Ich will mich im Rahmen der mir zugestandenen Zeit an mein Thema „Das Konzil und seine Wirkungsgeschichte" halten, obgleich dies in 20 Minuten eine große Herausforderung darstellt. Es gibt Erkenntnisse, die eine Art von Voraussetzungen sind für das Thema, in dieser Zeit jedoch nicht entfaltet werden können. Ich möchte Ihnen jedoch einen Text anbieten, wo neben dem Vortrag selbst diese Voraussetzungen, die ich nicht ausführlicher darstellen kann, nachgelesen werden können, soweit Sie dies wünschen.
Alles kommt auf den Anfang und den Ansatz an. Darum ist es notwendig, sich über die Voraussetzungen zu verständigen, wenn man über die Bedeutung des Zweiten Vatikanischen Konzils spricht. Dabei ist es gut, dass wir heute über das Entstehen des Zweiten Vatikanischen Konzils besser Bescheid wissen als noch vor einigen Jahren. Dies geht zum Teil auf die Erschließung neuer Quellen, vor allem der Konzilstagebücher bedeutender Theologen und Bischöfe zurück. Außerdem verfügen wir über sehr präzise Untersuchungen zu einzelnen Theologen, wie wir sie bisher nicht hatten. Es ist außerdem, nicht zuletzt dank der Forschungen von Prof. G. Alberigo, heute ziemlich klar, dass Papst Johannes XXIII. dieses Konzil vor allem im Blick auf die Zukunft der Kirche gewollt hat. Schon in der Ansprache vom 25. Januar 1959 hielt der Papst ein Konzil auch darum für zweckmäßig, da die Kirche im Begriff sei, in eine geschichtliche Phase von außergewöhnlicher Tragweite einzutreten. Später ist von der „Grenzlinie zu einer neuen Epoche" die Rede. Die Akzente wurden im Verlauf der Zeit etwas verschieden gesetzt. Die Einheit der Christen spielte z.B. eine immer größere Rolle.
Der Papst hatte kein fertiges Konzilskonzept. „Ziele und Wesen des Konzils wurden fortschreitend entworfen; sobald etwas als richtig erkannt war, wurde es festgehalten und vertieft in seinen Stärken und Zusammenhängen in der persönlichen Reflexion des Papstes." Dem widerspricht nicht, dass Johannes XXIII. mit großer Beharrlichkeit das Konzilsvorhaben verfolgte. „Papst Johannes wollte ein Konzil des historischen Übergangs, folglich ein Konzil, das der Kirche den Weg weist aus der nachtridentinischen Epoche und in gewissem Maße aus der jahrhundertelangen konstantinischen Zeit in eine neue Phase des Zeugnisses und der Verkündigung; dabei sollte auf die wichtigen und dauerhaften Elemente der Tradition zurückgegriffen werden, die als geeignet beurteilt wurden, den evangelischen Charakter eines so schwierigen Übergangs zu befruchten und zu garantieren." Man kann diese Zielsetzung nicht genügend hervorheben, denn sie war weder den Bischöfen in der Weltkirche noch der Kurie selbstverständlich. Manche sahen in einem solchen Konzil nur einen Nachtrag zum Ersten Vatikanum, das ja nicht abgeschlossen war. Der Papst war in einem tiefen und unerschütterlichen Glauben an einen solchen Schritt nach vorne überzeugt, befand sich aber nach einem Wort von Yves Congar in einer „institutionellen Einsamkeit". Papst Johannes XXIII. wollte aber bewusst die Aufgabe des Konzils im Rahmen und Horizont der Zeit und der Gegenwart verstanden wissen, und zwar bewusst in einer umfassenden Perspektive.
Für das Verständnis des Konzils ist dieser Ansatz außerordentlich wichtig. In gewisser Weise darf man hier wohl auch einen neuen Akzent bei einem strukturellen Vergleich der Konzilien untereinander sehen. Denn dieses Programm unterscheidet sich deutlich von den Einberufungsgründen anderer großer Kirchenversammlungen, wo sehr oft einzelne Lehr- und Disziplinentscheidungen getroffen werden mussten. In dieser Perspektive, die allerdings zu sehr nur rückwärtsgewandt ist, kann man auch die Bedenken verstehen, die sich gegen eine solche - wie manche meinten - „diffuse" Konzilsidee richteten. Auf jeden Fall erscheint dadurch das Konzil ganz grundlegend als ein Prozess. Natürlich gilt dies zunächst für jedes historische Phänomen, aber im Blick auf dieses Konzil gehört die bewusste Gestaltung dieser Kirchenversammlung als „Übergang" zu einer neuen Zeit doch ganz grundlegend in die Konzeption selbst. So hat sich die Konzilsidee beim Papst selbst immer wieder auch verändert, indem neue Horizonte und Dimensionen eröffnet wurden: „Der Horizont des Papstes scheint sich immer mehr zu weiten, bis ausdrücklich die Menschheit in ihrer Gesamtheit einbezogen wird; nicht nur der missionarische Impuls ist hier entscheidend, sondern auch der immer strenger werdende Einsatz für den Frieden in der Welt." Dafür gab es keinen herkömmlichen „Typ" des Konzils und darum auch keine direkt brauchbaren Modelle. Freilich konnte Johannes XXIII. das geplante Konzil auch in ziemlich traditionellen Formen beschreiben. Ich möchte diesen Ansatz „Konzil als Prozess" und „Konzil als Übergang" zum Verständnis des Konzils einer Kennzeichnung als „aggiornamento", „Modernisierung" usw. vorziehen oder mindestens gleichstellen.
