Die Passionsgeschichte gehört gewiss zu den höchsten und tiefsten Erzählungen unseres Glaubens. Da darf man nichts zerreden. Es braucht keinen Kommentar, auch keine Predigt. Aber mit einigen scheuen Worten dürfen wir dem Geheimnis folgen und nachdenken, was es heute besonders bedeutet. In diesen Tagen und Wochen haben wir es mehr als sonst mit dem Tod und dem Sterben einzelner Menschen und auch vieler Menschengruppen zu tun. Das Beispiel von Brüssel zeigt uns auch, wie nahe wir immer wieder mit entsetzlichen Geschehnissen konfrontiert werden.
In diesem Zusammenhang entsteht die Frage, wie wir mit dieser Todeserfahrung umgehen. Eigentlich denken wir zunächst, Gott hat vom Wortsinn her letztlich nichts zu tun mit dem Leid und dem Tod. Er ist gerade Gott, weil er jenseits dieser menschlichen Erfahrungen des Mordens, des Sterbens, mit oder ohne Gewalt, ist. Deswegen war es bis heute in vielen Religionen auch selbstverständlich, dass Gott von seinem Wesen her unsterblich ist und letztlich auch eben in seiner glanzvollen Welt nichts mit dem Leid zu tun hat. Trotz unseres Wissens vom Leiden und Sterben des Herrn haben wir uns doch auch sehr beeindrucken lassen von der Überzeugung eines Gottes, der vom Leid nicht betroffen werden kann. In den letzten Jahrzehnten hat die Theologie, unterstützt durch eine tiefere Auslegung der Heiligen Schrift, jedoch entdeckt, wie sehr man auch in einem gewiss noch vieldeutigem Sinn vom Leiden Gottes reden kann.
Zunächst heißt dies, dass Leid und Tod auch zum Sein und Handeln Gottes gehören. Er hat zunächst Mit-Leid, wendet sich den Menschen zu, verbirgt sich nicht durch die Flucht aus der Welt in die ewige Herrlichkeit, sondern hat Interesse am Menschen, wie schon auf der ersten Seite der Bibel sehr deutlich wird. Wenn wir heute durch den gegenwärtigen Papst die Barmherzigkeit besonders hervorheben, dann spüren wir auch, dass Gott sich auch um die Sorgen und Wunden der Menschen kümmert.
Es ist eine große und lange Geschichte im Alten Bund, wie Gott immer stärker in die Welt der Menschen herabsteigt. Insofern gehört dieser „Abstieg“ zur Geschichte der Offenbarung und unseres Heils. Er bedient sich damit vieler Wege und Mittel, um uns wirklich konkret zu erreichen: Schöpfung, Wort, Weisung, Führer des Volkes und die verschiedenen Propheten, die uns diese Sorge Gottes um sein Volk, manchmal auch mit drastischen Worten und Handlungen in ihrem Leben anschaulich machen.
Es ist nicht auszudenken, was Menschwerdung Gottes heißt. Gott kommt wirklich zu uns, in unsere oft so schäbige und ungerechte Welt. Er wird einer von uns. Am stärksten zeigt sich dies in seinem konkreten irdischen Leben. Er spielt nicht Menschsein, indem er auch das Leid und das Leiden kennen lernt, um es am Ende einfach wieder abzustreifen und als großer Sieger dazustehen. So ist es ja in vielen Teilen der Weltgeschichte, dass man gerade auch bei Helden und Heroen Leid zulässt, um am Ende einen noch strahlenderen Sieger feiern zu können. Jesus muss viele tiefe Leiden und Ungerechtigkeiten seiner Zeit hart am eigenen Leib erfahren. Es ist immer wieder die größte Versuchung gerade auch seiner Jünger, ihn von aller Erniedrigung und besonders Auslieferung an seine Gegner, ja von Leid fernzuhalten. Aber indem er immer wieder darauf verweist, dass er zur unaufgebbaren Solidarität gerade mit allen, die leiden, gekommen ist, weist er auch die Jünger zurecht. Hier ist wohl auch ein langer und tiefer Graben zwischen ihm und den Jüngern, aber die Frauen halten bei ihm auch in der größten Erniedrigung aus.
Wir werden gleich die Leidensgeschichte Jesu nach Johannes hören. Hier können wir in einer oft dramatischen Spannung mit Jesus auf diesen Weg der Einsamkeit und des Verlassen-Werdens gehen. Dann werden wir immer wieder staunend, aber auch manchmal kopfschüttelnd mit ihm den Weg gehen: Das ist unser Gott! Er hat nicht die Legionen von Engeln herbeigerufen, die ihn befreit hätten, er hat aber auch nie Zweifel gewähren lassen, als ob seine „Macht“, die gerade im Verhör vor Pilatus eine große Rolle spielt, am Ende untauglich und ohnmächtig wäre. Am stärksten ist und bleibt die Liebe Jesu durch die Hingabe seines Lebens für uns, für die Schwestern und Brüder, für alle, auch für die Feinde. Und gerade darin ist er unbesiegbar. Dies ist das Herz des Christentums, an dem wir selber immer wieder auch zweifeln, besonders wenn wir die Macht und Zerstörungswut der Menschen in unserer Welt sehen. Aber die Liebe hat den längeren Atem.
Durch die Ereignisse in unseren Tagen und Wochen, wo so viele Menschen auf eine schändliche Weise, völlig unverdient und manchmal geradezu sadistisch durch Gewalt ihr Leben verlieren, wird die Passionsgeschichte in diesem Jahr uns sensibel machen für Leid, das Menschen zugefügt wird. Dies gilt nicht nur für die Opfer der Attentate, sondern auch für die heimlichen und oft verborgenen Attacken der Macht über die Menschen. Dies soll uns stark machen gegenüber jedem Triumph der Macht.
Darum verehren wir auch gleich das Kreuz, das am Ende nicht ein Zeichen der machtmäßigen Unterlegenheit ist, sondern das Zeichen, in dem Gott selbst auf ganz andere Weise, nämlich in der Macht der Liebe, seine Überlegenheit erweist. Dies macht uns auch stark gegenüber allem massenhaften Verrat der Liebe in unserer Welt. Wir wollen zuerst hören, wie sich diese Liebe Gottes zu allen Menschen in den vielen Situationen und Lebenslagen der Menschen sowie in den Nöten und Aufgaben in unserer Welt auswirkt und auswirken kann – durch unser Bekenntnis des Glaubens und das Zeugnis unseres Lebens. Amen.
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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