Das Thema "Familie" hat Hochkonjunktur. Untersuchungen und Veröffentlichungen sind schon rein quantitativ gestiegen. Dabei werden alle Dimensionen der Geschichte und der gesellschaftlichen Situation, der psychologischen Konstellation und auch der ethischen Komponente ins Auge gefasst. Die veränderte Lebenssituation der Familien wird nicht nur im Licht der jüngeren Generationen, sondern auch in den neuen fünf Ländern Deutschlands und in Europa untersucht. Gerade im Blick auf den eingetretenen Wandel stellen sich die Fragen: Wie stabil war die Familie in früheren Zeiten? Wie verbindlich war die Lebensform Familie im Alltag? Wo liegen die Ursachen für den gegenwärtigen Umbruch der Familie? Welche Entwicklungen werden die Zukunft der Familie bestimmen und leiten?
I.
Es ist erstaunlich, wie viele Veranstaltungen und Programme immer wieder das Lob der Familie singen und mit kräftigen Worten gegen manche heutigen Gefährdungen der Familie antreten. Die Familie wird als Keimzelle der Gesellschaft beschrieben; die Rechte der Familie sollen verteidigt und gefördert werden; jede Diskriminierung soll von ihr ferngehalten werden; die Familien sollen zu Selbständigkeit und Selbstbewusstsein ermutigt werden; die Familie erscheint als naturgegebene Gemeinschaft, die jedem Staat und anderen Gemeinschaften vorausgeht; darum hat sie auch unveränderliche Rechte. Diese vielen Veranstaltungen und Programme haben in dieser Hinsicht die Überzeugung vom Wert der Familie gesteigert und manches neu entdecken lassen, was eher als antiquiert galt.
Diese vielfältigen Veranstaltungen haben aber auch die Augen geöffnet für die immer wieder überraschende und auch verwirrende Komplexität der Familie. Es ist deshalb eine Täuschung zu meinen, die Lage der Familie sei ganz einfach und unkompliziert. Für viele sind Ehe und Familie immer noch eine gute Ordnung und für die meisten sind sie eine tiefe menschliche Hoffnung. Dies wird oft übersehen. Im Bewusstsein vieler sind Ehe und Familie in ihrer normalen Erscheinung jedoch auch so etwas wie "auslaufende Modelle". Es hat keinen Sinn, vor dieser Unübersichtlichkeit und Widersprüchlichkeit der Situation die Augen zu verschließen. Wer dies tut, trübt nicht nur sein Wahrnehmungsvermögen und erleidet einen Wirklichkeitsverlust, sondern er nimmt sich auch damit die Möglichkeit, scharfsinnig, geistesgegenwärtig und hilfreich die Wandlungen und Chancen, die Grenzen und Gefährdungen der Familie zu erkennen. Für den Umgang gerade der Kirche mit der Familie bedeutete eine solche Blindheit einen unermesslichen Schaden.
Viele Veränderungen liegen auf der Hand und äußern sich auf eine mannigfaltige Weise. Die Lebensformen haben sich vervielfältigt und haben das Ideal der "normalen" Familie gesprengt. Es gibt neue Einstellungen zur Familiengründung und zum Familienleben. Die Spannungen zwischen Familientätigkeit und Erwerbstätigkeit sind groß. Scheidungen und Wiederheirat nehmen zu. Der Familienbegriff wird durch die Vielfalt der Formen erweitert: alleinerziehende Eltern, Stieffamilien, Mutterfamilien aufgrund lediger Mutterschaft oder aufgrund von Scheidung, Vaterfamilien, alleinerziehende Eltern durch Verwitwung. Dies sind nur wenige Stichworte aus der Diskussion. War der bisher maßgebliche Familienbegriff durch die Zusammengehörigkeit von Ehe und Kindern geprägt, so hat sich dieser Zusammenhang in vieler Hinsicht gelockert: durch den Geburtenrückgang in quantitativer Hinsicht, durch die Zunahme der Scheidungshäufigkeit im Blick auf die Stabilität und durch die Reduzierung der Heiratshäufigkeit hinsichtlich der Akzeptanz und Attraktivität. So wird der Begriff der Familie ausgedehnt und auf sogenannte "familiale Gemeinschaften" angewendet, wobei auch nichteheliche Lebensgemeinschaften mit und ohne Kinder einbezogen werden. Den sogenannten alternativen Familienformen möchte man nach Möglichkeit gleiche Rechte gewähren wie den durch Ehe begründeten Familien. Zwei wesentliche Komponenten der "Institution Familie" treten immer stärker auseinander, nämlich Partnerschaft und Elternschaft. Sie werden mehr und mehr getrennt und auch verschieden bewertet. In diesem Licht wird auch der grundgesetzlich verbürgte besondere Schutz für Ehe und Familie mehr und mehr relativiert (Art. 6 GG).
