst ist diese jüngere Lehrentwicklung im „Katechismus der katholischen Kirche"( Deutsche Ausgabe: München/Vatikan 1993, Nr. 2274. In der offiziellen Fassung des „Catechismus Catholicae fidei" (Nr. 2274), Vatikan 1997, heißt nun der Passus: „Embryo, quippe qui tamquam persona, inde a conceptione, est tractandus, in sua integritate est defendus, curandus et sanandus, quantum fier potest, sicut quaelibet alia humana creatura." Vgl. auch den Katholischen Erwachsenenkatechismus, Bd. 2: „Leben aus dem Glauben", Freiburg 1995, 288-301, bes. 288f.): „Da der Embryo schon von der Empfängnis an wie eine Person behandelt werden muss, ist er wie jedes andere menschliche Wesen im Rahmen des Möglichen unversehrt zu erhalten, zu pflegen und zu heilen."
Dabei darf nicht vergessen werden, dass auch im säkularen Raum viele rechtliche Bestimmungen von einem Menschsein von Anfang an ausgehen, wie z.B. das Embryonenschutzgesetz in § 8 Abs. 1: „Als Embryo im Sinne dieses Gesetzes gilt bereits die befruchtete, entwicklungsfähige, menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an. Ferner jede einem Embryo entnommene totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzung zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag."( Vgl. den Wortlaut des Gesetzes in: Gesundheitsrecht = Beck-Texte im dtv, Sonderausgabe, München 2000, 265-268, hier: 267. Vgl. dazu den Kommentar in Winter, Fenger, Schreiber, Genmedizin und Recht 300ff., 353, vgl. auch Lit.: 323f) Wenn es auch in der Verfassungsgerichtsbarkeit einige offene Fragen geben mag, so gibt es doch einen hohen Konsens über die Schutzwürdigkeit des ungeborenen Kindes von Anfang an.( Vgl. z.B. die Leitsätze des Urteils des Zweiten Senates des Bundesverfassungsgerichtes vom 28. Mai 1993, Leitsätze 1-17, zur näheren Begründung vgl. im Urteil Teil C, II, Abschnitt B, I.)
Schon aus den lehramtlichen Texten geht eine gewisse Ambivalenz im Gebrauch des Wortes Person für den Embryo hervor.( Vgl. dazu C. Breuer, Person von Anfang an? Der Mensch aus der Retorte und die Frage nach dem Beginn des menschlichen Lebens = Abhandlung zur Sozialethik, 36, Paderborn 1995 (mit sehr umfangreicher Bibliographie: 308-400); Chr. Götz, Medizinische Ethik und katholische Kirche. Die Aussagen des päpstlichen Lehramtes zu Fragen der medizinischen Ethik seit dem Zweiten Vatikanum = Studien der Moraltheologie, 15, Münster 2000, Kap. 3, bes. 120ff.; Das Buch enthält auch eine sehr umfangreiche Sammlung kirchlicher Quellentexte: 363-620) Darum ist die Anwendung des Begriffs in einem ersten Schritt eher etwas zögernd. Man geht von der Individualität des Embryos, seiner Schutzwürdigkeit, seinen Rechten und der ihm zugeschriebenen Menschenwürde aus. Von diesen Intentionen her geht man auf den Begriff der Person zu. Aufschlussreich ist dafür die gewiss nicht nur rhetorische Frage in „Donum vitae": „Wie sollte ein menschliches Individuum nicht eine menschliche Person sein?" Die Zurückhaltung geht von dem verschiedenen Gebrauch des Personenbegriffs aus und möchte offenbar die Sache selbst nicht durch einen Streit um Begriffe gefährden. Der Mensch ist zunächst Person, weil er mit Vernunft und Gewissen begabt ist, d.h. moralisch verantwortbares Subjekt ist. Dass jemand der Schutz der Würde der Person zukommt, ist von nichts anderem abhängig als dem Umstand, Mensch