Inhalt
Vorwort
1. Herkunft, Sinn und Wandlungen des Pluralismus-Begriffs
2. Innere Gründe für den Pluralismus
3. Die jüngste Entwicklung: Pluralität als Prinzip
4. Kirche - ortlos oder eine Servicestation ?
5. Das 19. Jahrhundert - kein nachahmbares Modell
6. Lehren aus dem Zweiten Vatikanischen Konzil zur Weltpräsenz der Kirche
7. Authentische Präsenz des Unverwechselbaren - aber wie ?
8. Öffentlichkeit des kirchlichen Auftrags und Mitverantwortung für das Humanum
Anmerkungen
Wir stehen am Vorabend des Gedenkens des Abschlusses des Westfälischen Friedens in Osnabrück und Münster vor 350 Jahren. Unser Thema hat sehr viel mehr, als man beim ersten Anschein denken möchte, etwas mit diesem Ereignis zu tun. Denn zu Beginn der frühen Neuzeit, besonders beschleunigt und unter Druck geraten durch die vor allem auch politische Bewältigung der Reformation, ist der moderne Staat entstanden, den man nur vor dem Hintergrund des Zerfalls der einen Christenheit und der damit immer stärker festgeschriebenen Spaltung in verschiedene Kirchen und Konfessionen begreifen kann. Es genügt aber nicht, nach rückwärts, vielleicht sogar nostalgisch verklärt, zu schauen, sondern man muß die gegebene Situation heute im Auge behalten. Gleichzeitig darf man nicht zu kurzschlüssig von der unmittelbar aktuellen Situation her unsere Stellung heute in der Gesellschaft zu bestimmen suchen, sondern man braucht einen längeren Atem, damit man unabhängiger wird im Denken und Urteilen.
Hier in Lingen ist dies nicht schwer. Schon der Name dieser Akademie erinnert uns an einen der wohl größten politischen Führer des Katholizismus in den letzten zwei Jahrhunderten in unserem Land. Der Name von Ludwig Windthorst, der hier den Wahlkreis Meppen-Lingen-Bentheim innehatte, weist uns auf diese Probleme vor allem im Spiegel des letzten Jahrhunderts hin. Darum ist es gut, die Gedenkfeiern des Jahres 1848 mit dieser Thematik zu verbinden, denn es geht ja nicht nur um den viel beschworenen "Aufbruch der Freiheit", sondern auch um den langfristigen Umgang mit einer immer größer werdenden Freiheit, die jedoch durch immer weniger Bindungen und Normen allgemeiner Art in Balance gehalten wird. Ich glaube, daß wir dieses Erbe der Geschichte der Katholikentage, die vor 150 Jahren begannen, ebenso aufnehmen müssen wie den Auftrag der Kirche, wie ihn die Deutsche Bischofskonferenz wahrnimmt, die schließlich auch in diesem Monat vor 150 Jahren zum ersten Mal in Würzburg zusammentrat.
Ludwig Windthorsts Bedeutung ist aber nicht nur Geschichte. Hier im Emsland hat die Christlich-Demokratische Union einen starken Rückhalt gehabt und hat ihn wohl immer noch. Dankbar denke ich deshalb auch an viele politisch Verantwortlichen, die aus diesem Raum kommen und große Verdienste um unser Gemeinwesen haben. Deshalb freue ich mich auch, hier in dem Haus zu sein, dessen Geschichte in den letzten Jahrzehnten eng mit Herrn Minister a.D. Dr. Werner Remmers verbunden ist und bleibt. Von daher ist es wiederum nicht nur Zufall, daß Herr Dr. Remmers nach der Wende unserer Bitte gefolgt ist, die neue Katholische Akademie in Berlin, die für die neuen Bundesländer überhaupt geplant wurde, zu übernehmen.
Es gibt also genügend Hintergründe, um das Thema am heutigen Abend hier in Lingen zu behandeln und darüber in ein Gespräch zu kommen.
Dieses Thema ist nicht einfach ein Beratungsgegenstand des Zweiten Vatikanischen Konzils gewesen. Wir verfolgen ja viele Anstöße und Orientierungen zurück bis auf diese Große Kirchenversammlung. Zwar kommt das Wort einige Male in den Texten vor, wie z.B. in der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute (1), wird aber doch eher wie ein fremdes Wort gebraucht. Es ist verständlich, daß man dabei eher von einem "praktischen Pluralismus" spricht. Man bejaht ihn in manchen Bereichen der Liturgie (2), anerkennt auch eine legitime Vielfalt in der Kirche (3), z.B. in der Theologie und in der Spiritualität. Schließlich weiß man um den Pluralismus der Kulturen (4) und der Meinungen in den politischen Gemeinschaften (5). So beschreibt das Dekret über den Ökumenismus auch die Verschiedenheit der christlichen Kirchen, ohne daß dies die Einheit der Kirche aufhebt (6). Nicht immer kommt das Wort, wohl die Sache vor. Wo es gebraucht wird, spürt man, daß es ein vieldeutiger, von außen kommender Begriff ist, der nur zögernd angewandt wird.
Besonders im Blick auf das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft ist diese Zurückhaltung auch verständlich, denn einerseits ist der Begriff in seinem Bedeutungsspektrum recht vage und anderseits kann sich das Konzil gerade in der Beschreibung des Verhältnisses von Kirche, Staat und Gesellschaft nicht auf partikuläre Verwirklichungsformen einlassen. Bei der Einwurzelung der Grundabsichten des Konzils in den einzelnen Ländern ist es freilich anders. Hier erscheint der Begriff im deutschen Sprachraum eher als unverzichtbar. Es ist daher auch kein Zufall, daß Karl Rahner bei der Grundlegung der Pastoraltheologie, vor allem in der Situationsanalyse, diesen Begriff mehrfach reflektiert und intensiv gebraucht hat (7).