Es gibt selbstverständlich viele Gründe für diese Veränderungen. Dabei gibt es noch recht allgemeine Erklärungsmuster, wie z.B. Industrialisierung, Verstädterung, Bürokratisierung und Individualisierung. Aber dies ist zweifellos noch zu wenig spezifisch. In jüngster Zeit werden andere Motive für die Veränderungen genannt, die noch stärker als Auslöser infrage kommen: die wachsende Berufstätigkeit von Frauen, ihre zunehmende Beteiligung an der Bildung, Änderungen in der Einstellung zu Sexualität und Ehe, die Verbreitung empfängnisverhütender Maßnahmen, ja überhaupt die Anwendung von "Fruchtbarkeitstechnologien", Änderungen in der Beziehungsform der Verbindlichkeitsschwund der Ehe. So ist auch erklärlich, dass nach Ansicht zahlreicher Soziologen der einschneidende Wandel zusammen mit einer Änderung in der Einschätzung der Rolle der Frau in vielen Ländern zeitlich zusammenfällt. Als entscheidende Zäsur wird allgemein die zweite Hälfte der sechziger Jahre angenommen. Vieles, was sich in der Einschätzung und im Wandel der Familie bis zu diesem Zeitpunkt vollzog, spielte sich weitgehend am Modell der neuzeitlichen, stark auf Privatheit abgestellten Kernfamilie (Eltern mit ihren leiblichen Kindern) ab, während die nachfolgenden Entwicklungen tatsächlich eher auf eine neue Vielfalt von Familienformen hinauslaufen.
Die Verknüpfung von Haushalt, lebenslanger Partnerschaft, biologischer Elternschaft und ausschließlicher Einehe, die offenbar schon im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit sich durchsetzten, löste sich mehr und mehr auf und erzeugte die Pluralität der erwähnten Lebensformen. Eher herrscht seit der Mitte der sechziger Jahre eine freiere Kombinierbarkeit von Ehe und Elternschaft vor. Hier scheint mir das am meisten Veränderungen anzeigende Phänomen zu liegen.
Es wäre im übrigen falsch, nur auf diese Veränderungen zu blicken. Viele Menschen streben - wie schon angedeutet - immer noch nach einem glücklichen Ehe- und Familienleben. Alternative Lebensformen sind entweder auf kleinere Subkulturen beschränkt oder werden als Auswege nach dem Scheitern der zuerst gewählten Lebensentwürfe gesucht. Man darf die zahlreichen Ehepaare nicht vergessen, die ihre gemeinsame Goldene Hochzeit feiern. Es ist gewiss nicht so, dass bestimmte Entwicklungstendenzen, die in begrenzten Milieus vorherrschen, allgemeine Entwicklungstrends darstellen.
Die Soziologen haben darauf hingewiesen, dass es neben der Schwächung institutioneller Elemente im Blick auf die Ehe teilweise auch Verstärkungen institutioneller Bindungen gibt, besonders im Blick auf die Verpflichtungen bei der Elternschaft, und hier z.B. in der Vater-Kind-Beziehung.