zu sein. In der klassischen Philosophie und Theologie gibt Person eine Antwort auf die Frage, wer jemand ist und was jemand ist. Eine Person ist eine von allen anderen Gegebenheiten unterschiedene und nicht weiter zu vervielfältigende Einheit, die vor allem durch das Vermögen der Vernunft ausgezeichnet ist. In der römischen Tradition wird die Verantwortlichkeit für das eigene Handeln und die Menschenwürde betont. Dabei ist besonders für den klassischen Gebrauch des Personenbegriffs wichtig, dass sich der Personencharakter auch in der Unverletzlichkeit des menschlichen Leibes manifestiert. Dies bedeutet eine substantielle Einheit von Person und Natur im individuellen Menschen. Deshalb bezeichnet z.B. Thomas von Aquin die vom Leib getrennte Seele für die Zeit dieser Trennung nicht als Person. Im Lichte des klassischen Verständnisses gibt es keine Trennung zwischen Person und Menschsein.( Zur Geschichte des Personbegriffs vgl. die große Arbeit von Th. Kobusch, Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild, Erste Auflage, Freiburg 1993, zweite durchgesehene und erweiterte Auflage, Darmstadt 1997; L. Honnefelder, Person und Menschenwürde, in: L. Honnefelder/G. Krieger (Hg.), Philosophische Propädeutik, Bd. 2: Ethik = UTB für Wissenschaft: Uni-Taschenbücher 1895, Paderborn 1996, 213-266; J. Reiter, Menschliche Würde und christliche Verantwortung, 103f)
Der neuzeitliche, moderne Personbegriff hat gewisse Gemeinsamkeiten, schlägt aber doch eine andere Richtung ein, indem die Person vor allem durch die Einheit des Bewusstseins konstituiert wird. In der klassischen Fassung des Personbegriffs sind alle Menschen Personen. Für weite Teile des neuzeitlichen Denkens ist die Person aber bewusstes, sittliches Subjekt. Offensichtlich gibt es aber menschliche Lebewesen, die nicht im aktuellen Zustand handelnde Subjekte sind, wie z.B. Ungeborene oder irreversibel Bewusstlose. Es spricht aber sehr viel dafür, dass man an der Einheit von Mensch und Personsein festhalten muss. L. Honnefelder hat dies überzeugend gerade durch das früher entwickelte Potentialitäts-, Kontinuitäts- und Unverfügbarkeitsargument aufgezeigt.( L. Honnefelder, a.a.O., 252-254) Personalität wird nicht anerkannt, nicht zuerkannt oder von irgendjemand verliehen; sie ist das Fundament für jede Beziehung. Mit der entgegengesetzten Haltung würde man das Personsein von nachzuweisenden Eigenschaften abhängig machen und die Gleichheitsforderung einschränken.
Es ist ganz offenkundig, dass das moderne Denken aus den angegebenen Gründen sich scheut, den Personbegriff auf Embryonen und ungeborene Kinder anzuwenden. Mit einer konstanten Argumentation wird dabei auf das Fehlen des Bewusstseins, der reziproken Anerkennung und der Empfindungsfähigkeit verwiesen, wobei gerade das letzte Argument im Blick auf moderne Entdeckungen recht differenziert und vorsichtig gehandhabt werden muss.( Vgl. dazu nur mit vielen Analysen, Beispielen und Bildern: Irene von Hardenberg, Erlebnisraum Mutterleib, in: GEO, Juli 2001, Heft Nr. 7, 18-42) Immerhin sieht I. Kant Personsein und menschliche Natur in einem unlöslichen Zusammenhang, was freilich die theoretische Vernunft nicht erkennen kann, die praktische Vernunft muss dies postulieren. Kant unterstellt den Zusammenhang, vermag ihn aber von seinem Ansatz her nicht auszuweisen.