Von dieser offenen Strukturanlage des Zweiten Vatikanischen Konzils her ergibt sich natürlich auch die hier besonders wichtige Aufgabe, den Verlauf des Konzils und damit die Verwirklichung dieser Konzilsidee sehr genau zu verfolgen. G. Alberigo hat 1992 vor diesem Hintergrund auch das historiografische Projekt der Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils begründet: „In den hinter uns liegenden Jahren sind zwar Studien über einzelne Entscheidungen des Konzils oder über den einen oder anderen Aspekt seines Verlaufs produziert worden, aber es handelte sich dabei immer um Arbeiten, die nicht aus dem organischen Bemühen um die Kenntnis des tatsächlichen Verlaufs der konziliaren Versammlung erwachsen waren. Dies hat sich dahingehend ausgewirkt, dass einer bloß fragmentarischen Kenntnis der Konzilsarbeit Nahrung gegeben wurde, wobei im Schatten blieb, welch umfassende historische Bedeutung das Zweite Vatikanum gehabt hat, nämlich als Ereignis des Übergangs des Katholizismus - und im großen Ausmaß auch des gesamten Christentums - von einer Epoche in die andere. Überdies hat das Fehlen einer Gesamtschau des Konzils dazu geführt, dass auch ein Impuls von Belang zur wissenschaftlichen Vertiefung der Einsicht in die Erneuerungsbemühungen ausgeblieben ist, denen das Konzil selbst die Richtung gewiesen oder die es selbst angeregt hat. Die Unsicherheiten und die Langsamkeit der Rezeption haben eben darin eine nicht unbedeutende Ursache."
Es scheint mir von großer Bedeutung zu sein, dass man diesen vielfältigen Prozesscharakter des Konzils selbst im Auge behält. Dies ist nicht einfach. Man muss nämlich im selben Augenblick in die Vergangenheit und in die Zukunft blicken. Darum erscheinen auch manche Ereignisse und Texte in einer gewissen Zwiespältigkeit. Sie sind wie ein Januskopf, der auch Rätsel aufgeben kann, je nach der Richtung, in die man blickt. Gewiss ist dies bei jedem historischen Phänomen ähnlich, aber beim Konzil ist es Programm. Nicht zuletzt deshalb steht auch das Konzil als Ereignis, nicht nur als Textsammlung im Vordergrund.
Wir sind gewohnt, dass wir als Ausgangspunkt für Rezeptionsprozesse eine eindeutige, umgrenzbare und „fixe" Größe haben. Von da aus lassen sich dann die Rezeptionsprozesse sehr viel besser verfolgen, typisieren und vielleicht sogar als „Modelle" kategorisieren. Dies ist beim Zweiten Vatikanischen Konzil anders. Es gibt nicht nur eine sonst nie gekannte Quantität von Texten und ein überaus breites Spektrum an Aussagen, sondern darin auch eine zum Teil recht spannungsgeladene Bewegung. Ich würde jedoch weniger behaupten wollen, damit seien die Texte von vornherein gleichsam „uneindeutig", was dem äußeren Anschein nach zutreffen kann. Lieber würde ich zunächst einmal von der Vieldimensionalität der Texte sprechen. Dies muss jede Hermeneutik, die unabtrennbar von der Rezeption ist, beachten.
Der Rezeptionsbegriff ist dabei sehr anspruchsvoll. Er bezieht sich ja vor allem auf die Adressaten im Verstehensprozess von Lebensäußerungen. Sprecher und Hörer, Text und Leser gehören hier irgendwie immer zusammen. „An der wechselseitigen und prinzipiell offenen Auseinandersetzung im Verstehensakt sind demnach die Vormeinungen und Erwartungen des Rezipienten, seine situative Eingebundenheit in Lebenskontexte und seine Verfahren der Sinn¬erschließung gleichermaßen beteiligt wie die Vorgaben des Sprechers oder des Textes. Das Vorverständnis des Empfängers darf im Austausch beider Seiten nicht letztlich zu Gunsten einer trügerischen Objektivität als auslöschbar aufgefasst werden, da es dauerhaft mitbestimmend bleibt." Gerade beim Zweiten Vatikanischen Konzil scheint es mir wichtig zu sein, dem Ausgangspunkt, also dem konziliaren Geschehen selbst mit seinen Resultaten, sehr genau nachzugehen. Die Uneindeutigkeit mancher Texte darf nicht zu einem Steinbruch werden, aus dem jeder auswählt, was ihm passt, sondern man muss die konkreten Bestimmungen der Konzilsaussagen mit ihren Kontexten selbst genau verfolgen. Sonst verlieren sie ihre Normativität. In diesem Sinne scheint mir die historisch-kritische Erschließung des Konzils, wie es durch das schon genannte fünfbändige internationale Werk unter Führung von G. Alberigo (1926-2007) geschieht, auch für eine systematische Fragestellung von großer Bedeutung zu sein. Man darf hier den normativen Ursprung nicht zu schnell überspringen in die Rezeption hinein.