Das anfänglich so einfach erscheinende Bild der Lage der Familie ist also in Wirklichkeit viel komplexer. Es gibt zwar steigende Scheidungszahlen, eine abnehmende Geburtenrate und die Zunahme der Ein-Personen-Haushalte. Aber es gibt auch einen gerade bei jungen Menschen häufig vorkommenden festen Willen zu einer geglückten Ehe. Vielleicht kann man sogar sagen, dass der allgemeine gesellschaftliche Veränderungsprozess, der auch die Lebensgeschichten einzelner Menschen tief erfasst, die Familiensituationen außerordentlich verändert hat. Man darf also nicht nur auf die "Pluralität der Familienformen" starren, sondern muss auf die Platzierung der Familie in den gesellschaftlichen Veränderungen blicken.
Die in eine größere Selbständigkeit entlassenen Mitglieder der Familie werden oft von den Zwängen gesellschaftlicher Verhaltensmuster überfordert. Die Menschen werden vor die Wahl zwischen Familien- und Berufskarriere gestellt. Die Priorität der Berufslaufbahn ist oft mit dem Verzicht auf Kinder erkauft. Die Entscheidung für die Familie führt freilich nicht selten zur Erfahrung von Enttäuschungen auf der Suche nach Selbstverwirklichung, zumal wenn diese nach dem Muster der neuzeitlichen Emanzipation angestrebt wird. Ehe und Familie erfahren heute eine seltene Intimität und Privatheit. Die Kernfamilie lebt oft sehr abgeschieden von weiteren sozialen Bezügen. Zugleich haben Umwelt und Mitwelt, nicht zuletzt auch durch die Schule und die Medien, einen so großen Einfluss auf die Familienmitglieder, besonders die Kinder und Jugendlichen, dass die verbleibende und oft auch schwache Integrationskraft der "Normalfamilie" die daraus entstehenden Spannungen kaum verkraften kann. Hinzukommen schwierige Probleme der Wohnungsfindung und der Verträglichkeit mit den Bedingungen der Arbeitswelt. Man denke nur an Schichtarbeit und die zeitlichen Verschiebungen der gemeinsamen Lebensmöglichkeiten durch die Flexibilisierung der Arbeitszeit. Wenn dann Partnerschaftskonflikte und Belastungen anderer Art, wie z.B. Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Verschuldung hinzukommen, entsteht ein sehr prekärer Schwebezustand, der unter bestimmten Umständen auch rasch zum Scheitern der Gemeinschaft führen kann. Dabei darf man die hohen Erwartungen der Eltern an die Kinder und ihre Erziehung ebenso wenig vergessen wie die Erwartungen der Gesellschaft an die Fähigkeiten der Eltern. Viele Faktoren ergänzen dieses Bild: der Anstieg des Lebensalters kann die Belastungen verstärken; das Problem der Kinderbetreuung kann oft nicht gelöst werden; die innerfamiliäre Arbeitsteilung gerät ins Stocken.
Bei der hohen Sinnerwartung an Ehe und Familie können diese Anforderungen leicht zu einer Überforderung werden. Darum erscheint die Familie heute für alle Beteiligten oft wie ein Balanceakt, bei dem viele in Spannung stehende Elemente und Interessen, wie z.B. Erwerbstätigkeit und Familienzuwendung, immer wieder einen Ausgleich finden müssen. Wenn dieser Balanceakt nicht gelingt, kommt es zu Trennung und Scheidung, die oft sehr viele Faktoren einschließen. Deshalb ist eine sehr genaue Erklärung der Scheidungsgründe und der Scheidungshäufigkeit auch gar nicht so einfach, wie man sich dies oft denkt.
II.