Es ist gewiss eine Frage der Sprachregelung, ob man das ungeborene menschliche Leben – gerade im Licht des modernen Sprechens von Person – wirklich mit personalen Kategorien beschreiben soll. Es ist jedenfalls schädlich gewesen und ist es noch, den Embryo vom Personsein und irgendwie auch vom Menschsein auszunehmen. Dafür ist vor allem Lockes Personbegriff verantwortlich. Dies hat aber nicht dazu führen können, dem Embryo auch in weiten Teilen der neuzeitlichen Philosophie abzusprechen, dass er ein „ens morale" ist.( Vgl. dazu Th. Kobusch, Die Entdeckung der Person, 102ff. 267ff.; L. Honnefelder, Person und Menschenwürde, 230ff ) Für den, der in der klassischen Philosophie geschult ist, lässt sich menschliches Denken, das nicht personales Denken ist, gar nicht konzipieren. „Denn was würde sonst das menschliche Leben nachträglich zu einem personalen Leben machen, etwa die Selbstbestimmung oder die Anerkennung durch andere... Personsein setzt doch gerade eine ursprüngliche Fähigkeit zur Selbstbestimmung voraus, kann also nicht durch diese erst konstituiert werden. Und würde Personsein durch Anerkennung durch andere konstituiert, würde die Person zum Produkt der menschlichen Gesellschaft, während sie dieser Gesellschaft doch als etwas zu Respektierendes vorgegeben ist."( J. Reiter, Menschliche Würde und christliche Verantwortung, 104f ) Im Horizont des neuzeitlichen Denkens, das hier freilich auch schon zum Teil überwunden ist(Vgl. Th. Kobusch, Die Entdeckung der Person, bes. das Nachwort der zweiten Auflage, 263-280), wird man vielleicht mit einer stark philosophisch pointierten Diktion etwas zurückhaltender sein. Auf jeden Fall muss man den Begriff erklären, was nicht ganz leicht ist, und die Intentionen aufzeigen, die diese Sprache erforderlich machen. In diesem Sinne ist die Rede von der Personalität oder von einem personalen Anfang des Embryos der Sache nach gerechtfertigt. Man sollte um der Klarheit willen diesen Begriff auch auf keinen Fall aufgeben.( Für die hier anstehenden Fragen sind die beiden Bände „Personen" (Stuttgart 1996) und „Grenzen" (Stuttgart 2001) von R. Spaemann noch längst nicht in ihrer Bedeutung erkannt. )
Der Personbegriff hat einen stark praktischen Einschlag. Als Theologe, der vor allem mit dem Personenverständnis in der Trinitätslehre und in der Christologie vertraut ist, kann man dies nicht auf Anhieb erkennen. Von der römischen Welt her, besonders von Cicero, ist das Abendland gewohnt, den Rang des Menschen in der Menschenwürde zu sehen. Sie verbindet sich schon bei Boethius und vor allem bei Thomas von Aquin mit dem Status, Person zu sein. Die Verantwortlichkeit für das eigene Handeln steht dabei in der Mitte. Inhaltlich wird dieser Personbegriff sehr stark von der Lehre der Gottebenbildlichkeit gefüllt, fällt aber nicht schlechthin einfach mit ihr zusammen. Deshalb wird der Begriff der Menschenwürde auch in der frühen Neuzeit in Denksystemen, die eine gelockerte Bindung an die christliche Glaubenslehre haben, aufgegriffen und dazu benutzt, das schöpferische Vermögen, aber auch die Gleichheit aller Menschen zum Ausdruck zu bringen.( Vgl. G.P. della Mirandola, Über die Würde des Menschen, Zürich 1988; E. Schockenhoff, Naturrecht und Menschenwürde, Mainz 1996; Ph. Balzer u.a., Menschenwürde vs. Würde der Kreatur, Freiburg i.Br. 1998; F.J. Welz, Die Würde des Menschen ist antastbar, Stuttgart 1988, bes. Kap. 7, 271 – 399) Kant begreift die dem Menschen eigene Würde als Selbstzwecklichkeit und also von der Autonomie her. In den Texten „Charta der Vereinten Nationen" (1945), der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" (1948) und ähnlichen Texten kommt der Begriff zu einer hohen Anerkennung. Er bezeichnet den unverlierbaren und unantastbaren Eigenwert der Person im Unterschied zu ihrer Verzwecklichung und Vernutzung in totalitären Gesellschaften.( Vgl. dazu knapp und klar L. Honnefelder, a.a.O., 221ff.; zum weiten Hintergrund vgl. auch mit reicher Lit. J. Reiter, Über die Ethik der Menschenwürde, in: Weg und Weite. Festschrift für Karl Lehmann, hrsg. von A. Raffelt unter Mitwirkung von B. Nichtweiß, Freiburg 2001, 443-454)