Es kommt noch ein weiteres Element hinzu. Ein Konzil vereinbart Texte, aber dabei bleibt es nicht. Ein Konzil schreibt Geschichte. Überall wird das gegenwärtige und das künftige Leben der Kirche auf vielen Ebenen mitbetroffen. Auch die gewesene Geschichte rückt oft in ein anderes Licht. Dies steigert sich noch, wenn wir im Zusammenhang der Frage der Rezeption die Frage erörtern, wo das Konzil selbst nicht nur positive Errungenschaften gebracht hat, sondern wo seine Verwirklichung auch mit Einbruchsstellen und Mängeln verbunden ist. Die Forschung der letzten Jahre hat ja schon deutlich aufgezeigt, dass viele Symptome der kirchlichen Krise, die oft dem Konzil und seinen Folgen selbst angelastet werden, in Wirklichkeit schon vor der Konzilszeit oder während des Konzils zu verzeichnen sind. Ich denke z.B. an den Rückgang geistlicher Berufungen, die Probleme katholischer Medienerzeugnisse, eine gewisse Krise der Verbände usw. Wenn man nicht sorgfältig die verschiedenen Schichten und Horizonte bestimmt, entsteht ein kaum mehr zu entwirrender Knoten recht unterschiedlicher Stränge. Man muss also, gerade um einer gediegenen Rezeption willen, immer wieder zu den Quellen zurück, die hier aber identisch sind mit der großen Baustelle des Konzils. Man muss sorgfältig unterscheiden, in welchem Horizont bestimmte Aussagen ergangen sind. Nur dann ist man in der Lage, dem besonders wichtigen Phänomen der „Horizontverschmelzung" nachzugehen, um so die Lagerung vieler Schichten und die Staffelungen mehrerer Horizonte - oft in einer Aussage - zu verstehen.
Ein Konzilstext ist nicht identisch mit dem Elaborat eines Wissenschaftlers. Eine Konzilsaussage hat eigentlich fast immer Konsenscharakter. Mindestens entstammen die meisten Aussagen einem solchen Prozess und tragen die entsprechenden Spuren des Durchgangs durch ihn an sich. So handelt es sich oft um Kompromisse, auch wenn es am Ende einmütige Abstimmungen waren. Darum sind die Aussagen einzelner Gelehrter oder manchmal auch wissenschaftlicher Teams auf ihre Weise eindeutiger und bestimmter. Dies muss kein Mangel lehramtlicher und besonders konziliarer Texte sein, sondern zeigt zunächst nur ihre Eigenart auf, die auch eine Stärke sein kann: Sie sind Konsenstexte. Gerade deshalb brauchen aber Konzilstexte eine eigene Hermeneutik. Man muss die Konstellation ihres Zustandekommens und das Verschmelzen verschiedener Horizonte vor Augen haben.
In dieser Hermeneutik geht es zunächst darum, konziliare Texte gerade des Zweiten Vatikanischen Konzils in ihrer umfassenden Komplexität zu lesen. Ein bloß und von vornherein interessengeleitetes Suchen und Auswerten der Texte wird in diesem Horizont fast notwendig eklektisch. Man zitiert von verschiedener Seite, ob „konservativ" oder „progressiv", oft nur Textsplitter. Auslassungen werden oft nicht kenntlich gemacht. Ergänzungen und gar Parallelen mit neuen Akzenten werden nicht beachtet. So werden nur einzelne Teilaussagen verwendet, die im Grunde bloß das Absprungbrett für Gedanken sind, die man ohnehin und unabhängig schon hat. Dies ließe sich zeigen an den Aussagen z.B. über die Wertung des Atheismus (LG 16; GS 18-22; AG 7), über die oft erörterte „Hierarchie der Wahrheiten" (UR 11), über Kriterien der Gliedschaft in der Kirche (LG 14) usw. Die innere Vielschichtigkeit zahlreicher Aussagen des Konzils muss den Primat behalten vor aller relativ wenig reflektierten Auswahl oder einer selektiven Wahrnehmung der Texte. Die eigentümliche Offenheit und Vieldimensionalität der Aussagen hat auch eine wichtige Potenzialität für künftige Auslegungen.
Missverständnisse gibt es jedoch nicht nur wegen einer mehr oder weniger oberflächlichen oder gar willkürlichen Behandlung der Texte. Deswegen darf man auch nicht alles den Rezeptionsprozessen ankreiden. Man darf gewisse Spannungen in den Aussagen des Konzils selbst nicht übersehen. Ein Teil ist sachlich bedingt, wie z.B. zwischen der anerkannten Religionsfreiheit und dem eigenen Wahrheitsanspruch der Kirche, zwischen der Anerkennung eines ekklesialen Status der nichtkatholischen Kirchen sowie kirchlichen Gemeinschaften und der „Subsistenz" der Kirche Jesu Christi in der katholischen Kirche (vgl. LG 8). Hier darf man nicht „einseitig" interpretieren - wie es leider gelegentlich auch in offiziellen postkonziliaren Texten erfolgte -, sondern muss eine sehr komplexe Realität zusammenhalten, die nicht zuletzt auch den Geheimnischarakter von Kirche mit ausmacht. Andere Texte verraten jedoch, dass das Ringen verschiedener Strömungen und Tendenzen auf dem Konzil noch nicht in einer höheren Synthese aufgehoben werden konnte. Dies gilt z.B. für das Nebeneinander von Aussagen des Vaticanum I und des Vaticanum II über den Primat des Papstes, aber auch über die Struktur und das Subjekt der höchsten Vollmacht in der Kirche im Zusammenspiel von Papst und Bischofskollegium (vgl. LG, Kap. III). Ähnliche Spannungen lassen sich auch in den Aussagen über das Priesterbild erkennen (vgl. LG 28, PO), in denen neben der Bestimmung des Priestertums von einem umfassenden Verkündigungsauftrag her unverbunden auch andere Elemente wiederum einen Vorrang bekommen, wie z.B. eine sazerdotal-kultische Umschreibung. Manchmal kam das Konzil zu Konsensus-Aussagen, die zweifellos einen großen Raum wahrer Gemeinsamkeit zum Ausdruck bringen, jedoch nicht darüber hinwegtäuschen dürfen, dass hier eher Abgrenzungen nach verschiedenen Seiten aufgestellt worden sind und nicht schon gültige Antworten gegeben werden konnten.