In der Diskussion und Darstellung der Verfassungsgrundlagen unseres Staates, besonders auch bei der Beschreibung des Staat-Kirche-Verhältnisses, ist "Pluralismus" ein Grundwort zur Beschreibung der faktischen Situation und der normativen Aufgabe. Es mag dennoch überraschen, daß der Begriff in unseren Verfassungen auf Bundes- und Länderebene nicht vorkommt. Aber dies gilt auch für andere Grundworte zur Kennzeichnung unserer Verfassungswirklichkeit, z.B. für Neutralität und Toleranz. Dabei ist es schon erstaunlich, daß zwar die Begriffe fehlen, die Sache selbst aber aufs engste mit den tragenden Fundamenten unserer Verfassungsordnung verknüpft ist.
Vielleicht ist es so auch verständlich, daß die reine Begriffsgeschichte (8) nicht so ergiebig ist. Eine Zentralbedeutung hat der Begriff im amerikanischen Pragmatismus vor allem von W. James erhalten. Hier wird Pluralismus dem Monismus entgegengesetzt. Gegen den um die Jahrhundertwende im philosophischen Denken besonders vorherrschenden Einheitsbegriff wird ein Anspruch auf Vielheit verteidigt, ohne daß die Einheit geleugnet wird. Zwischen beiden gibt es eine beständige Interaktion. Bald wandert der Begriff in die politische Theorie. Mit dem Begriff "Pluralismus" bezeichnet H. J. Laski die Autonomie sozialer Gruppen gegenüber dem Staat, der diesen gesellschaftlichen Gebilden gleichgestellt wird. Auch der Staat ist auf die freie Loyalität und Zustimmung angewiesen.
Eine besondere Profilierung hat der Pluralismus-Begriff im deutschen Sprachgebiet durch den Staatsrechtslehrer Carl Schmitt erhalten. "Pluralismus... bezeichnet eine Mehrheit festorganisierter, durch den Staat, d.h. sowohl durch verschiedene Gebiete des staatlichen Lebens wie auch durch die territorialen Grenzen der Länder und die autonomen Gebietskörperschaften hindurchgehender, sozialer Machtkomplexe, die sich als solche der staatlichen Willensbildung bemächtigen, ohne aufzuhören, nur soziale (nicht-staatliche) Gebilde zu sein." (9) Diese "Macht mehrerer sozialer Größen über die staatliche Willensbildung" (10) sah Schmitt in der Weimarer Republik und in ihrem Parlamentarismus verhängnisvoll verwirklicht, so daß seine radikale Pluralismus-Kritik in diesem Sinne nicht überraschen kann. Die Angst vor der Zerstörung der politischen Einheit durch Parteien und Interessenorganisationen bestimmt auch sonst die massive Ablehnung des Pluralismus-Phänomens (11). Diese Grundhaltung hat lange Zeit viele Staatsrechtslehren beeinflußt. Besonders in der Frage der "Repräsentation organisierter Interessen" (J. Kaiser) hat der Begriff große Bedeutung gewonnen. Auch hier schwankt der Gebrauch: Positiver erscheint er als Hilfe zum Ausgleich der Gruppeninteressen, negativer gewertet wird er durch die Dominanz der Einzelinteressen, die die Gesellschaft überhaupt gefährden. Die neue Linke hat schließlich jede Pluralismus-Konzeption als ideologisch verworfen, da sie verschiedene Herrschaftsausübungen nur verschleiere und zugleich fixiere (12).
Es ist nicht verwunderlich, daß auch in der Ethik, schon angeregt durch F. Nietzsche, verschiedene Moralen unterschieden werden: Sklavenmoral und Herrenmoral, Gesinnungs- und Verantwortungsethik, geschlossene oder dynamische Moral. So spricht z.B. A. Gehlen auch von einer "pluralistischen Ethik" (13).
Es ist also nicht sehr aufschlußreich, sich vorwiegend an der Begriffsgeschichte zu orientieren. Es gibt wichtige historische Ereignisse vor allem in der Neuzeit, die zum religiös-konfessionellen und weltanschaulichen Pluralismus geführt haben. Dabei muß auch ein kirchliches Ursprungsmoment genannt werden. Die Klärung der Wahrheitsfrage in der Reformationszeit gelang nicht mehr mit Hilfe der traditionellen Mittel: militärische Überlegenheit, Unterwerfung der Andersdenkenden, Wiederherstellung der konfessionellen Konformität. Eine kleine Gruppe von Juristen und Intellektuellen wollte sich jedoch mit der dadurch entstandenen Ausweglosigkeit nicht zufrieden geben. Die Beendigung der Gewalttätigkeiten und die Sache des Friedens sollten sich zuerst durchsetzen. Denn sie versprachen eine Sicherung der nackten Existenz. Die Klärung der Wahrheitsfrage wird so aus den Fundamenten des menschlichen Zusammenlebens ausgeklammert. Am Anfang steht die Notwendigkeit der Lebenserhaltung, d.h. des Friedens und der Sicherheit. Die Politik muß Fundamente sichern, auf denen aufruhend sich dann ein spirituelles Leben entfalten kann. So hat die "Souveränität" des Staates am Ende des 16. Jahrhunderts z.B. in Frankreich den konfessionellen Frieden geschaffen, zu Toleranzedikten und schließlich auch zu einer religionsrechtlichen Parität geführt. Man sollte nicht vergessen, wie sehr die Spaltung der Kirche in der frühen Neuzeit zu einer Ausklammerung der Wahrheitsfrage aus den Fundamenten der Gesellschaft führte und dadurch auch den weltanschaulichen Pluralismus der Neuzeit begünstigte. (14) "Mit dem Gedanken der konfessionellen, später religiösen Neutralität des Staates wird schließlich die blutige Erfahrung der konfessionellen Bürgerkriege, die auf europäischer Ebene im Patt endeten, verarbeitet und die relative Autonomie von Staat und Kirche/Religion und mit ihr der konfessionelle Pluralismus als eine Notwendigkeit des politischen, sogar physischen Überlebens anerkannt." (15) Das Gedenken an den Westfälischen Frieden 1648 erinnert uns an die Ursprünge und das Werden dieser Strukturen.