Diese kleine Skizze soll zunächst in Erinnerung rufen, in welchen Verbindungen und Spannungen heute die Wirklichkeit der Ehe zu suchen und zu finden ist. Auch wenn gewiss in jeder Ehe und Familie so etwas wie bleibende Grundstrukturen zu finden sind, so sind diese doch tief in gesellschaftliche und psychologische, soziale und individuelle Faktoren und Motive eingelagert. Man kann nicht einfach eine naturwüchsige Ordnung der Ehe voraussetzen, sondern muss diese zeitüberdauernden Elemente in einer tiefen Wandelbarkeit von Ehe und Familie zu erfassen suchen. Darum ist es auch schwer, auf eingeübte, überkommene Regeln und Rituale allein zurückzugreifen. Aber es ist nicht so, dass man diese oft verborgene Welt einer heilen Ehe nicht finden könnte, und sei es als Sehnsucht. Auch wo die Tendenz zur Individualisierung und Selbstverwirklichung dominiert, gibt es Hunger nach Geborgenheit und Nähe. Die Menschen sehnen sich nach Bindungen, die glücken. Aber diese Bindungen sind im Blick auf ihren Verpflichtungscharakter und manches andere, wie Dauer und Umfang, anders. Sie sind viel stärker auf freie Akzeptanz gegründet, die durchaus auch Bindung, Liebe und Selbstlosigkeit kennt. Aber diese werden nur durch das freie, personale Ja hindurch gewonnen. Hier muss man näher zusehen. Wenn der institutionelle Charakter der Ehe in den Hintergrund tritt und dafür sehr viel mehr die Beziehungsebene und damit Emotionen bedeutsam werden, können Enttäuschungen über den Partner die Auflösung der Ehe begünstigen. Das Scheidungsrisiko wächst. Die wechselseitigen Ansprüche können so stark werden, dass es kaum mehr Ausgleichselemente geben kann. Umso mehr muss von der Personalität her die institutionelle Dimension von Ehe und Familie wiederentdeckt werden, die es durchaus gibt. So darf eben das freie, personale Ja der Partner zueinander bei aller Verwurzelung in der Sphäre persönlicher Entscheidung nicht nur individuell oder privat verstanden werden. Das verbindlich und öffentlich gesprochene Ja-Wort kann auch zu einem Schutz der Zuneigung werden. Die Treue besiegelt die Liebe und bindet diese an ihren eigenen Willen. So ist sie nichts Fremdes, das einfach von außen kommt. Die moderne Anthropologie hat hier zwischen Person und Institution einen tiefen Graben gezogen, der sich besonders in dem Ja der Liebe zum Partner bemerkbar macht. Darum bedarf es einer großen Anstrengung, die noch längst nicht genügend unternommen worden ist, das freie Ja der Liebe mit einem Sinn von Institution zusammenzudenken, der sich als selbstgewollte Ergänzung und Korrektur versteht.
Viele Religionen und erst recht die Bibel sind sich bewusst, dass der endliche und fehlbare Mensch ein unbegrenztes und vorbehaltloses Ja zu einem wiederum endlichen und fehlbaren Partner nur dann voll sagen kann, wenn er weiß und erfährt, dass unsere Unbeständigkeit bei allem guten Willen von einem letzten Halt getragen ist. Gott spricht den Menschen in der Ehe und der Familie seine bleibende Gegenwart zu, wenn wir uns nur seinem Anspruch und Zuspruch öffnen. Damit erhält der Mensch durch Gottes Gabe die Kraft, immer wieder zusammenzufügen, was auseinanderstrebt. Dadurch dass ein Dritter, der einen gemeinsamen Grund und Boden für eine Gemeinschaft stiftet, zwischen die Menschen tritt, können diese über sich hinaus wachsen. Sie werden eine Gemeinschaft, in der beide Partner Gebende und Nehmende sein können. Das gemeinsame Leben wird so ein Lernprozess. Zwei Menschen müssen mit ihren Verschiedenheiten und Erwartungen immer einen Einklang finden und fähig werden, Verständnis für das Anderssein des Partners aufzubringen. Sie müssen die Bestrebungen des anderen uneigennützig fördern und immer wieder zu einem Ausgleich der Interessen und Neigungen gelangen. Dies verlangt gewiss ein Zurückstellen der eigenen Wünsche, ja Verzicht, und die Bereitschaft zur Vergebung. Allzu einseitige Vorstellungen von Selbstverwirklichung, die sich nur die eigenen Bedürfnisse zum Maß nehmen, kommen so schnell an ihre Grenze. Das eigene Lebensglück und das Wohlergehen der anderen gehören zusammen.