Die Menschenwürde ist keineswegs nur eine Leerformel, wie immer wieder behauptet wird. Gewiss besteht ihre Grenze darin, dass sie vorwiegend eine formale Größe darstellt, aus der keine konkreten Normen positiver Art unmittelbar abgeleitet werden können. Eine heute manchmal inflationäre Berufung auf die Menschenwürde kann diesen großen Gedanken gewiss entwerten. Aber gerade von der Thematik des moralischen Status des Embryos her gewinnt der Begriff durchaus an Gehalt und ist besonders auch im Blick auf die Menschenrechte inhaltlich bestimmt und ethisch fordernd. In diesem Sinne ist es hilfreich, wenn sowohl der Begriff der Person als auch der Menschenwürde von ihrer praktischen Aufgabe her gesehen werden. In diesem Sinne verbinden beide Begriffe die Menschen untereinander, denn sie veranlassen ihn zur gegenseitigen Anerkennung in ihrer Würde. Damit wird auch der konkrete Menschenrechtsgedanke gestützt. „Zum Menschenrechtsgedanken gehört daher das Gebot der Unantastbarkeit der Person und das Verbot, dies von etwas anderem abhängig zu machen als der Tatsache, Mensch zu sein.( L Honnefelder, a.a.O., 261) R. Spaemann bringt seinerseits die Sache auf eine gute Formel, wenn er dies alles mit dem Eintritt eines Menschen in die Menschheitsfamilie zusammenbringt: „Es kann und darf nur ein einziges Argument für Personalität geben: die biologische Zugehörigkeit zum Menschengeschlecht."( R. Spaemann, Personen, 264; Grenzen, ...) Darum besteht aber das große Recht des Menschen, der ursprüngliche Schutz, darin, dass dem Embryo als Menschen nicht schon die Eintrittskarte in die Welt und die Menschheitsfamilie verwehrt wird. Dies wäre gerade bei der Ohnmacht des Ungeborenen, die seine Menschenwürde nicht aufhebt, sondern noch mehr zur Beachtung aufgibt, eine ganz und gar unerlaubte Verletzung der fundamentalen Menschenrechte. Von daher versteht sich der Titel dieses Beitrags: Das Recht, ein Mensch zu sein.
Gewiss kann man darauf hinweisen, dass zwischen der Embryologie und einer philosophisch-theologischen Auswertung der empirischen Befunde da und dort noch einige Fragen offen sind. Aber dies kann die Kraft des hier vorgetragenen Argumentes letztlich nicht schmälern. Man muss nämlich die Frage nach dem, was das menschliche Leben im Anfang bestimmt, immer wieder auch von der Endgestalt des Menschen auf den Anfang hin zurückverfolgen. Wenn man dann ohne Schwierigkeiten die Menschenwürde des Erwachsenen anerkennt und sieht, wie konsequent die Verwirklichung des genetischen Erbes des Menschen mehr oder weniger bruchlos und ohne erkennbare anthropologische Zäsuren erfolgt, dann muss man selbst im Zweifel vorsichtshalber und zur Sicherheit, also tutioristisch davon ausgehen, dass der Embryo bereits ein menschliches Wesen ist, dem Individualität und damit ein personaler Charakter zu eigen ist. Im Sinne dieser Regel des Tutiorismus – in der modernen Ethik heißt es: benefit of the doubt argument – ist man bei einem nicht behebbaren Zweifel in der moralischen Bewertung einer Handhabung verpflichtet, dem Prinzip zu folgen: idem est in moralibus facere et exponere se periculo faciendi (eine Tat zu begehen und sich der Gefahr auszusetzen, sie zu begehen, ist moralisch gleich zu bewerten). In diesem Fall ist man also verpflichtet, um der Wahrung der Menschenwürde und der Menschenrechte willen der jeweils strengeren Meinung zu folgen.( Vgl. zum Tutiorismus in unserem Zusammenhang: Beginn, Personalität und Würde des Menschen, 238, 309f., 389, 396 (Zitat: 396)) Vielleicht gelten diese Überlegungen in keinem ethischen Bereich so schwer und ernst wie auf dem Feld des vorgeburtlichen Lebens des Menschen. Denn das Leben ist zwar nicht das höchste, wohl aber das fundamentalste Gut des Menschen.