Es sind selbstverständlich noch andere Entwicklungen, die den Pluralismus begünstigten. Sie können hier nicht ausführlicher erläutert werden. Dazu müßten die neuzeitliche Arbeitsteilung, die Aufklärung und die Entwicklung demokratischer Herrschaftsformen mit dem Parteienprinzip besonders entfaltet werden.
Die Idee des Pluralismus ist nach 1945 in unserem Land stärker entwickelt worden. In unserer Verfassung traten der Staat und die Staatsziele - zum Leidwesen nicht weniger Staatsrechtslehrer und Politiker bis zum heutigen Tag - zurück. Der Erhalt der Würde des Menschen, nicht zuletzt mit Hilfe der stärkeren Betonung der Grundrechte, wurde das erste Ziel. Dies führte natürlich auch zu einer Aufwertung verschiedener Konzeptionen des Menschenbildes, weltanschaulicher Meinungen und Mentalitäten und prägte von dorther das Demokratie-Verständnis. "Demokratie als Übereinkunft, verschiedene Meinungen und Bestrebungen zu tolerieren und zugleich zu begrenzen: das signalisiert deutlicher als bloß formale Verfassungen und Institutionen (die sich dem Schein nach ähneln mögen) den Unterschied zu allen Formen der Diktatur. Pluralismus heißt vor allem, daß der Gemeinwille nicht autoritär - oder totalitär - staatlich gesetzt, sondern von der Bereitschaft getragen und bestimmt wird, der Pluralität der Intentionen und Kräfte eine Grenze zu ziehen: nämlich da, wo Existenz und Fähigkeit dieser Pluralität, ihre Freiheit und reziproke Toleranz selbst bedroht oder verneint wird. Und umgekehrt kann nur da, wo diese Grundübereinstimmung anerkannt wird, der demokratische Staat der Vielheit der Bestrebungen vollen Spielraum gewähren, ohne selbst bedroht zu sein." (16)
Die Entwicklung des Pluralismus konnte gelegentlich den Anschein erwecken, als ob die Verschiedenheit nicht zuletzt weltanschaulich-religiöser Grundlagen nur vorübergehend wäre. Längere Zeit hat man nach dem Zweiten Weltkrieg und in der frühen Bundesrepublik Deutschland geistig gleichsam von der homogenen Grundlage gelebt, die von den Vätern des Grundgesetzes durch die gemeinsamen Erfahrungen im Nationalsozialismus und Stalinismus erworben und auch als Vermächtnis dem jungen Staat und seiner Verfassung eingestiftet worden waren. Zwar darf man sich auch für diese Zeit keine allzu romantische Vorstellung politischer oder wertemäßiger Einheit vorstellen - bei der Vorbereitung des Grundgesetzes von 1949 ging es in Wirklichkeit sehr gespannt zu -, aber offenbar reichte die gemeinsame Überzeugung, wie es auf jeden Fall nicht wieder werden dürfe, weit in die ersten Jahrzehnte unseres Staates hinein.
Der Vorrat an diesen Grundüberzeugungen schmolz allmählich dahin: nicht nur wegen des Generationenwechsels, sondern auch wegen des mangelnden Gespräches zwischen den Generationen über die jüngste Geschichte und schließlich wohl auch wegen einer mangelnden Pflege der tragenden Grundüberzeugungen. Prosperität und Wohlstand haben auch hier zu satt gemacht. Das Jahr 1968 bedeutet in diesem Prozeß eine Wende. Auf einmal - aber länger schon vorbereitet - "funktionierten" die Grundüberzeugungen im ganzen nicht mehr in der bisher gewohnten Art. Die Werteverschiebungen der folgenden Jahre, die sich meist in Schüben vollzogen (17), zeigten nun mit aller Deutlichkeit, daß die Pluralität sehr viel stärker geworden war und die homogene Grundlage fast aufzuzehren drohte. Jetzt wurde vor allem den Christen langsam stärker bewußt, daß der weltanschauliche Pluralismus, ja der moderne Pluralismus überhaupt keine vorübergehende historische Erscheinung ist, sondern ein dauerhaftes Merkmal der politischen Kultur in den neuzeitlichen Gesellschaften und vor allem Demokratien bleiben wird. Nicht überall ist dies innerlich akzeptiert. Der Anti-Pluralismus lebt noch durchaus. Aber es ist ja nicht zu erwarten, daß eine einzelne umfassende Lehre die notwendige Übereinkunft schafft. Dies wäre wohl nur mit repressiver Macht herstellbar (18). In diesem Sinne ist der Pluralismus eine unaufhebbare Grundstruktur des demokratisch-freiheitlichen Gemeinwesens und kann, solange Demokratie unsere Staatsform ist, wohl auch in Zukunft nicht ersetzt werden.
Dies scheint mir auch deshalb wichtig zu sein, weil die prinzipiellen Kritiker des Pluralismus sich wenig offen und klar die Frage stellen, was für eine Alternative sie eigentlich haben. Gerade im kirchlichen Bereich scheinen mir hier manchmal ziemlich irreale, oft vormoderne, zum Teil auch integralistische Vorstellungen zu existieren, die - würde man sie entfalten - sich ziemlich schnell als antiquiert herausstellten. Sie bleiben jedoch meist verborgen und unreflektiert. Um so schlimmer ist ihre Wirkung.
Nun ist es jedoch nicht so, daß man eine naive Unschuld des Pluralismus annehmen dürfte. Dies kann nur der annehmen, der sich entweder die Frage nach der Einheit überhaupt nicht mehr stellt oder aber die Augen verschließt vor wirklichen Bedrohungen der Pluralität selbst (19). Denn es versteht sich von selbst, daß dieser Pluralismus Sprengstoff in sich enthält; er ist immer auch Ausdruck des Interessenwandels, der Dynamik der öffentlichen Meinung und des gesellschaftlichen Wandels überhaupt. Auch darum ist das Mischungsverhältnis von Homogenität und Pluralität keineswegs statisch oder planbar.