Dies kann so weit gehen, dass das Konzil noch keine Lösung für ein Problem unmittelbar formulieren kann, aber nach mehreren Seiten hin so etwas wie Leitplanken aufstellt, die nach außen hin abgrenzen, um besser den inneren Raum zu markieren, innerhalb dessen die Lösung erst noch gefunden werden muss. Ich glaube, dass dies neben den schon erwähnten Beispielen auch z.B. bei den wichtigen Ausführungen in der Dogmatischen Konstitution „Dei Verbum" zu den Fragen der Inspiration und der Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift gilt.
Im Übrigen kommt hier die Differenz von Lehramt und Theologie gut zur Anschauung. Ein Konzil kann viele anstehende theologische Fragen nicht ausreichend lösen. Es ist hier auch abhängig von der Theologie der jeweiligen Zeit. Das Konzil von Trient konnte deshalb entscheidende Elemente z.B. einer Theologie des Bischofsamtes nicht realisieren. Dies kann Konzilien nicht angelastet werden, weil die theologische Einzelausarbeitung von Lösungen nicht ihre unmittelbare Aufgabe ist, besonders bei einer Funktionsdifferenzierung von Lehramt und Theologie, wie dies heute möglich und notwendig ist. Die Theologie sollte aber im Gefolge solcher unerledigt gebliebener Aufgaben diese auf ihre eigene Verantwortung hin mutig aufnehmen und weiterführen, wie es nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil auch in weiten Teilen geschehen ist. Dabei muss die Theologie zum Teil über die konziliaren Texte hinausgehen. Ich erwähne als Beispiel die sehr wenigen Aussagen zur Pfarrei innerhalb der konziliaren Ekklesiologie und die intensiven Bemühungen in der nachkonziliaren Ära um eine Theologie der (Einzel-)Gemeinde. Es ist dabei bezeichnend, dass man heute in der Diskussion eine manchmal überzogene Gemeindetheologie bereits wieder etwas zurückrufen muss zu einer angemessenen, breiteren ekklesiologischen Basis, die natürlich weiter ausgreifen muss im Sinne des dreifachen paulinischen Gebrauchs von „Ekklesia", nämlich Gemeindeversammlung, Einzelgemeinde, Universalkirche.
Dies darf jedoch nicht heißen, dass Konzil sei nur rezeptiv im Blick auf die vorausgehenden theologischen Leistungen. In mancher Hinsicht gibt es auch Impulse, die nicht von der Gegenwartstheologie abgeleitet werden können, sondern sich anderen Anstößen verdanken. Dies gilt z.B. für die Aussagen zur Ökumene, zu den Heilsmöglichkeiten für Nichtchristen, zur Religionsfreiheit und zu manchen anderen Dingen.
Gerade weil das Konzil in der Art des lehramtlichen Sprechens einen neuen Stil wählte und sich nicht mit der Verurteilung abweichender Lehren begnügen wollte, muss diese vielschichtige, spannungsreichere und offenere Struktur der Aussagen stärker beachtet werden. Dies zeigt allerdings auch, wie schwierig in nicht wenigen Fällen ein bloßes Festschreiben, eine Kanonisierung oder manchmal auch ein Umsetzen der konziliaren Sprache z.B. in Rechtsterminologie bleiben, wenn die aufgezeigte Struktur nicht zur Geltung kommt. Wenn es richtig ist, das Konzil zwischen Überlieferung und Erneuerung, zwischen Tradition und Innovation zu verorten, dann muss auch sorgfältig darauf geachtet werden, wie das Vaticanum II im Licht der umfassenderen Glaubenstradition der Kirche verstanden werden muss. Eine solche Sicht bedeutet keine Einebnung des neuen Aufbruchs und neuer Perspektiven, auch nicht eines wachsenden Glaubensverständnisses und einer fortschreitenden theologischen Reflexion. Wohl aber verbietet ein solcher Grundsatz z.B. das Übergehen früherer Konzilsentscheidungen, die das Zweite Vatikanische Konzil nach seinem eigenen Verständnis ergänzen. Es besteht ja kein Zweifel, dass das Konzil mit Hilfe der Hl. Schrift, der Theologie der Väter, verschiedener theologischer Schulen und mit den Zeugnissen der Spiritualität manche eng geführte theologische Position aufbrechen konnte. Dabei darf der Rang der liturgischen Überlieferung nicht vergessen werden. Hier konnten oft nur neue, bisher sogar vernachlässigte Quellen Engpässe in der bisherigen Konzeption und im Verstehen aufsprengen. Dies war z.B. eindrucksvoll vorbereitet worden durch die liturgiegeschichtliche Forschung bis zum Konzil.