In diesem Sinne sind Ehe und Familie eine tiefe Gemeinschaft des Lebens, das sich immer wieder selbst übersteigt, sich mitzuteilen und wegzugeben vermag. Hier geht es um die Möglichkeit gegenseitiger Anerkennung, um Verlässlichkeit im Beieinanderbleiben, um das Arbeiten an Konflikten und die Fähigkeit, Gegensätze zu ertragen und zu einer neuen Gemeinsamkeit zu kommen. So gewährt gerade die Familie Lebenschancen für andere, für das Kind, in dem sich die Liebe zweier Partner übersteigt und zugleich wiederfindet. In einer solchen Atmosphäre können auch Kinder in einem möglichst stabilen Raum von Geborgenheit und Vertrauen aufwachsen. Der Lebensalltag der Familie kennt gewiss Konflikte und Belastungen, die heute erst recht unvermeidlich sind, aber nirgendwo kann auch besser gelernt werden, solche Belastungen und Schwierigkeiten zu verarbeiten. Dafür haben die allermeisten Menschen auch heute noch einen tiefen Sinn. Wenn sie ein Kind möchten, heiraten viele Menschen nach wie vor. Kinder brauchen eine verlässliche und vertrauensvolle Gemeinschaft, um frei und geborgen heranwachsen zu können. Wer schließlich bei allen Bedrohungen und Beschädigungen das Leben als Geschenk erfährt, wird auch den Mut haben, es weiterzugeben. So schafft die Gemeinschaft des Lebens wirkliche Lebensfreude.
Vielleicht kann man auch von hier aus verstehen, was es bedeutet, wenn eine Partnerschaft oder gar eine Ehe sich grundsätzlich der Weitergabe des Lebens verweigert. Sie steht in großer Gefahr, auf sich selbst zurückzufallen und auseinanderzubrechen. Wenn Mann und Frau bereit sind, ihr ganzes Leben wirklich miteinander zu teilen, was sie haben und was sie sind, wird es auch leichter sein, Leben selbst weiterzuschenken.
Diese Überlegungen zeigen aber auch, dass das Leben der Familie nicht von selbst zu einem guten Ziel gesteuert wird. Weder die Biologie noch die Psychologie kennt Gesetze, die das gute Leben von selbst herstellen. Gewiss muss das Leben in der Familie durch einen entschiedenen sittlichen Grundwillen, der im Jawort gründet, gestaltet werden. Insofern ist jede Ehe und Familie eine Schule der Humanität und des sozialen Umgangs miteinander. Sie sind nicht einfach ein System, das in sich selbst funktioniert. Aber man muss auch gegen Entwicklungen in der Gesellschaft, in der Wirtschaft und in der Politik ankämpfen, die das Leben in der Gemeinschaft der Familie gefährden oder beeinträchtigen. Darum ist die Familienpolitik, die wachsam die Veränderungen in der Gesellschaft auf ihre Auswirkungen hin beobachtet, wichtiger denn je. Nur wenn die Lebensbedingungen für die Ehe und Familie immer wieder gerettet und zu ihren Gunsten korrigiert werden, können Ehe und Familie auch die Zukunft der menschlichen Gemeinschaft tragen. Als kleinste soziale Zelle ist die Familie in besonderer Weise verletzlich und zerstörbar. In diesem Sinne ist es notwendig, stets wieder für den Schutz der Familie als Keimzelle der Gesellschaft einzutreten.