Dies wird in der jüngsten Entwicklung noch sehr viel stärker erkennbar. Dabei geht es nicht mehr bloß um den religiös-konfessionell-kirchlichen Pluralismus, auch nicht mehr primär um die damit zusammenhängende weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates. Vielmehr wird der Pluralismus mehr und mehr ein umfassenderes Problem, der die Vielfalt geistiger und ökonomischer Kräfte ebenso betrifft wie die Daseinsdeutungen und die Lebensformen (vgl. hier nur Ehe und Familie). Der religiös-konfessionelle Pluralismus ist nur noch ein Teilsegment bzw. ein Ausschnitt aus einem viel umfassenderen Prozeß der Pluralisierung aller Daseinsbereiche.
Frühere Versuche, bei der wachsenden Pluralisierung den notwendigen dialektischen Gegenpol nicht aus dem Auge zu verlieren, nämlich nach der verbliebenen Einheit der Grundüberzeugungen zu fragen, haben nur für kurze Zeit Aufmerksamkeit gefunden. Ich erinnere an die "Grundwerte"-Debatte vor allem der 70er und 80er Jahre (20). Zwar ist nachträglich die deutsche Rezeption der amerikanischen Kommunitarismus-Diskussion beachtlich, ist aber eher ein intellektueller Nachklang ohne genügende Breitenwirkung in die gesellschaftliche und politische Diskussion hinein und im übrigen auch ohne die notwendige Applikation auf unsere Situation (21). Das Grundproblem stellt sich in diesem Kontext sehr deutlich, ob die gemeinschaftsgebundenen Wertüberzeugungen überhaupt von vereinzelten Subjekten aus angegangen werden können oder ob es hier nicht ganz neuer denkerischer Zugänge bedarf.
Die letzte Wende in der Pluralismus-Debatte bedeutet eine wichtige zusätzliche Lehre. In der Diskussion um die "Postmoderne" - ich übergehe hier notwendigerweise diesen ganzen Fragenkomplex - ist nicht nur die Pluralität von Lebensweisen und Handlungsformen, von Denktypen und Orientierungssystemen, Weltanschauungen und Religionen zentral, sondern damit wird auch eine grundlegende Option für Pluralismus überhaupt getroffen. Die Postmoderne geht davon aus, daß der gegenwärtige Pluralismus prinzipiell unüberschreitbar und unaufhebbar ist. Wahrheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit gibt es nur im Plural. Wer anders plädiert, nähert sich einer totalitären Mentalität. Dabei geht es nach dem Selbstverständnis der Postmoderne nicht um Nachlässigkeit und billigen Relativismus, sondern die Vielheit ergibt sich aus Gründen der geschichtlichen Erfahrung und der Freiheit. Jeder Ausschließlichkeits-Anspruch entspringt letztlich nur der unerlaubten Erhebung eines in Wahrheit Partikularen zu einem bloß vermeintlich Absoluten.
Natürlich lauert hier auch die Gefahr, daß die Vielfalt des individuellen Lebens verkommt, weil sie in die Nähe der Willkür und der Beliebigkeit gelangt. Man sollte jedoch diese Gefahr einer tatsächlich gegebenen Entgleisung nicht zum einzigen Kriterium der Beurteilung machen. Einheitsansprüche müssen gewiß stärker daraufhin bedacht werden, ob der Reichtum und die Fülle der Verschiedenheit substantiell in sie eingegangen ist. Pluralitätsmomente müssen mehr Beachtung finden. Es kommt darauf an, daß der Begriff der Vernunft auf neue Weise gedacht wird, nämlich als Einheit aus der Fülle der Verschiedenheiten. Hier braucht es ganz neue Formen des Austausches (22). Diese Pluralität findet sich in sehr vielen Formen auch der sogenannten "Individualisierung", wie besonders U. Beck immer wieder anschaulich gemacht hat (23).
Diese Deutung unserer gesellschaftlichen Lage muß sicher ergänzt werden, sie scheint mir jedoch im Kern zutreffend zu sein. Es läßt sich allerdings über die Problematik "Postmoderne" hinaus auch feststellen, daß diese Sicht unserer Gesellschaft sehr oft die tiefe Verletzlichkeit dieses Systems ausblendet, die Labilität des Ausgleichs verschweigt und das drohende Chaos herunterspielt. Im Gegenteil, die Labilität wird geradezu verklärt. Es gibt in den Theorien der Postmoderne manchmal eine Apotheose der Pluralität, die auch nicht zurückscheut vor unausgeglichenen Widersprüchen und kein Interesse zeigt an Fragen der Einheit und Gemeinsamkeit.
Hegel hat m.E. hier sehr viel deutlicher den explosiven Charakter erkannt, wenn er feststellt, es müsse nur noch die Lunte an ein Pulverfaß gelegt werden, bis die Identität einer solchen Gesellschaft geradezu gesprengt wird. Dabei ist dies keine Kritik von außen, sondern sie ergibt sich aus dem Verlauf des Phänomens Pluralismus selbst.
Es kommt nun darauf an, den Ort und die Funktion von Kirche in einer so strukturierten pluralistischen Gesellschaft zu definieren. Ich kann und will dabei nicht alle Aspekte, auch wenn sie wichtig sind, beleuchten. Karl Rahner hat dazu bis heute Gültiges gesagt. Es geht mir nur um die Grundstellung. Aber auch diese Aufgabe ist aus vielen Gründen schwierig. Denn einmal entsteht der Eindruck, die Kirchen hätten sich durch die vom Staat notwendigerweise vorgenommene Ausklammerung der Wahrheitsfrage gleichsam selbst aus dem Spiel bringen lassen. Es entsteht der Eindruck, die Kirche habe angesichts der Staatsziele und der gesellschaftlichen Gesamtbedürfnisse gleichsam keinen Ort mehr. Die Reaktion auf diese Situation kann sehr verschiedenartig sein. Sie ist in jedem Fall immer zweideutig. Die Zweideutigkeit besteht in der genaueren Bestimmung der Nähe und der Distanz zu Staat und Gesellschaft. Aber dies ist nicht nur eine einbahnige Bestimmung von Seiten der Kirche, sondern es ist auch eine Verhaltensweise von Staat und Gesellschaft.