Gerade die Überlieferung im Sinne des theologischen Traditionsprinzips hat nicht nur einen allgemein und überall gültigen bewahrenden Charakter, sondern schränkt dies ein auf die wirklich verbindliche Überlieferung, die außerdem - gerade wenn sie in ihrer ganzen Breite aufgenommen wird - innovatorische Impulse enthält. Viele Elemente der konziliaren Erneuerung verdanken sich der Wiederentdeckung des biblischen, patristischen und spirituellen Erbes der Kirche sowie dem neuen Gewicht, das ursprüngliche liturgische Formen (wieder-) bekamen. Wenn dies besser beachtet würde, dann würde man auch Anschauungen kritischer begegnen, die im Konzil einen totalen Neubeginn sehen, einen Bruch zwischen der „vorkonziliaren" und der „nachkonziliaren" Kirche erblicken wollen oder im Zweiten Vatikanischen Konzil eine Wiederentdeckung des ursprünglichen Evangeliums sehen wollen, das vorher weitgehend verdunkelt oder gar verdeckt gewesen sei. Das Zweite Vatikanische Konzil steht zweifelsfrei in der Tradition aller bisherigen Konzilien. Dass auch neue Anstöße, wie z.B. aus der Ökumene, wirksam wurden, ist ebenso wenig zu bestreiten wie die Einwirkung pastoraler Erfahrungen, hinzu kommt missionarischer Anstoß aus der Weltkirche bis in das Recht hinein.
Interpretationen, die sich auf ausgewählte Textsplitter, einzelne Perspektiven beschränken oder im Vaticanum II einen totalen Neubeginn mit fortwährend sich überstürzender Dynamik sehen, sind nicht selten der Gefahr erlegen, sich auf den „Geist" des Konzils mit, ohne oder auch gegen den Buchstaben zu berufen. Der „Buchstabe" und der „Geist" des Zweiten Vatikanischen Konzils gehören zusammen und lassen sich nicht voneinander trennen. Die Härte und Bestimmtheit der einzelnen Aussagen gehört in den weiten und offenen Horizont des Ganzen, wie umgekehrt sich der Geist des Ganzen im Detail bewährt und konkretisiert.
Viele Missverständnisse und Irrwege in der Rezeptionsgeschichte des Konzils entspringen auch einem verhängnisvollen Dualismus zwischen einer ausschließlich „pastoralen" Sicht der Wirklichkeit und dogmatischen Aussagen. Nun gibt es gewiss eine legitime Differenz zwischen Theorie und Praxis, in ihrer Konsequenz auch zwischen pastoraler Perspektive und dogmatischen Prinzipien. Das auf die Menschen in der heutigen konkreten, individuellen und gesellschaftlichen Situation bezogene theologische Sprechen kann man gewiss „pastoral" nennen. Es steht so in keinem wirklichen Gegensatz zu einem verantwortlichen dogmatischen Denken. Im Gegenteil, „pastoral" meint das Geltendmachen der bleibenden Aktualität des Dogmas. Gerade weil das Dogma wahr ist, muss und kann es immer wieder neu lebendig zur Wirksamkeit gebracht werden, muss man es pastoral auslegen. Es strebt von selbst in seiner Geltung in die lebendige Gegenwart.
Zweifellos gibt es im konziliaren Geschehen auch das Wehen des Gottesgeistes. Dieser kann gewiss nicht gegenständlich ausgemacht werden. Er ist und bleibt unverfügbar. Aber zweifellos bezeugt er im konziliaren Geschehen auch seine innovatorische Kraft. Gewiss kann nicht jede „Neuerung" unmittelbar auf ein pneumatisches Wirken zurückgeführt werden. Aber manche Durchbrüche haben doch wohl etwas mit dieser erneuernden Dynamik des Gottesgeistes zu tun. Es ist z.B. heute noch überraschend, in welcher Weise die Aussagen über die Wirksamkeit des Heilswillens Gottes, besonders den Nichtchristen und auch den Nichtglaubenden gegenüber, als beinahe selbstverständlich vom Konzil angenommen worden sind, obgleich dies theologisch nur bedingt vorbereitet war. Hier spielte die Deutung der Lebenswirklichkeit und der täglichen Erfahrungen, vor allem auch der Bischöfe aus Mittel- und Osteuropa, eine wichtige Rolle. Dabei hat jedoch niemand den Atheismus und gerade den militanten Atheismus verharmlost.
Die Geschichte der Rezeption ist auch zugleich die Geschichte der Verweigerung von Rezeption oder einfach einer nicht stattgefundenen Rezeption. Wir brachten schon Beispiele. Dabei gibt es nicht nur eine Distanzierung von weniger geglückten Aussagen, wie z.B. das Dekret „Inter mirifica" über die sozialen Kommunikationsmittel, das bald - nicht ohne Paul VI. - durch die Verlautbarung „Communio et progressio" (1971) abgelöst und faktisch ersetzt wurde. Es gibt aber auch Texte, die eine hohe Qualität haben und bis heute in manchen Partien weniger rezipiert worden sind, wie z.B. die Offenbarungskonstitution „Dei Verbum". Auch die Kirchenkonstitution ist streckenweise nur sehr selektiv rezipiert worden. Bei den wichtigen Kapiteln V bis VIII muss fast Fehlanzeige erstattet werden.