Die Lebenswissenschaften, wie man sie heute gerne nennt, haben uns in den letzten Jahrzehnten faszinierende Einblicke geschenkt in die Entwicklung eines menschlichen Embryos. Durch die Möglichkeiten einer hochentwickelten Technik können wir auf eine filmische Reise durch den menschlichen Körper mitgehen. Nicht zufällig heißt der Film-Titel z.B. des schwedischen Fotografen Lennart Nilsson „Faszination Liebe" oder ähnlich ein Buch von Rainer Jonas „Der wunderbare Weg ins Leben". Dies gilt nicht nur für die gesamte Entwicklung von der Empfängnis bis zur Geburt, sondern besonders auch in den ersten Stunden und Tagen des menschlichen Embryos. Wir können erkennen, was für eine riskante Reise die mit dem bloßen Auge nicht erkennbare Eizelle von der Befruchtung bis zur Einnistung überstehen muss. Es gibt unendlich viele Gefährdungen, aber gerade dadurch ist es auch ein Wunderwerk, wie das ungeborene Leben in den geglückten Fällen sich durchsetzt. Wie kann aus einer einzigen Eizelle ein solch differenziertes Lebewesen wie ein Mensch entstehen? Von Anfang an suchen plötzlich bestimmte Zellen zueinander den Kontakt, um sich zu verbinden, aber auch ihre je eigene Aufgabe zu übernehmen.
Die Lebenswissenschaften lassen uns teilnehmen an den geradezu dramatischen Veränderungen des Embryos, an der Anlage aller lebenswichtigen Systeme und der früh einsetzenden Ausbildung der Organe. In einer immer wieder erstaunlichen Weise sind von Anfang die späteren Entwicklungen eines Menschen genetisch angelegt. Es darf hier aber nicht auf einen bloßen Automatismus der Entwicklung geschlossen werden. Bei aller Eigenentwicklung, die auch durch die schon frühe Selbststeuerung des Embryos in der Entwicklung ihren Ausdruck findet, ist die Aufnahme in den Mutterschoß ein entscheidendes Ereignis, das für die Zukunft erst weiteres Leben ermöglicht. Diese Abhängigkeit von der Mutter darf aber nicht verdecken, dass der Embryo bereits ein individuelles menschliches Lebewesen ist, das ein eigenes Recht auf seine Existenz hat und darum auch Achtung vor ihm verlangt. Wir wissen, wie einzigartig diese Zwei-Einheit von Mutter und Kind ist. Es wäre darum auch falsch, wenn der Mensch nun selbst im Blick auf diese Entwicklung Zufall spielen möchte und sich in Verkennung der Rechte des Embryos verführen ließe, nicht zuletzt angesichts seiner Kleinheit und Abhängigkeit über ihn zu verfügen. Dabei geht es nicht um ein Verbot von Forschung überhaupt. Im Gegenteil, sie offenbart ja erst in ungeahnter Weise das Wunder des Lebens. Aber es ist uns nicht erlaubt, verbrauchend und damit vernichtend über anderes menschliches Leben zu verfügen, auch und gerade wenn es so winzig ist.
Verstehen wir genügend diese ungewöhnliche Bildersprache der frühesten menschlichen Entwicklung? Was klein und unscheinbar ist – am Anfang nur Bruchteil eines Millimeters –, kann offenbar rasch dazu verleiten, den Embryo nur aus der Perspektive der menschlichen Absichten und Ziele zu verstehen. Er erscheint dann nur als „Zellhaufen". Dies ist eine gefährliche Sprache. Kein Wunder, dass gelegentlich Forscher erklären, wenn man sie auf die Rechte und Würde eines Embryos anspricht, sie wüssten überhaupt nicht, wovon man rede. Wahre Forschung entdeckt ja gerade die abenteuerliche Entstehung eines Menschen. Oder gibt es langsam, auch durch Gewohnheit und Routine, Einstellungen, die dies zurückdrängen und gar vergessen lassen? Oder wie kommt man sonst zur Rede vom bloßen „Zellhaufen"?
Die Faszination vor dem Wunder des Lebens ist nicht nur eine emotionale Angelegenheit oder eine erste Überraschung für den, der noch nichts oder nicht viel weiß. Man lässt das Staunen nicht einfach hinter sich, wenn man Erkenntnisfortschritte macht. Es muss den Forscher bei aller Eigengesetzlichkeit seines Vorgehens wenigstens indirekt begleiten und so gegenwärtig bleiben. Die Einsicht in das Wunderwerk der Natur stärkt die Rechte des Embryos, dem wir mit guten Gründen Personalität zuerkennen.
