Evangeliumstext zur Predigt: Joh 17,20-26
Das soeben gelesene und gehörte Evangelium hat schon im ersten Satz eine Reichweite bis zu uns heute. Jesus spricht zwar zu den Jüngern von damals, aber er blickt weit in die Zukunft und Geschichte der Gemeinschaft der Glaubenden: „Heiliger Vater, ich bitte nicht nur für diese hier, sondern auch für alle, die durch ihr Wort an mich glauben.“ (V. 20) Es geht also Jesus nicht nur um die Gemeinschaft der glaubenden Zeitgenossen, sondern er blickt bewusst in die ganze Zukunft hinein. Damit erreicht er auch uns. Der Blick geht über die gottesdienstlich versammelte Gemeinde hinweg auf die weltweite Christenheit, deren Zusammenhalt in Zeit und Raum verdeutlicht werden muss.
Die Mahnung zur Einheit bildet das Zentrum in Jesu Rede. Sie scheint mit fortschreitendem Wachstum der Kirche an Gewicht zu gewinnen. Im Hintergrund stehen gewiss die zum Ende des ersten Jahrhunderts überall stattfindenden innerkirchlichen Auseinandersetzungen. Aber die Sorge Jesu und des Evangelisten besteht darin, dass diese Einheit auch künftig nicht selbstverständlich ist. Um sie muss immer wieder gerungen werden (vgl. ähnlich Eph 4,5). Ja, schon an dieser Stelle wird eine Grenze unseres Tuns erkennbar. Der Aufruf zur menschlichen Leistung tritt gerade hier erstaunlich zurück. Einheit wird erbeten. Auch wenn es ein Gebot zur Einheit gibt, so haben die Jünger es doch nicht in der Hand, von sich aus diese Gabe zu verwirklichen. Sie kann freilich durch die Schuld des Menschen verloren gehen.
So ist auch verständlich, dass es in dem dichten Text des Johannesevangeliums eine große Tendenz immer wieder auf diesen Schlüsselsatz „damit sie eins sind“ hinausläuft: „für sie bitte ich“ (V. 9); „damit sie eins sind wie wir“ (V. 11); „und ich heilige mich für sie“ (V. 19); „alle sollen eins sein“ (V. 20); „damit die Liebe, mit der du mich geliebt hast, in ihnen ist, und damit ich in ihnen bin“ (V. 26)
Aber dann stocken wir zugleich, wenn es um die nähere Beschreibung dieser Einheit geht. Wo ist sie zu finden? Wir sind gewohnt, sie im „Wesen“ der Kirche, in ihren Kennzeichen und Merkmalen (eine, heilige, katholische und apostolische Kirche) zu finden und fragen nach den Kriterien dieser Einheit (z.B. überall wo das Evangelium reingepredigt wird und die Sakramente richtig dargereicht werden). Es geht aber gar nicht zuerst um die Einheit untereinander, sondern um die Einheit mit Gott.
Hier ist es dann überraschend, dass wir ein ganz anderes Kriterium erhalten, das einem regelrecht überrascht und zunächst eher ein bisschen hilflos macht. Denn das inständige Gebet, das alle eins seien (V. 21 f.) wird durch zwei kurze Sätze angegeben: „wie du, Vater, in mir und ich in dir, dass auch sie in uns eins seien“ – „wie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir“ (V. 21 ff.) Es geht also zuerst um ein Geschenk des Vaters an Jesus, dann um die Gabe Jesu an die Seinen. Es ist eine Beziehung untereinander, die Unterschiedlichkeit voraussetzt und beibehält, nämlich Vater und/oder Sohn zu sein. Aber diese Beziehung verhärten sich nicht in ihrer jeweiligen eigenen Bedeutung, sondern gehören in einer tiefen Beziehung zueinander. Dies ist das Muster der Einheit. Hier liegt der Grund für sie. Im Verhältnis von Vater und Sohn ist die Einheit der Kirche vorgebildet. Die Rede von der Kirche wird dabei ganz in die Christologie einbezogen. So ist auch das Kennzeichen der Christenheit die Einheit mit ihrem Herrn und dessen Vater. Einheit meint hier in ganz besonderer Weise Solidarität des Verschiedenen. Wir dürfen dies im Sinne des Evangelisten auch „Liebe“ nennen (vgl. 3,35, 10,17; 15,9; 17,23 ff.). Liebe und Einheit gehen hier parallel und werden identifiziert. Die Liebe ist gewiss die konkrete Äußerung der Einheit, aber sie ist und bleibt auch ihr Ursprung und Grund.
All dies ist kein Selbstzweck, auch wenn es bis tief in das Geheimnis Gottes hineinführt. Denn für den Evangelisten kommt es ganz entscheidend darauf an, das durch die Einheit aller Glaubenden ein letztes Ziel erreicht werden soll, nämlich „damit die Welt glaube, dass du mich gesandt hast“ (V. 21) und „damit die Welt erkenne, dass du mich gesandt und sie geliebt hast, wie du mich geliebt hast“ (V. 23). Die Einheit der Liebe, wie Jesus sie für die Seinen vom Vater erbittet, soll nicht in sich ruhen und alle anderen Menschen der Verderbnis überlassen. Die Liebe soll gerade durch die Einheit der Glaubenden in die Finsternis hineinleuchten. Die Welt ist der Schauplatz der göttlichen Geschichte. Freilich muss man auch aus der Welt errettet werden. Dies geschieht vor allem durch das Hören und die Annahme des Wortes. Die Erde bleibt als Gottes Schöpfung der Raum, in dem sein Ruf erklingt und gehört werden kann. Es geht also um die weltweite Sendung der Kirche und die Pflicht jedes einzelnen Glaubenden, daran teilzunehmen. Christliches Leben ist als solches Mission. Dies gilt gerade auch für die Wahrung der Einheit und ihren Wiedergewinn, wenn sie verloren gegangen ist. Aber der Schauplatz ist nicht zugleich das Ziel. Die grenzenlose Weite des Auftrags heißt nicht, dass man eine neue Welt gestalten soll. Die Jünger sind selbst nicht von der Welt. Ihre Aufgabe führt sie in die Fremde. Die Welt ist für die Jünger das Feld des Wirkens, das man durchschreitet, ohne sich darin auf Dauer einrichten zu können. In Wahrheit gilt die christliche Sendung auch nicht der Welt als solcher, sondern jenen, die in der Welt Jesus Christus von seinem Vater gegeben sind. Man weiß jedoch nicht im vorhinein, wer das ist und wie viele es sind.