Darum ist es notwendig, nicht nur einzelne Rezeptionsmodelle, die es in hoher Trennschärfe wohl auch gar nicht so leicht zu unterscheiden gibt, zu behandeln, sondern man muss alle oder wenigstens die wichtigsten Texte auf ihre jeweilige Wirkungsgeschichte hin verfolgen, wobei die regionalen Unterschiede und Akzentuierungen nicht zu vergessen sind. So wäre etwa die Rezeption in Lateinamerika durch die Dokumente von Medellín 1968 eine eigene Aufgabe. Dies kann hier selbstverständlich nicht einmal im Ansatz erfolgen.
Stattdessen soll hier wenigstens noch ein Blick auf eine besondere Verlautbarung des Konzils geworfen werden. Dies ist die Pastoralkonstitution „Gaudium et spes", die schon als „literarisches Genus" konzilsgeschichtlich ein Novum darstellt, was gewiss auch mit der eingangs erörterten Aufgabe des Konzils zu tun hat. Sie bringt die konziliare Öffnung der Kirche zur Welt von heute unübersehbar deutlich zum Ausdruck.
Mit diesem Text wurde eine grundlegende Aussage gesucht, die das Thema der Begegnung von Christentum und moderner Welt auf dem Boden des katholischen Glaubensverständnisses behandelt. Dabei zeigten sich viele Schwierigkeiten: belastete Geschichte in der Neuzeit, Kirche und Welt, Suche nach einer angemessenen Sprache und nach adäquaten Modellen, Ermüdungserscheinungen vor allem der Berater-Theologen in der häufigen Überarbeitung eines großen Dokumentes. Schließlich zeigten sich schon unter den Theologen und Bischöfen neue, bisher weniger in Erscheinung getretene Frontstellungen. Die Phalanx der „Progressiven" brach langsam auseinander. Dennoch kam nach langen Bemühungen („Schema XIII", „Schema XVII") ein überraschend guter und differenzierter Gesamttext zustande, für den es allein in der letzten Phase 20.000 Abänderungsanträge gab. Am letzten Tag des Konzils, dem 7. Dezember 1965, stimmten 2.309 Konzilsteilnehmer mit Ja- gegen 75 Nein-Stimmen.
Eine dualistische Frontstellung von Kirche und Welt wird weitgehend überwunden. Die irdischen Dinge erscheinen in ihrer „sachgerechten Eigengesetzlichkeit". An wichtigen Themen wird dies exemplarisch durchgeführt: Ehe und Familie, Krieg und Frieden, Kultur und Wissenschaft, Glaube und technischer Fortschritt, Menschenwürde und Menschenrechte. Manche Passagen sind bis heute wenig beachtet, andere durch viele Dokumente fortgeschrieben, wie z.B. die Verlautbarungen zum Frieden. Auch methodisch hat die Pastoralkonstitution viele Aufgaben, die nur bedingt wahrgenommen wurden, gestellt: Kriteriologie für die „Zeichen der Zeit", Rolle von Erfahrung und Empirie, induktive Methode, Frage der Denkformen, Problematik einer „Pastoralkonstitution" usw. Im Blick auf viele Probleme, wie z.B. das Verhältnis von Heil und Wohl, technischem Fortschritt und Glauben ist „Gaudium et spes" viel differenzierter, als viele Kritiker meinen. Oft argumentiert man von früheren Textstufen her, ohne die späteren Veränderungen zu verfolgen. Manche Konzilstheologen und Bischöfe haben offenbar im Endstadium des Konzils die Veränderungen der letzten Redaktion nicht mehr so nachhaltig wahrgenommen. Der verabschiedete Text trägt der Vielschichtigkeit der Welterfahrung durchaus Rechnung, auch im Blick auf die Macht der Sünde in der Welt. Vielleicht gibt es da und dort noch einzelne Spuren eines zeitbedingten Fortschrittsoptimismus, der damals noch lebendig war. Aber das Wissen um die Schattenseite des Fortschritts und die bleibende Zweideutigkeit vieler Entwicklungen ist durchaus präsent. In manchem mag die Vermittlung von Christentum und Moderne etwas voreilig erscheinen. Auch ökumenische Beobachter warnten vor einer solchen Sicht. „Gaudium et spes" stellt in manchem gewiss noch keine hinreichende Lösung dar, die in diesem Bereich ohnehin immer wieder weiterbedacht werden muss. Man kann heute die Texte von 1965 gewiss nicht mehr naiv lesen, sondern muss sie durch die Nach- und Wirkungsgeschichte hindurch in ihrer komplexen ursprünglichen Intention und Struktur für heute zu verstehen suchen.
So muss man auch den Rezeptionsprozess von „Gaudium et spes" kritisch verfolgen. Es gibt eine gewisse „progressive" Interpretationslinie, die in der Gefahr steht, „Gaudium et spes" von den anderen Konzilsdokumenten, die sich um eine Neuinterpretation der Identität des christlichen Glaubens mühen, abzukoppeln und im Dialog sowie der Solidarität mit der Welt den Unterschied (nicht die Trennung!) zwischen säkularer Welt und Glaube/Kirche zu vernachlässigen. Es gibt aber auch den „traditionalistischen" Vorwurf, „Gaudium et spes" sei hauptverantwortlich für die tief greifende Erschütterung in der Kirche der Folgezeit; durch sie sei der „Geist der Welt" in die Kirche eingezogen und habe zu verhängnisvollen Anpassungen und schließlich zu einem konformistischen Substanzverlust des Glaubens geführt.