Damit ist eine wichtige Voraussetzung erkennbar, die für die Zukunft der menschlichen Gemeinschaft lebenswichtig ist. Wenn die Familie gestärkt und unterstützt wird, dann ist sie auch in der Lage, das Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft richtig einzuspielen, ohne dass der einzelne individualistisch isoliert oder kollektivistisch an den Rand gedrängt wird oder in der Masse untergeht. Wenn die Familie als Gemeinschaft des Lebens gelingt, wehrt sich die Würde des Menschen gegen alle Vermassungstendenzen unserer Zeit. "Angesichts einer Gesellschaft, die in Gefahr ist, den Menschen immer mehr seiner personalen Einmaligkeit zu berauben und zur 'Masse' zu machen und so selbst unmenschlich und menschenfeindlich zu werden mit der negativen Folge so vieler Fluchtversuche - wie z.B. Alkoholismus, Drogen und auch Terrorismus -, besitzt und entfaltet die Familie auch heute noch beträchtliche Energien, die imstande sind, den Menschen seiner Anonymität zu entreißen, in ihm das Bewusstsein seiner Personwürde wachzuhalten, eine tiefe Menschlichkeit zu entfalten und ihn als aktives Mitglied in seiner Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit der Gesellschaft einzugliedern." (Papst Johannes Paul II., Familiaris consortio, Nr. 43)
Darum kann es auch schlechterdings nicht genügen, nur an den guten Willen zu appellieren oder ethische Grundsätze in Erinnerung zu rufen, wenn es um den Erhalt der Familie geht. Wer in ihr die Urzelle der menschlichen Gemeinschaft erblickt, muss heute auch dafür eintreten, dass ihr nicht strukturbedingte Nachteile in unserer Gesellschaft erwachsen, so dass sie trotz einer tiefen Sehnsucht des Menschen nach so etwas wie "Familie" nicht mehr als dafür geeignete Lebensform gewählt wird. Die Motivation zur Elternschaft und auch zu dauerhaften Partnerschaftsverhältnissen muss bis in die Steuergesetzgebung hinein gefördert werden. Wir können die familienpolitischen Maßnahmen der letzten Jahre nur begrüßen; das Urteil des Bundesverfassungsgerichts lässt jedoch erkennen, dass der notwendige Rahmen der Unterstützung noch längst nicht ausgeschöpft ist.
Aus unserer Verfassung erwächst dem Staat eine besondere Verantwortung für Ehe und Familie. Diese stehen "unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung", wie es in Art. 6 unseres Grundgesetzes steht. Mit Blick auf die spezifische Situation der Familie in modernen Gesellschaften geht es dabei vor allem um die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Dies ist nur durch eine Frauen-, Sozial- und Familienpolitik erforderlich, die die wirtschaftlichen Nachteile des Kinderhabens reduziert, Familientätigkeit in ihrer sozialen Wertigkeit höher anerkennt und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert. Ein Familienlastenausgleich muss diese wirtschaftliche Benachteiligung reduzieren. Ein angemessener Familienlastenausgleich ist jedoch nur ein erster Schritt. Gleichzeitig müssen auch Elternschaft und Familienexistenz als soziale Werte gesellschaftlich stärker anerkannt werden. Nicht nur die elterliche Erziehungsleistung muss stärker honoriert werden. Man wird aber wohl auch an eine deutliche Ausdehnung der Babyjahre im Rentenrecht denken. Mütter, die keiner Berufstätigkeit nachgehen, haben sehr mit der gesellschaftlichen Akzeptanz ihres Lebensentwurfes zu kämpfen. "Diese überragende Bedeutung der Erziehung von Kindern muss sich im Denken und Handeln der in Kirche und Staat verantwortlichen Männer und Frauen widerspiegeln. Sie muss in den Medien und in den Schulen, den beiden großen meinungsbildenden Instanzen unserer Gesellschaft, propagiert werden. Sie muss für die Menschen vor allem aber konkret, und zwar sowohl strukturell wie finanziell, zu spüren sein. Denn solange in der Schule und am Arbeitsplatz Leistung und Durchsetzungsvermögen mehr zählen als soziales Engagement und gegenseitige Rücksichtnahme, solange die Belange der Arbeit Vorrang haben vor den Belangen der Familie und solange die elterliche Erziehungsleistung finanziell nicht angemessen honoriert wird, bleibt jeder Lobpreis der Familientätigkeit bloßer Appell." (H.-G. Gruber, Familie und christliche Ethik, Darmstadt, 1995, 157) Solche Themen und Aufgaben gibt es in hoher Zahl in unserer Gesellschaft. Ich verweise auf die verschiedenen Familienberichte, die hier auch wichtige Anregungen enthalten.