Dies ist, auch wenn wir manchen weiteren Zug in unserem Evangelium übergehen müssen, die Botschaft des Rufes zur Einheit für uns. Es ist Jesu letzter Wille, Testament und Vermächtnis, an dem niemand vorbeigehen darf.
Heute sind wir dankbar, dass die Christenheit, obgleich sie oft diesen mahnenden Ruf vielleicht zwar vernommen, aber nicht tief genug verwirklicht hat, doch immer wieder vieles getan hat, um die zerstörte Einheit wieder aufzubauen. Davon zeugt auch das Johann-Adam-Möhler-Institut, das am 18. Januar 1957 von Erzbischof Lorenz Jaeger hier in Paderborn gegründet worden ist. Bis 1966 hieß es „Institut für Konfessions- und Diasporakunde“ und diente der wissenschaftlichen Erforschung und Darstellung der Lehren, des Kultes und des Lebens der getrennten Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften mit kontrovers-theologischer Zielsetzung. Bald nach dem Konzil erhielt es den Namen „Johann-Adam-Möhler-Institut für Ökumenik“. Es förderte nun die ökumenischen Bestrebungen in ihren integralen Dimensionen von der konfessionskundlichen Forschung bis zur Förderung der ökumenischen Dialoge, zu der Herausgabe mehrerer Schriftenreihen und der Vierteljahresschrift „Catholica“ für ökumenische Theologie. Nicht unerwähnt sei auch eine besondere Fundgrube in der Bibliothek mit über 150.000 Bänden.
Manchmal kommen solche Initiativen durch das Charisma einzelner Frauen und Männer zustande. Manchmal kommen die Anregungen aber auch vom kirchlichen Amt. Es war ein tiefes Anliegen des späteren Kardinals Jaeger, die auseinandergebrochenen Teile der einen Kirche Jesu Christi wieder zusammenzufügen. Er kam selbst aus einer so genannten Mischehe, geboren in der mitteldeutschen Diaspora, nämlich in Halle an der Saale. Schon bei seiner Predigt am Tag der Bischofsweihe, am 19. Oktober 1941, sprach offen aus: „Ich kann das Wort Frieden nicht aussprechen in dieser Stunde, ohne auch unserer evangelischen Glaubensbrüder in der Liebe des Guten Hirten zu gedenken ... Ich weiß, wie sehr auch sie darunter leiden, dass die Kirche in Deutschland nun schon so lange gespalten ist. Ich weiß, wie viel auch bei ihnen gebetet wird um die Wiedervereinigung im Glauben. Es kann noch niemand sehen, auf welchem Wege Gott in seiner Weisheit einst die Wiedervereinigung im Glauben uns schenkt. Aber wir müssen schon jetzt alles tun, um alles Misstrauen, alle Lieblosigkeit abzutragen, die sich zwischen den Konfessionen im Laufe der Jahrhunderte aufgetürmt haben. Wir leben in der Hoffnung, dass die Zeit nicht mehr fern ist, wo Gottes Weisheit uns die Wege zeigt, auf denen diese Einheit der Kirche wiederherzustellen ist. Bis dahin wollen wir darum ringen, Christus immer mehr in uns Gestalt gewinnen zu lassen, uns freizumachen von allen menschlichen Eifersüchteleien und Hemmungen, und nichts anderes erstreben, als Gottes heiligen Willen so zu erfüllen, wie seine Gnade ihn uns erkennen lässt.“ (Einheit und Gemeinschaft, Paderborn 1972, 7)
Von diesem Institut ist in diesen 50 Jahren gerade wegen dieser Intention viel Segen ausgegangen. Dazu gehören auch die Anstöße für das 1960 in Rom neu gegründete Sekretariat für die Einheit der Christen. Dies wird gewiss noch an anderer Stelle genauer entfaltet.
Heute möchte ich als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz dem Erzbistum Paderborn, näher hin Lorenz Kardinal Jaeger, ein herzliches Vergelt´s Gott sagen für diese geradezu providenzielle Gründung im Jahr 1957. Johannes Joachim Kardinal Degenhardt und dem heutigen Erzbischof Hans-Josef Becker sowie allen Generalvikaren und dem Domkapitel gehört ein großer Dank für die treue Förderung in den vergangenen Jahrzehnten und eben auch heute. Dies ist ein großer Beitrag, nicht nur zum ökumenischen Frieden der Christen in unserem Land, sondern auch zu ihrem gemeinsamen Wirken. Darum hat gerade im Lichte von Jesu letztem Willen der Auftrag auch heute und künftig Bestand. Dazu wollen wir alle ermutigen, nicht zuletzt die Verantwortlichen sowie die Mitarbeiter im Institut selbst. Gott schenke uns dazu seinen Segen. Amen.
(c) Karl Kardinal Lehmann
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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