Vielleicht kann man dies am Gebrauch eines Wortes in diesem Zusammenhang kurz erläutern. Als Hinweis für die neue Freiheit der Kirche wird im Blick auf bisherige Bindungen und Umklammerungen durch die Herrschaftsmächte immer wieder das Wort von der "Freigabe" von Glaube und Kirche erwähnt. "Freigabe" hat hier einen doppelbödigen Sinn. Sie meint zunächst in der Tat, daß die Kirche aus der mannigfachen Beherrschung staatlicher Mächte "entlassen" wird und so in ihr Eigenes kommt, d.h. zur Freiheit gelangt. Dies ist ein Positivum. "Freigabe" heißt aber im selben Augenblick auch "Entlassenwerden" in einen unbestimmten Bereich hinein. Die Kirche verläßt den Raum und das Feld eines verbindlichen öffentlichen Anspruchs - mindestens verstehen viele dies so - und wird der Sphäre letztlich des Privaten und rein Innerlichen überantwortet, so daß sie weitgehend auf das Reich der Inwendigkeit und einer unsichtbaren Spiritualität beschränkt wird.
Wenn der Pluralismus im Blick auf Religion und Kirche anders angesetzt wird, können beide auch als ein Teilbereich innerhalb des gesellschaftlichen Gesamtsystems begriffen werden. Religion erscheint dann neben Wirtschaft, Sport und den anderen Hauptfeldern des gesellschaftlichen Lebens als ein eigener Sektor. Die Gefahr besteht hierbei, daß die Religion in ihrem Geltungsbereich sich einschränkt oder auch eingeschränkt wird auf die Grenzsituationen des Menschen, vor allem am Anfang und am Ende des Lebens, aber auch in der Situation von Leid und Krankheit, schließlich auch an den Knotenpunkten und Wendemarken der menschlichen Biographien. Religion und Kirche erscheinen dann nur allzu leicht als bloße "Kontingenzbewältigungspraxis" (H.Lübbe). In diesem Sinne wird Religion zweckrational und funktional in ein Gesamtsystem des gesellschaftlichen Lebens eingeordnet. Die Gefahr besteht darin, daß Kirche nur noch ein Servicebetrieb für die letzten Fragen oder ein Dienstleistungsbetrieb zur Verschönerung wichtiger Stunden des Lebens wird.
Es ist jedoch für Religion und Kirche schwer erträglich, nur auf den Bereich der Grenzsituationen eingeengt zu werden. Die anderen Subsysteme des gesellschaftlichen Lebens verschließen sich in ihrer Tendenz zur Autonomie ohnehin so sehr, daß von außen kaum ein Fuß zwischen die Tür zu bringen ist. Religion wird aber so weltlos, und die säkularen Daseinsbereiche werden fast notwendigerweise gott-los. Religion und Kirche verlangen von Hause aus einen Blick auf das Ganze; sie beanspruchen auch Orientierungen grundsätzlicher Art für alle Daseinsbereiche; Sinndeutungen sind auf eindeutiges Handeln angelegt. Dies ist gegenläufig zu dem funktionalen Ort, der hier der Religion noch verbleibt. Wenn die Religion und die Kirche sich über ihren Bereich hinaus bemerkbar machen, erscheint dies unter solchen Voraussetzungen nur allzu leicht als illegitime "Einmischung". Man denke nur an kirchliche Äußerungen zur Heiligung des Sonntags und zum Erhalt der Feiertage.
Die katholische Kirche hat bis in unser Jahrhundert hinein in vielen Bereichen die Tendenz verfolgt, sich gegenüber der modernen Welt eher zu verschließen und in Konfrontation mit ihr überzugehen. Dies betrifft natürlich nicht die gesamte gesellschaftliche Breite, sondern bezieht sich vor allem auf die Ideen der Aufklärung und des l9. Jahrhunderts im Blick auf eine absolute Autonomie der menschlichen Person. Dieser Prozeß ist nicht einfach zu beurteilen. Die manchmal fast gettohafte Distanz hat die inneren Defensiv-Kräfte der Kirche gestärkt, eine hohe innere Geschlossenheit erzeugt, über längere Zeit Milieus kirchlicher Art erhalten und pflegen können sowie die eigene Identität nach innen und außen erfahrbar gemacht. Die Bildung vieler Verbände und Vereine, die hohe Zahl der Ordensgründungen und vor allem der soziale Einsatz der Kirche in Theorie und Praxis zeigen in ihren Auswirkungen, daß trotz dieses Sichabschirmens gegenüber den aufklärerischen Ideen einzelne Formen der Zuwendung zur modernen Welt gelungen sind, die durchaus reformerisch genannt werden dürfen. Man kann also für diese Zeit keine reine Getto-Verdachts-Hypothese formulieren. Der historische und soziologische Befund ist recht differenziert (24). Es könnte verführerisch sein, an diese Situationen im einzelnen anzuknüpfen und daraus den Schluß zu ziehen, eine grundsätzliche Distanz zur modernen Welt, ja möglicherweise eine Fundamental-Opposition könne dazu beitragen, die ursprüngliche Kraft des christlichen Glaubens auch in dieser Zeit wiederzugewinnen. In dieser Verführung stehen einzelne Teile heutiger restaurativer Bewegungen in der Kirche, die einem Traditionalismus, manchmal auch Fundamentalismus nahe kommen (25).