In die Familie kann nicht genügend investiert werden, weil es keine andere Gemeinschaft gibt, die durch Selbstverantwortung so viel ermöglicht und leistet, heilt und rettet wie die Familie. Freilich müssen gerade die Rahmenbedingungen für das Gelingen von Familie immer wieder stimmig gemacht werden. Nur so bleibt es wahr, dass die Familie die Zukunft der Gesellschaft bedeutet.
Es gibt dennoch viele engagierte Politiker, nicht zuletzt auch aus dem Raum der christlich orientierten Parteien, die eine ziemlich große Skepsis haben im Blick auf Maßnahmen der Familienpolitik. Ich kann eine - aber nur eine - Perspektive dieser Skepsis verstehen. Es kann nicht nur um Außeneinwirkung gehen. Es wird sich nicht sehr viel verändern, wenn es nicht gelingt, durch die Schaffung familienfreundlicher Rahmenbedingungen die Eigengestaltung in den Familien besser anzuregen und zu inspirieren.
Diese Tendenz muss natürlich auch von der Gesellschaft unterstützt werden. Dies gilt z.B. auch im Blick auf Individualisierungs- und Privatisierungsbestrebungen, die in unserer Gesellschaft vorwiegend gewünscht werden und Unterstützung finden. Individuumbezogene Werte wie Erfolg, Selbstverwirklichung, Eigenständigkeit und Unabhängigkeit stehen ganz oben in der Werteskala. Diese Werte beeinflussen jedoch zunehmend auch das Leben in der Familie. Dies ist noch nicht von vornherein negativ zu sehen. Man muss nur die Defizite sehen. Dagegen werden Werte wie Hingabebereitschaft, Solidarität, Treue, Rücksichtnahme und Verzicht wenig honoriert. Es kann nicht einfach an den Eltern liegen, in dieser Situation Wertewandel in der Familie herbeizuführen. Die Individualisierungsdynamik unserer Gesellschaft muss in dieser Hinsicht gedrosselt werden. Sie darf nicht allein belohnt werden.
III.
Was bedeutet es, dass die Familie der Weg der Kirche ist (vgl. den Brief Johannes Paul II. an die Familien, Nr. 2)? Dies bedeutet zunächst, dass die Kirche sich nicht künstlich, bloß von außen der menschlichen Gemeinschaft annähert oder ihr einfach übergestülpt wird. Die Kirche erkennt, dass die Familie mit ihren Höhen und Tiefen, als Alltagsrealität und als Ideal der Ort ist, wo sie den Menschen findet. Sie flüchtet nicht zu Utopien, die den Menschen abstrakt und ortlos ansetzen, sondern sie sucht den Menschen da auf, wo er in der täglichen Lebenswelt kämpft und ausruht, liebt und leidet. Die Familie als Weg der Kirche - dies heißt auch, dass die Kirche den Weg der Familie mitgeht. Sie geht den Weg jeder einzelnen Ehe und Familie mit, von ihren Anfängen bis zu ihrem Ende, durch alle Freude und alle Trauer hindurch. Darum steht die Kirche immer wieder an den Kreuzungen, den Um-, Ab- und Irrwegen der einzelnen Familien. Sie begleitet sie von der Wiege bis zur Bahre. Dabei weiß die Kirche instinktiv, dass jede Familie ein vielfältiges "System" darstellt, in dem es komplexe Beziehungen zwischen Generationen und einzelnen Personen gibt.
Die Kirche geht aber auch den Weg der Familie mit, indem sie die gesellschaftlichen Veränderungen aufspürt und beobachtet, die auf die Familie einwirken. Wir müssen noch sehr viel mehr unternehmen, um über ein Frühwarnsystem zu verfügen, das uns schon von weitem ernsthafte Störungen im Zwischengeflecht von Familie und Gesellschaft anzeigt. Weil diese Situation komplexer und differenzierter geworden ist, müssen wir uns auch in der Kirche sehr viel mehr um Analyse und Diagnose, Reflexion und Therapie kümmern. Nicht zuletzt darum haben wir vor einigen Jahren in der Bischofskonferenz eine eigene Kommission für Ehe und Familie gegründet. Nicht zuletzt darum tragen wir uns auch mit dem Gedanken, ob wir nicht zur Unterstützung dieser Bemühungen ein eigenes Institut für Ehe und Familie brauchen.