Viel wichtiger ist jedoch die Frage, warum es trotz „Gaudium et spes" zu einer Krise der Öffnung zur Welt hin gekommen ist. Vieles war im Lauf der Neuzeit in der Kirche angestaut. H.U. von Balthasar sprach schon 1950 von der notwendigen „Schleifung der Bastionen". Man war im verantwortungsvollen Dialog und einer wirklich hilfreichen, jedoch kritischen Solidarität mit der Moderne wenig eingeübt. Aus der notwendigen Öffnung wurde nicht selten eine ungewollte Anpassung. Mancher hat sich naiv der Welt zugewandt, ohne die umklammernde Kraft ihrer Fangarme in Rechnung zu stellen. Aber dies darf nicht der Pastoralkonstitution selbst angelastet werden. Es fehlte in vieler Hinsicht gerade bei der Vermittlung dieses Dokumentes eine differenzierte Auseinandersetzung mit den intellektuellen und spirituellen Grundfragen. Überhaupt scheint mir die Frage begleitender Bildungsmaßnahmen bei der Einführung der Konzilstexte und ihrer Rezeption bisher zu sehr übersehen zu werden - und dies bis heute. Die 50. Wiederkehr der Konzilsereignisse gab uns Gelegenheit zur „relecture" auch auf dieser Ebene.
Obgleich sich viele Herausforderungen schon vor dem Konzil ankündigten, wie wir eingangs kurz bemerkten, kam es besonders im Jahr 1968 (Stichworte: Biafra, Vietnam, Ende des Prager Frühlings, Studentenunruhen, „Humanae vitae", „Königsteiner Erklärung", Holländisches Pastoralkonzil, Essener Katholikentag) und in den Folgejahren zu einem Wechsel der geistigen Großwetterlage. Die Ideologiekritik im Blick auf das Gottesverständnis überhaupt, den Rang von Tradition und auch die Institution brach mächtig durch. Die „Welt" war plötzlich sehr anders geworden. Man empfand sie vor allem als ein Ensemble zu verändernder Verhältnisse. Es wurde ein starker kultureller Umbruch erkennbar. Die religionssoziologischen Untersuchungen bestätigen für die Zeiträume 1968 bis 1971 und wiederum um 1974 kräftige Schübe einer wachsenden Säkularisierung. In dieser Zeit ist die Kirche nach dem Konzil jedoch sehr stark binnenorientiert und - wenigstens in Mitteleuropa - zu sehr mit sich selbst beschäftigt, d.h. vor allem mit der Liturgiereform und dem Auf- und Ausbau der Räte. Die Theologie entwickelt verschiedene Entwürfe des Weltverständnisses, die sich jeweils als Fortbildung von „Gaudium et spes" verstehen. „Welt" wird nun zunehmend nicht nur als Geschichte begriffen. Die ökologische Thematik verändert zudem sehr stark ein Weltverständnis, das nur von der Veränderung her konzipiert ist und regt neu die Beschäftigung mit „Welt" als Schöpfung an. Die neue Enzyklika „Laudato si" von Papst Franziskus vom 24.05.2015 zeigt auch offiziell diesen Wandel an.
Man muss heute den Text von „Gaudium et spes" im Licht der Rezeptionsgeschichte lesen. Es ist unvermeidlich, dass man einerseits in einem erneuten Anlauf die Intention von „Gaudium et spes" und den Text selbst unter den gegenwärtigen Bedingungen interpretiert, und dass man andererseits zugleich im Sinne eines Korrektivs jene Dimensionen besser zur Geltung bringt, die bisher zu kurz kamen. Deswegen lohnt es sich, vielen Aussagekomplexen nachzugehen, die vielschichtig, spannungsvoll und manchmal auch widersprüchlich sind und quer zum zeitgenössischen Bewusstsein liegen. Die „widerborstigen" Gesichtspunkte müssen zur Geltung gebracht werden. Darum kann man im Rezeptionsprozess auch die vorläufige und unabgeschlossene Form des Dokumentes noch besser akzeptieren als früher. Vielleicht ist manchmal das „Ethos" des Textes wichtiger als seine Lösungen. So fordert „Gaudium et spes" selbst ein beständiges Weiterbedenken der Sache. Es gibt jedoch auch einige Gesichtspunkte mehr inhaltlicher Natur, die der Beachtung bedürfen: Es gibt keine theologisch neutrale Welt; der stetige Entscheidungscharakter von Welt und Geschichte lässt sich nicht übersehen; ethische Verantwortung und biblischer Gerichtsgedanke dürfen hier nicht fehlen. Die Ambivalenz der Moderne muss tiefer erkannt, ernster angenommen und gründlicher ausgetragen werden. Das Kreuz Jesu Christi muss im Weltverständnis eine viel größere Bedeutung erhalten: Ausgeliefertsein an eine unausweichliche Realität, Leiden, Vergeblichkeit, Mühsal, Scheitern. Die einzige wirkliche Weltveränderung geschieht in der Passion der Liebe, in der „Zivilisation der Liebe", wie Papst Johannes Paul II. immer wieder formulierte.
Kirche und Welt lassen sich nicht fein säuberlich voneinander unterscheiden. Der Geist Gottes weht auch außerhalb der Kirche - in der Welt. Und die Kirche selbst ist bis zum Ende der Tage immer auch ein Stück Welt. Die Welt bleibt für den Christen unaufhebbar dialektisch beides, nämlich Ort der Sendung und des Kampfes, der Hoffnung und des Todes, der Liebe und der Verwundung. Sie ist stets Heimat und Fremde zugleich. Deshalb gibt es kein Ja des Glaubens zur Welt, das in dieser aufgehen könnte. Wer die Welt nicht absolut setzt und sie nicht vergötzt, kann sie tiefer bejahen, ja sogar besser lieben.