Ich glaube nicht, daß dies eine real mögliche und verantwortbare Option für heute sein kann. Sie wäre auch vergeblich. Die Geschichte wiederholt sich nicht. Der Pluralismus ist auch in einem tieferen Sinne Bestandteil der Struktur unserer Gesellschaft geworden. Das hohe Maß an Differenzierung und Komplexität läßt sich nicht zurückschrauben. Pluralismus bedeutet auch die Mitgliedschaft von Christen in mehreren sozialen Gruppen mit ganz oder teilweise unterschiedlichen Normen. Dies bleibt nicht ohne Einfluß auf die Struktur der Person, die oft selber von einer spannungsvollen, pluralistisch orientierten Mentalität geprägt wird. So entstehen Normen- und Rollenkonflikte sowie Unsicherheiten im Handeln. Die allermeisten Menschen können sich einer solchen Situation nicht entziehen, allein schon durch ihre Aufgaben in Beruf, Ehe und Familie. Für eine große Kirche gibt es hier kein Zurück.
Das Zweite Vatikanische Konzil hat in einer gewaltigen Anstrengung eine differenzierte Öffnung der Kirche zur modernen Welt hin versucht. Das "Aggiornamento" des Konzils ist kein Programm müder Anpassung an die moderne Welt. Es wird freilich heute oft so verstanden. Das Konzil hat bis zum Schluß mit dem Weltverhältnis gerungen (26). Ob man diese Bestimmung eines neuen Weltverhältnisses schon als geglückt bezeichnen soll, steht auf einem anderen Blatt. Gewiß ist dies auch nicht die Aufgabe allein eines Konzils. Wie schon oft gezeigt wurde, ist das Zweite Vatikanische Konzil in seiner frühen Wirkungsgeschichte in gewisser Weise auch durch die Ereignisse vor allem des Jahres 1968 überrollt worden. Eine kontinuierliche Applikation, die eine echte Rezeption gewesen wäre, konnte unter diesen Umständen nur schwer gelingen. Es war eine ungeheuer große Aufgabe, die "Schleifung der Bastionen" (H.U. v.Balthasar) so durchzuführen, daß an ihrer Stelle keine Verweltlichung, aber auch kein neuer Integralismus Einzug hielt. Ich habe darum noch nie etwas von der zu simplen These gehalten, der Weg der Kirche nach dem Konzil sei als "Marsch ins Getto" zu definieren (27), obgleich ich schädliche retadierende Elemente nicht leugnen möchte. (Es gibt freilich einen echten Weg zurück zu den Ursprüngen und Quellen!)
Nun ist dies nicht nur ein Scheitern des Katholizismus. Nicht nur andere Kirchen, sondern auch geistige und soziale Bewegungen haben die "Dialektik der Aufklärung" und das "Experiment der Moderne" nicht gemeistert. Es ist in mancher Hinsicht regelrecht mißlungen, was durch die ständige Selbstüberholung, die nach Fortschritt aussieht, eher verdunkelt wird. Schon auf dem Höhepunkt der Aufklärung gab es von Lessing und Herder, Kant und Fichte bis zu Kierkegaard, Hegel und Schelling so etwas wie die Einsicht in die Aporien der neuen Ideen. Die unvollendete Aufklärung mit ihren positiven Errungenschaften und ihren Schattenseiten wurde aber meist halbiert und brach in neue Antithesen auseinander. Es ist also gewiß nicht nur ein Problem der Kirche, sondern des modernen Denkens selbst, wenn dieses kritische Gespräch mit der modernen Welt nicht hinreichend gelungen ist.
In einer solchen Situation ist es fast naheliegend, daß auch das "Aggiornamento" der Kirche in letztlich substanzlose Gegenbewegungen zerfällt: in einen hohlen "Progressismus", der nicht mehr "Salz der Erde" ist, sondern sich konformistisch anpaßt, und in einen blasierten Konservatismus, der aus der Tradition keine verwandelnde Kraft mehr beziehen kann, um sich wirklich mit der Welt von heute schöpferisch auseinanderzusetzen. Alle, die in der Kirche Verantwortung tragen, sind in der Gefahr, zwischen diesen Fronten zerrieben zu werden und sich selbst zu zerfleischen. Immer wieder gibt es den Schrei nach der radikalen Mitte und Versuche, sie in neuen Formen und Programmen zu verwirklichen.
In dieser Situation stehen wir im Grunde seit mehr als drei Jahrzehnten. Die Versuchung zu "radikalen" Lösungen dürfte sogar gestiegen sein. Die Extreme auf beiden Seiten scheinen immer mehr auseinanderzudriften, so daß die Kirche mindestens an den Rändern manchmal anderen wie ein Gemenge von Sekten vorkommen kann. Die Frage heißt, wie wir unter den gesellschaftlichen Bedingungen das Unverwechselbare des christlichen Glaubens authentisch verwirklichen können. Die einen möchten unverändert am "Status quo" festhalten und die Präsenz der Kirche mit allen ihren Einrichtungen, wie sie bei uns im Land gegeben sind, fest- und fortschreiben. Hier droht die Gefahr, daß wir die Kraft des christlichen Glaubens in unserer Gesellschaft vor allem mit den sozialen und pädagogischen Funktionen gleichsetzen, die wir in dieser Gesellschaft und für sie übernommen haben. Man darf das Christliche - ich benutze bewußt dieses fragwürdige Substantiv - nicht funktional auf den politisch-sozialen, caritativ- diakonischen oder therapeutischen Wert reduzieren, und dafür die Erstaufgabe einer glaubwürdigen Bezeugung und Verkündigung des Evangeliums zurücktreten lassen, ebenso die persönliche Glaubensüberzeugung sowie die kirchliche Beheimatung. Die Präsenz des Christlichen im gesellschaftlichen Raum muß auch von der gelebten Mitte des konkreten Glaubens in der Kirche gedeckt werden. Schon von den Personen her, die im Auftrag der Kirche arbeiten, darf es keine Zweideutigkeiten geben, die dies verdunkeln. Von den Strukturen her darf es keine Kompromisse geben, die das eindeutige Zeugnis der Kirche vom Willen Gottes für diese Welt infrage stellen. Dies ist in den allermeisten Fällen ohne beständige Gratwanderung nicht möglich. Anfechtungen sind in grundsätzlich ambivalenten Situationen nicht ausgeschlossen. Jeder Theologe weiß, daß sie zwar aus der Sünde kommen und zur Sünde führen können, jedoch selbst - begegnet man ihnen ernsthaft - nicht von sich aus schon Sünde sind.