Dies hat zur Konsequenz, dass uns alle Wege der Erkenntnis und der Forschung offen stehen, aber sie dürfen nicht zur bewussten Tötung eines Embryos führen. Die Würde des personalen Wesens des Menschen besteht gerade darin, dass er niemals in seiner ganzen Existenz für andere Ziele verzweckt und instrumentalisiert werden darf. Daran kann auch ein freilich oft noch wenig begründetes Heilungsversprechen gewiss sehr belastender Krankheiten für die Zukunft nichts ändern. Die Forschungsfreiheit muss von sich aus erkennen, dass ihr hier Grenzen gesetzt sind, die nicht willkürlich von außen gezogen werden. Im Übrigen müssen alternative Forschungswege, die nicht zu solchen Konflikten führen, viel grundlegender vom Staat und der Industrie gefördert werden. Dies gilt z.B. für die durchaus erfolgversprechende Forschung an Stammzellen erwachsener Menschen.
Diese Position ist keine katholische oder christliche Sonderlehre. Man kann sie gewiss auch nicht einfach von den immer interpretationsbedürftigen Ergebnissen empirischer Wissenschaften ableiten. Es gibt jedoch für die vorgetragene Position gerade durch neuere Einsichten viele gute stützende Argumente. Auch wer einer anderen Meinung zuneigt, sollte fair die Gründe für diesen Vertrauensvorschuss zugunsten des Lebensrechtes wenigstens als plausibel anerkennen. Das Embryonenschutzgesetz aus dem Jahr 1990, das damals einstimmig vom Bundestag verabschiedet worden ist, ist ein guter Beleg dafür, dass diese Überzeugungen durchaus verbindliche Werte repräsentieren, die für alle gültig sind. Deshalb dürfen wir es nicht aushöhlen. Auch nicht durch letzen Endes enttäuschende und unhaltbare Kompromisse.
Gegen Ende dieser Überlegungen soll eine Reflexion stehen, die nur angedeutet, aber nicht genügend ausgearbeitet werden kann. Die beiden Konzeptionen über die Wertung des moralischen Status des Embryos entstammen wohl auch verschiedenen Denkweisen und Perspektiven menschlicher Erkenntnis. Dabei darf man es sich nicht zu einfach machen und alles nur auf die Differenz zwischen natur- und humanwissenschaftlichen Methoden und geisteswissenschaftlichen Zugängen zu einer Sache zurückführen. Aber es gibt zweifellos auch „Mentalitäten", die sich im Umgang mit einer Wirklichkeit ausbilden. Der Embryologe kann bei seiner heutigen Spezialisierung sich im hohen Maß auf das ihm vorliegende biologische „Material" beschränken. Die Arbeitsteilung und die Spezialisierung verlangen sogar eine solche Aszese. Eine solche habituell gewordene Umgangsweise und Sicht kann aber auch nicht unwichtige Dimensionen in der Erkenntnis einer Sache verdecken. Man weiß immer mehr von immer weniger. Dennoch oder vielleicht gerade deswegen ist diese Forschung auch wiederum so faszinierend, weil sie tatsächlich zu immer mehr Entdeckungen vordringt.
Den Human- und Naturwissenschaften wird nichts von ihrer Größe und ihren Erfolgen genommen, wenn man sie auf diese Grenzen hinweist. Ich habe fünf bis sechs eindrucksvolle, umfangreiche deutsche und internationale Handbücher der Embryologie und der Humangenetik gründlich angesehen, aus denen ich für das Thema viel gelernt habe. Ich habe auch aus vielen Gesprächen mit Naturwissenschaftlern gelernt. Ich kann dabei durchaus verstehen, dass kaum einer die Frage verfolgt, wer und was das ist, das er in seiner Forschung untersucht, bearbeitet und manipuliert. Aber kann man einfach davon absehen, dass es sich um frühestes, vollwertiges menschliches Leben handelt? Gibt es nicht eine merkwürdige Einstellung zu den „Objekten", wenn man diese Frage ständig „einklammert"? Es gab ja immer wieder auch heilsame Unterbrechungen solcher Umgangsweisen mit dem Menschen und der sterblichen Hülle, die er zurücklässt. Ich war sehr beeindruckt, dass mich in Freiburg an der Universität in der Wiederaufnahme eines alten Brauches die Professoren und die Studenten der Pathologie baten, ich möchte jeweils Anfang November zu einer Feierstunde und zu einem Friedhofsgang für die Menschen kommen, mit denen sie sich konkret in der Pathologie beschäftigten. Neben dem Experiment und dem Sezieren ist die Pietät nicht verloren gegangen. Wäre dies nicht auch ein Hinweis auf andere Weisen des Umgangs mit dem Menschen?