Die Familie ist der Weg der Kirche - dies heißt aber auch, dass die Kirche die Familie schützend und helfend begleitet und sich ihr mit allen ihren Diensten zuwendet. "In dem Wissen, dass Ehe und Familie zu den kostbarsten Gütern der Menschheit zählen, möchte die Kirche ihre Stimme und das Angebot ihrer Hilfe zu jenen gelangen lassen, ... bietet die Kirche ihren Dienst allen Menschen an, die sich über das Schicksal von Ehe und Familie Gedanken machen." (Papst Johannes Paul II., Familiaris consortio, Nr. 1) Alles, was die Kirche von ihrem Herrn empfangen hat, vermittelt sie wegen dieser Sendung wieder den Menschen in der Familie. Mit der Botschaft Jesu Christi enthüllt sie gegen alle menschlichen Verbiegungen und Entstellungen den ursprünglichen Sinn der Schöpfung von Mann und Frau und ihrer Liebe zueinander. Sie weiß um die Tendenzen zu Herrschaft und Sünde auch im Verhältnis von Mann und Frau. So lädt sie immer wieder zu Besinnung und Einsicht, Vergebung und Versöhnung ein, wo die Liebe in Ehe und Familie Schaden gelitten hat. Die Kirche weiß, dass sie gerade zu den Ärmsten der Armen gesandt ist und dass sie der vielfachen Unterdrückung der Frau wehren muss. Wie die Liebe immer wieder an ihre Grenzen stößt, so lehrt die Kirche unter dem Kreuz des Herrn eine Humanität, die Geduld und Verzicht, Versöhnung und Neuanfang lernen hilft. Schließlich ist die Kirche auch denen Heimat, deren Ehen und Familien zerbrochen sind, die alleinerziehend sich durch ein oft hartes Leben schlagen und die das Wagnis einer neuen Liebe versuchen. Sie weiß dabei, dass es keine Barmherzigkeit ohne Wahrheit, keine Nachsicht ohne Gerechtigkeit geben kann. Eine ganz besondere Aufgabe hat die Kirche in der Vorbereitung auf Ehe und Familie und in ihrer Begleitung, freilich in allen Phasen.
Schließlich ergibt sich aus dieser Nähe, aus diesem Weg Gottes selbst mit der Familie - bereits im Alten Bund beginnend und in der Heiligen Familie mit Josef, Maria und Jesus vollendet-, dass Ehe und Familie in besonderer Weise ein Gleichnis sein können für das Leben Gottes selbst. Der biblische Gott erscheint immer wieder als der Gemahl des Bundesvolkes. Das Bild von Braut und Bräutigam führt in die letzte Tiefe des Verhältnisses Jesu Christi zur Kirche. Deshalb kann die christliche Ehe an der tiefsten Wirklichkeit der Kirche so teilnehmen, dass sie selbst zu einem wirksamen Zeichen des Heils in der Welt, zu einem Sakrament wird. Darum werden Ehe und Familie auch eine "Hauskirche", eine "Kirche im kleinen" genannt. "Als 'kleine Kirche' ist die christliche Familie, ähnlich wie die 'große Kirche', dazu berufen, Zeichen der Einheit für die Welt zu sein und ihr prophetisches Amt auszuüben, indem sie Christi Herrschaft und Frieden bezeugt, woraufhin die ganze Welt unterwegs ist." (Papst Johannes Paul II., Familiaris consortio, Nr. 48) Aus einer solchen letzten Nähe kommt das sonst verwegen klingende Wort, die Familie sei der Weg der Kirche.
Damit ist vielleicht offenbar geworden, wohin die Familie im Zug der Zeit getrieben wird und was wir unternehmen müssen, damit sie dabei ihren Kurs selbst mitsteuern kann.
Rede-Manuskript
Es gilt das gesprochene Wort!
(c) Bischof Karl Lehmann
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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