Hier entsteht die Versuchung, sich von der Gesamtgesellschaft zurückzuziehen und - freiwillig, nicht gezwungen - abzutauchen in eine Subkultur kirchlichen Lebens. Darin steckt ein Körnchen Wahrheit, das zum Christen gehört. Wir dürfen uns im Sinne der paulinischen Theologie, aber auch des ganzen Neuen Testaments dieser Welt und ihren gesellschaftlichen Trends nicht anpassen. Ohne Distanz und Verzicht gegenüber diesen Tendenzen werden wir in den meisten Fällen wie von Fangarmen umschlungen und schließlich verschlungen. Wir müssen in jedem Gesellschaftssystem und in allen Einrichtungen die lebendige, überzeugende, sichtbare Kraft behalten, das Evangelium Gottes als eine reale Alternative zu vielen gesellschaftlichen Tendenzen zu vertreten. Wenn in einem System solche alternativen Zeichen, die aufhorchen lassen, überhaupt nicht möglich sind, darf der Christ trotz guter Absichten sich nicht die Hände schmutzig machen.
Wir können so unter Umständen ähnlich wie der Herr zu einem Zeichen des Widerspruchs werden, wir sind jedoch keine pure Kontrastgesellschaft. Wir sind aufgerufen, Salz der Erde und Licht für die Welt zu sein. Salz kann auch schal werden, wenn es sich mit nichts mehr vermischt, und ein Licht, dessen Leuchten nicht mehr wahrgenommen wird, verliert seinen ursprünglichen Sinn. Kirche als Gegengesellschaft kann auch eine Trotzreaktion sein. Kann eine solche leicht in sich selbst verschlossene Sonderwelt je noch impulsgebend auf die im Grunde ja schon abgeschriebene "alte" Gesellschaft regenerativ zurückwirken? Ist die uralte Versuchung nicht greifbar nahe, auf dem beschränkten eigenen Boden eine heile Welt, ja vielleicht das Reich Gottes selbst zu gründen?
Die Kirche ist Sakrament des Heils Gottes für die Welt. Sie ist zuallererst gegründet in ihrem Herrn Jesus Christus, der sein Leben hingegeben hat für alle. Sie muß zwar eindeutig bleiben in ihrer Sendung, aber sie darf ihre Solidarität und Liebe zur zerrissenen, ja in die Irre gegangenen Welt nicht einfach aufgeben. Insofern ist die Einladung aller zur Umkehr im recht verstandenen Dialog unaufgebbar (29). Kirche würde ihre Sendung verraten, wenn sie nur mit Gleichgesinnten verkehren und abseits der Gesellschaft sich zurückziehen würde in ein selbstgeplantes Reich ihres Glücks. Sie muß bis an die äußerste Grenze die Sorgen und Nöte einer konkreten Gesellschaft mittragen und ausleiden, auch wenn sie vielleicht manchmal einer problematischen Komplizenschaft verdächtigt wird. Schließlich steht das Beispiel Jesu Christi uns vor Augen. Er hat sich eindeutig von der Sünde getrennt, sich aber sündigen Menschen nicht verweigert. Wie Jesus darf die Kirche den glimmenden Docht nicht auslöschen und das geknickte Rohr nicht zerbrechen. Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken. Ich möchte nicht kokettieren mit Jesu Freundschaft zu Zöllnern, Pharisäern und Dirnen, aber sie zeigt eindeutig die Reichweite seines Mitleids und seiner Barmherzigkeit.
Für einen solchen Dienst braucht die Kirche Raum und Freiheit in der Gesellschaft. Wenn sie grundsätzlich ihre Unabhängigkeit verliert, muß sie sich befreien. Sie darf sich von niemand in der Welt gefangennehmen lassen. Sie hat nur einen Herrn. An ihrem Platz muß sie unverkürzt, gelegen oder ungelegen, die Wahrheit Gottes bezeugen können. Dies darf sie nicht nur im stillen Kämmerlein tun, sondern muß es auch in der Öffentlichkeit unseres Lebens von den Dächern der Häuser verkünden. Dies ist ihr in unserem Gemeinwesen möglich. Wir haben nicht nur eine negative Religionsfreiheit, die alle zur Toleranz verpflichtet. Diese darf nie verabsolutiert werden. Wer nicht (mehr) glaubt, hat kein Recht darauf, daß auch die anderen ihren Glauben verlassen. Weltanschauliche "Neutralität" des Staates ist kein Negativum. Wie nicht wenige frühere Urteile des Bundesverfassungsgerichtes und besonders K. Schlaich (30) erweisen, darf "Neutralität" weniger von einer Art Ausgrenzung und Abschottung her verstanden werden, sondern sehr viel mehr als Offenheit gerade eines pluralistischen Staatswesens für die Eigengesetzlichkeiten und das Selbstverständnis verschiedener gesellschaftlicher Kräfte, sofern ihre Programme mit der Verfassung vereinbar sind. Neutralität hat nichts mit Indifferenz zu tun. Die Kirche kann also innerhalb dieses Rahmens ihre Sendung in Freiheit verwirklichen. Neutralität bewährt sich in der Offenheit der Verfassung und ist kein Gegenbegriff zum Pluralismus.