Ich bin nämlich nicht selten entsetzt über die Sprache, die hier oft verwendet wird. Da ist im Blick auf die Embryonen erstaunlich unbefangen, auch in gedruckten Äußerungen, die Rede vom „Material", vom „Zellhaufen" und vom „Rohstoff Embryo". Solche Rede ist verräterisch.
An einem Beispiel soll am Ende gezeigt werden, was dies heißen könnte. Als ich die Hand- und Lehrbücher der Embryologie und Humangenetik studierte, fiel mir auf, wie wenig selbstverständlich es ist, dass ein Embryo gezeugt wird und ein Menschenkind auch wirklich das Licht der Welt erblickt. Besonders in dem aufschlussreichen, höchst lehrreichen Buch von H. Zankl „Von der Keimzelle zum Individuum", das in jedem Kapitel sehr sorgfältig die unzähligen Möglichkeiten von Störungen und Fehlbildungen hervorhebt, kann man lernen, was für eine fast unglaubliche Fügung es ist, dass ein ursprünglicher Keim, kaum größer als ein Punkt am Satzende, zu einem so faszinierenden Menschen heranwächst. Ich bin erschrocken, wie selbstverständlich wir dies alles betrachten. Der Humangenetiker darf wohl auch in den Augen der Wissenschaft darüber gar nicht sprechen. Er wäre unwissenschaftlich. Aber ist er menschlich, wenn er dies routinemäßig auf Dauer „einklammert" und verschweigt, vor welchem Wunder des Lebens er immer wieder steht? Die Griechen sahen den Anfang des Denkens im Staunen. Ist es der Wissenschaft verboten, mitten in ihren objektivistischen Entdeckungen, auch einmal zu staunen? Oder hat Martin Heidegger vielleicht doch Recht mit dem provozierenden, viel zu wenig beachteten Satz: Die Wissenschaft denkt nicht.( Vgl. zu M. Heidegger, Vorträge und Aufsätze; Pfullingen 1954, 45 – 70; ders. Was heißt denken? Tübingen 1954; ders., Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969)
Schließen möchte ich gerade vor diesem Hintergrund mit einem wunderbaren Psalmwort, das ich immer wieder in den letzten Jahren bei den vielen Auseinandersetzungen über das Leben des ungeborenen Kindes angeführt habe.( Vgl. K. Lehmann, Das Eintreten für das Lebensrecht des ungeborenen Kindes als christlicher und humaner Auftrag = Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz 16, Bonn 1991, 6 ff.; ders., Die Würde zur Weitergabe menschlichen Lebens wahren, in: Lebensbeginn und menschliche Würde, 32 – 40, bes. 34 ff., 36ff.) Der es geschrieben hat, hatte keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, die man heute auch nur entfernt so nennen könnte. Aber vielleicht hat er doch sehr viel mehr von der Welt begriffen:
„Herr, du hast mich erforscht, und du kennst mich.
Ob ich sitze oder stehe, du weißt von mir.
Von fern erkennst du meine Gedanken.
Ob ich gehe oder ruhe, es ist dir bekannt;
du bist vertraut mit all meinen Wegen...
Du umschließt mich von allen Seiten
und legst deine Hand auf mich.
Zu wunderbar ist für mich dieses Wissen,
zu hoch, ich kann es nicht begreifen...
Denn du hast mein Inneres geschaffen,
mich gewogen im Schoß meiner Mutter.
Ich danke dir, dass du mich so wunderbar gestaltet hast.
Ich weiß: staunenswert sind deine Werke.
Als ich geformt wurde im Dunkeln,
kunstvoll gewirkt in den Tiefen der Erde,
waren meine Glieder dir nicht verborgen.
Deine Augen sahen, wie ich entstand.
In deinem Buch war schon alles verzeichnet;
meine Tage waren schon gebildet,
als noch keiner von ihnen da war.
Wie schwierig sind für mich, o Gott, deine Gedanken,
wie gewaltig ist ihre Zahl.
Wollte ich sie zählen, es wären mehr als der Sand.
Käme ich bis zum Ende, wäre ich noch immer bei dir...
Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz,
prüfe mich und erkenne mein Denken!
Sieh her, ob ich auf dem Weg bin, der dich kränkt,
und leite mich auf dem altbewährten Weg!"
(Ps: 139, 1-3. 5.6.13-18. 23. 24)
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz