Gastkommentar in der Kirchenzeitung von Januar 2004
Am 12. Dezember 2003 haben die Bischöfe unter dem Stichwort „Das Soziale neu denken. Für eine langfristig angelegte Reformpolitik“ eine Studie vorgelegt, die in vieler Hinsicht ein positives Echo fand. Im übrigen ist entgegenstehende Kritik in einem solchen Bereich nützlich und notwendig. Es geht ja nicht um ein unumstößliches Dogma. Man kann und darf anderer Meinung sein.
Jede Kritik muss freilich dem zu Kritisierenden Gerechtigkeit entgegenbringen. In den wenigen rasch veröffentlichten negativen Stellungnahmen ist dies leider nicht der Fall. Dabei ist manches offenbar von Anfang an schlecht gelesen worden. Umbau des Sozialstaates bedeutet nicht automatisch Abbau. Im übrigen sieht der Bischofstext auch den Umbau nicht einfach unproblematisch, denn es wird ja die Sorge vorgetragen, und zwar als „Grundorientierungen für Reformen“, dass es dabei zu weiteren Ungleichheiten kommen könnte (Bevorzugung lautstarker Interessen zu ungunsten von leiseren Gruppierungen, wie z.B. Familien mit Kindern, Alleinerziehende, Langzeitarbeitslose u.a.; Bevorzugung aktueller Bedürfnisse gegenüber künftigen Generationen). Ich kann schlechterdings nicht verstehen, warum man gerade diese Kriterien für jeden Umbau als Zustimmung zu einem generellen Sozialabbau einfach übersieht.
Es ist auch völlig unangemessen, das Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“, kurz etwas missverständlich Sozialhirtenwort genannt, aus dem Jahr 1997 gegen dieses jüngste Dokument auszuspielen. Es gibt natürlich in einem Zeitraum von insgesamt sieben Jahren einige Unterschiede in der Entwicklung. Deswegen kann es auch durchaus im einzelnen andere Akzentuierungen und Zuspitzungen geben. Aber schon in den ersten Zeilen des Wortes von l997 steht der Satz: „ Der Sozialstaat ist an Belastungs- und Finanzierungsgrenzen gestoßen.“ (Vorwort) Von einer stärkeren Eigenverantwortung ist bereits damals an sehr vielen Stellen die Rede (vgl. Nr. 26 – 27, 109, 120, 149, 257). Gewiss ist das umfangreichere Wort von 1997, das stärker den ganzen Konsultationsprozess spiegelt, vielschichtiger, manchmal deshalb auch freilich weniger deutlich.
Schließlich wird immer wieder bedauert, dass der neue Text nicht gemeinsam mit der EKD verfasst wurde („Alleingang“). Ich habe entgegen manchen Behauptungen schon am 12. Dezember deutlich erklärt: Wir haben im sozialen und ethischen Bereich auch nach 1997 viele gemeinsameVerlautbarungen, z.B. zur Migration und zur Alterssicherung (ganz abgesehen von der Bioethik), aber wir sind auch getrennt marschiert, wie z.B. in den Äußerungen zur Gesundheitsreform. Es soll und wird auch in Zukunft beides geben, einzelne und gemeinsame Initiativen. Die evangelische Seite wurde stets informiert. Eine gewisse Rolle spielte sicher auch, dass – nicht zu unterschätzen – der Rat der EKD mit seiner Periode 2003 zu Ende ging und man nicht gerne den künftigen Rat im voraus in Pflichtnehmen wollte. Wir wollten aber nicht zu lange warten. Im übrigen haben die Stellungnahmen des neuen Ratsvorsitzenden Bischof Prof. Dr. Wolfgang Huber und des Vizepräsidenten aus der Kirchenkanzlei der EKD Dr. Hermann Barth deutlich gemacht, dass hier mehr Übereinstimmungen als Differenzen bestehen.
Die Art der Kritik kann ich mir letztlich nur verständlich machen von der Annahme her, dass eine Transformation des Sozialstaates (gerade um ihn zu erhalten!) nicht notwendig sei. Dies halte ich allerdings für eine groteske Fehleinschätzung, die wir uns in Verantwortung der Zukunft gegenüber nicht erlauben dürfen. Schon die demographische Schieflage, die in ihrem Ausmaß offensichtlich von vielen immer noch verkannt wird, sollte uns die Augen öffnen.
Gerade nach den Beschlüssen der Agenda 2010 vom 19.12. bedarf es für die nächsten notwendigen Etappen einer orientierenden Wegweisung im Sinne des Programms: Das Soziale neu denken.
© Karl Kardinal Lehmann
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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