Gerade die Kirche wird im Blick auf die Gesellschaft und den Staat immer wieder darauf aufmerksam machen, daß ein Pluralismus ohne Integration zerfällt und daß es immer wieder der gemeinsamen Konsensbildung über die Grundlagen bedarf. Hier wird die Kirche immer wieder auch an die Grenzen des Pluralismus mahnen, wenn es z.B. um die Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens oder um die Unantastbarkeiten des Artikels 79 Abs. 3 des Grundgesetzes geht. Gerade im Blick auf die Menschenrechte und die Grundrechte des Grundgesetzes wird sich die Kirche - gewiß nicht allein, sondern mit anderen gesellschaftlichen Kräften - zum Hüter und Wächter der "Grundwerte" machen und sie auch an Ort und Stelle entschieden verteidigen. Sie hat auch die Aufgabe, die Menschenrechte, die von der Menschenwürde abgeleitet werden, zu stützen und zu ihrer Verwirklichung beizutragen. Im einzelnen ist dies freilich nicht leicht: Im Allgemeinen und Grundsätzlichen ist man sich vielfach einig, aber besonders im Fall der Kollision verschiedener Grundwerte und einer Güterabwägung gibt es wohl mit Recht unterschiedliche Meinungen und auch unübersehbare Ermessensspielräume.
Die Kirche darf sich von ihrer Mitverantwortung für das Humanum her, das ja auch zum Christlichen gehört, nicht von der Öffentlichkeit unseres Lebens abtrennen lassen. In den letzten Jahrzehnten hat die Theologie in sehr verschiedenen Spielarten immer mehr die Öffentlichkeit, ja den öffentlichen Anspruch des Evangeliums entdeckt und zur Geltung gebracht (31). Diese Öffentlichkeit ist nicht das Rampenlicht der modernen Medien. Es ist die Öffentlichkeit als Anspruch des Evangeliums vor der Welt. Sie muß freilich in der Gesellschaft als Öffentlichkeit immer neu sichtbar und namhaft gemacht werden. Gerade im Pluralismus kommt es jedoch auch darauf an, daß die verschiedenen Daseinsdeutungen öffentlich miteinander ringen und im Wettbewerb stehen. Die Kirche hat diesen "Kampf" immer auf sich genommen. Dadurch ist sie gewiß auch angefochtener und verwundbarer, aber gerade so verhindert sie auch, eine geschlossene Gesellschaft zu werden, die sich letztlich auf sich selbst bezieht.
Die dahinter sichtbar werdende Spannung muß ausgehalten und ausgetragen werden. Sie gehört zum Kreuz des Herrn, das der Kirche in dieser Zeit vom Herrn aufgeladen und aufgetragen ist. Nur unter dem Kreuz findet sie die wahre Unterscheidung der Geister. Aber dies gilt nicht nur für den christlichen Glauben. Leben besteht im fruchtbaren Ertragen und Austragen von Polaritäten.
Gaudium et Spes, Abs. 6 und 7.
Vgl. die Konstitution über die Liturgie Sacrosanctum Concilium, Abs. 37.
Vgl. die Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen Gentium, Abs. 13 und 23.
Vgl. Gaudium et Spes, Abs. 53.
Vgl. Gaudium et Spes, Abs. 74.
Vgl. Unitatis Redintegratio, Abs. 14 und 16.
Vgl. Handbuch der Pastoraltheologie I, 343; II/l, 22ff, 110, 208, 210-214, 245-253; II/2, 27, 86f, 214, 261f, 368f; vgl. jetzt Karl Rahner, Sämtliche Werke, Band 19: Selbstvollzug der Kirche, Solothurn/Freiburg 1995, vgl. Register 554.
Vgl. dazu W. Kerber/L. Samson, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie VII, Basel 1989, 988-995.
Der Hüter der Verfassung, Berlin 1931, ³1985, 71.
Ebd.
Vgl. bes. auch Politische Theologie, Berlin 1922, 4. Aufl. 1985.
Vgl. den Textband Pluralismus, hrsg. von F. Nuscheler und W. Steffani, München 1972.
Vgl. Moral und Hypermoral, Bonn 1969, 4. Aufl. 1981.
Vgl. dazu bes. R. Schnur, Die französischen Juristen im konfessionellen Bürgerkrieg, Berlin 1962.
O. Höffe, Den Staat braucht selbst ein Volk von Teufeln, Stuttgart 1988, 119.
K.D. Bracher, Zeit der Ideologien, Stuttgart 1982, 337ff.
Vgl. dazu K. Lehmann, Glauben bezeugen, Gesellschaft gestalten, Freiburg 1993, 109-127.
Vgl. dazu ausführlich J. Rawls, Die Idee des politischen Liberalismus, Frankfurt 1992, 298f u.ö.
Vgl. Glauben bezeugen, Gesellschaft gestalten, 15ff, 128ff.
Vgl. Glauben bezeugen, Gesellschaft gestalten, 10l - 108.
Vgl. dazu Kommunitarismus in der Diskussion, hrsg. von Chr. Zahlmann, Berlin 1994; Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, hrsg. von A. Honneth, Frankfurt 1993.
Vgl. aus der Überfülle der Literatur nur W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, 3. Aufl., Weinheim 1991.
Vgl. vor allem Riskante Freiheiten, hrsg. von U. Beck und E. Beck-Gernsheim, Frankfurt 1994; zur Einführung U. Beck, Die feindlose Demokratie, Stuttgart 1995.
Vgl. hier in Zusammenfassung vieler anderer Forschungen - unter anderem auch von E.W. Böckenförde und F.X. Kaufmann - den Überblick bei K. Gabriel, Christentum zwischen Tradition und Postmoderne, Freiburg 1992, dort weitere Lit.
Dazu: Glauben bezeugen - Gesellschaft gestalten, 603ff.
Vgl. Glauben bezeugen, Gesellschaft gestalten, 328ff.
Vgl. Glauben bezeugen, Gesellschaft gestalten, 343ff.
Vgl. dazu auch Glauben bezeugen, Gesellschaft gestalten, 359ff.
Vgl. K. Lehmann, Vom Dialog als Form der Kommunikation und Wahrheitsfindung in der Kirche heute, Bonn 1994.
Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, Tübingen 1972.
Vgl. z.B. W. Huber, Kirche und Öffentlichkeit, Stuttgart 1973; B. Nichtweiß, Erik Peterson, Freiburg 1992, 2. Aufl. 1993, vgl. Reg. 961f.
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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