Es gibt in unseren Tagen weltweit eine Erneuerung der Lehre von den Tugenden. Hatte man längere Zeit dieses Wort eher abschätzig gebraucht und fast nur etwas ironisch verwendet, nicht zuletzt in der Theatersprache, so hat heute innerhalb und außerhalb der Kirche die Ethik das Wort geradezu wiederentdeckt. So lernen wir auch die einzelnen Tugenden als Erfüllungen menschlicher Möglichkeiten neu kennen.
Zu ihnen gehört die Dankbarkeit und der Dank. Wir kennen den kleinen Dank für Gefälligkeiten, die wir z.B. beim Bedientwerden in einem Gasthaus erfahren. Der Dank gehört aber vor allem zum Empfang einer Wohltat, besonders wenn diese ganz unverdient ist. So kann sich der Dank auf ganz einfache Spielregeln des freundlichen Umgangs im menschlichen Zusammenleben beziehen, aber auch ganz elementar unsere Lebensstimmung zum Ausdruck bringen: Man nimmt sich nicht einfach alles ("unter den Nagel reißen"), sondern man anerkennt, dass man beschenkt worden ist, ohne einen Anspruch darauf zu haben.
In meinem Urlaub fiel mir immer wieder auf, dass die Menschen heute die Dankbarkeit als Grundstimmung unseres Lebens verlernt haben oder wenigstens nicht mehr genügend zum Ausdruck bringen. Wir leben fast nur noch in Selbstverständlichkeiten. Sehr vieles wird einfach geplant; auf nicht wenige Dinge unseres Lebens haben wir einen Anspruch; manches nehmen wir uns einfach und bemächtigen uns vieler Dinge, als ob sie herrenloses Gut wären.
Natürlich kann das Danken auch eine wohlfeile Floskel werden, die man relativ gedankenlos gebraucht. In Wirklichkeit aber hat das wahre Danken immer auch etwas mit Denken zu tun. Es ist nicht zufällig, dass beide Grundworte unseres Lebens auf eine Wurzel zurückgehen. Wer dankt, hält inne und nimmt die Dinge nicht für selbstverständlich. Nur wenn man die Selbstverständlichkeiten des Lebens unterbricht und – wie unsere Sprache schön sagt – nachdenklich wird, kommt man überhaupt in die Verfassung, ein Wort des Dankes zu sagen. Nicht alles in unserem Leben erhalten wir auf den uns am meisten vertrauten Wegen: Man erwirbt etwas durch Verdienst, kauft etwas durch Bezahlung oder erzwingt etwas durch verschiedene Formen von Gewalt. Wer dankt, anerkennt in Freiheit, dass er etwas empfangen hat, ob es ihm nun zusteht oder unverdientermaßen zukommt.
Wir brauchen wieder eine Kultur des Dankes untereinander, indem wir nachdenklicher werden. Dies gilt nicht nur für die tausend Kleinigkeiten des Alltags, sondern auch für unsere gesamte Lebensstimmung. Am Ende komm es darauf an, dass wir uns in unserem ganzen Dasein und Leben als beschenkte Menschen empfinden. Wir sind froh, dass es uns gibt, auch wenn nicht alles immer zum Jubeln einlädt und es auch manches Schwererträgliche gibt. Darum richtet sich nicht zuletzt ein ganz fundamentaler Dank an Gott den Schöpfer von allem, was ist. Wenn wir nachdenken, bemerken wir oft erst das Geschenk und viele Gaben für das Leben. Darum gehört zum Gebet in allen Religionen das Danken. Es hängt eng mit dem wahren Lob Gottes und mit dem rechten Bitten zusammen. Gewiss geschieht dies zuerst im persönlichen Beten, aber das Danken gehört grundlegend in den gemeinsamen Gottesdienst.
In den oft jämmerlich schlecht besuchten Gottesdiensten während des Urlaubs dachte ich manchmal, ob wir Menschen heute nicht das Dankenkönnen verlernt haben, Gott und den Mitmenschen gegenüber. Gerade besinnliche Urlaubstage – wenn man sie überhaupt will – sind eine außerordentlich gute Gelegenheit zum Denken und zum Danken. Wenn wir dies nicht wieder lernen, verkümmern wir als Menschen und werden ärmer.
(aus: Glaube und Leben - Kirchenzeitung für das Bistum Mainz, August 2001 )
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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