„Dialog" und „Solidarität" bilden in „Gaudium et spes" miteinander eine zentrale Achse, eine durchlaufende Perspektive. Wenn auch beide Grundworte in der Gefahr bleiben, dass sie zu Schlagworten verkommen, so müssen sie immer wieder neu bedacht und tiefer verankert werden. Die Rezeptionsgeschichte lehrt uns, dass beide Perspektiven nicht ersetzt werden können. „Gaudium et spes" hat aber auch die Sprache des Lehramtes verändert, jedenfalls, wenn es um kirchliche Stellungnahmen zu aktuellen Problemen geht. In diesem Sinne ist „Gaudium et spes" vielleicht in der Tat doch das am meisten gelungene Dokument des Zweiten Vatikanischen Konzils.
Diese kurze Überlegung zeigt, dass die Rezeptionsgeschichte keine Einbahnstraße ist. Sie ist auch nicht nur Nachgeschichte oder Wirkungsgeschichte nach vorne, sondern sie erhellt immer wieder den Grundtext selbst und spielt die Rezeption zwischen dem gelegten Grund und seiner Nachwirkung durch. So rückt der Text immer wieder neu in den Kontext des kirchlichen Lebens.
Man kann sich fragen, ob es in dem nun bald 50-jährigen Rezeptionsprozess verschiedene Phasen gibt. Dies ist nicht so leicht zu beantworten, weil die einzelnen Problemfelder und die regionalen Akzente recht verschieden sind. Es ist im Übrigen auch nicht leicht, zwischen Erwartungen aufgrund konziliarer Aussagen oder auch nur zwischen Erwartungen im „Geist" des Konzils und ihrer Einlösung oder Verweigerung zu unterscheiden. Dadurch wird aber das Rezeptionsklima sehr bestimmt.
Es gibt m.E. zwei wichtige amtliche Dokumente zur offiziellen Beurteilung der Rezeptionsgeschichte des Konzils, die jedoch zu sehr in Vergessenheit geraten sind. Ich kann sie im Rahmen dieses Beitrags auch nur nennen. Dies sind zunächst die Beratungen der Außerordentlichen Bischofssynode 1985, also 20 Jahre nach dem Abschluss des Konzils. Das Schlussdokument aus dem Jahr 1986 mit der Botschaft an die Christen in der Welt ist heute noch beachtlich. Schließlich hat Papst Benedikt XVI. ein gutes halbes Jahr nach seiner Wahl, als viel über das „Schicksal" des Konzils diskutiert wurde, in einer Ansprache an das Kardinalskollegium und die Mitglieder der Römischen Kurie beim Weihnachtsempfang am 22. Dezember 2005 - also 20 Jahre nach der soeben genannten Bischofssynode - eine nach wie vor hilfreiche Wegweisung gegeben. An der grundlegenden Treue dieses Papstes zum Konzil kann kein Zweifel bestehen, was sich vor allem auch in der Auseinandersetzung mit den Pius-Brüdern zeigt.
Unter diesen Voraussetzungen möchte ich die Möglichkeit einer durch vier Phasen gekennzeichneten Gesamtrezeption erwägen.
1. Eine erste Periode lässt sich als Phase des Aufbruchs und des Überschwangs zugleich kennzeichnen (ab 1965 und schon früher). Neben der festen Zuversicht, mit Hilfe der Konzilsbeschlüsse ein neues Kapitel der Kirchengeschichte eröffnen zu können, zeigte sich eine etwas enthusiastische Einschätzung des Konzils: absoluter Neubeginn, Initialzündung einer weiteren Dynamik, die die Konzilstexte bald als eigentlich schon überholt vorkommen ließ. Hier war die vage Berufung auf den „Geist" des Konzils besonders wirksam und hat einen ernsthaften Rezeptionsprozess eher gefährdet. Auf der anderen Seite muss man sehen, dass in dieser ersten Epoche gerade von den führenden Konzilstheologen sehr viel für eine sachgerechte Kommentierung der Texte geschehen ist, die heute noch in vielen Teilen Bestand hat.
2. Diese Periode wurde zwangsläufig bald abgelöst durch eine zweite Phase enttäuschter Hoffnung (ab 1972/3). Das Erwartete wurde nicht im ersehnten und gewünschten Maß erreicht. Den Erneuerungsbemühungen stellten sich Hindernisse in den Weg. Heftige Auseinandersetzungen über Richtung und Gangart der nachkonziliaren Erneuerung stellten sich ein. Karl Rahners Stichwort „Marsch ins Getto?" gehört in diese Zeit. Die Polarisierung unterschiedlicher Einschätzungen verfestigte sich: Die progressiven Reformer klagen über die Beharrungskraft der Institution Kirche, die Konservativen sprechen von Auflösungserscheinungen. Kontestation und Protest stehen gegen Restauration und Traditionalismus.
3. In der Zwischenzeit hatte schon längst eine dritte Phase begonnen (ab 1985). Man erkennt die relative Unfruchtbarkeit der bisherigen Auseinandersetzungen. Es gibt Hinweise für eine Neuorientierung und Neubesinnung. Hier hat - wie schon erwähnt - die Außerordentliche Bischofssynode des Jahres 1985 eine positive Bedeutung bekommen. Das Bild ist jedoch uneinheitlich. Die wichtigsten Teilnehmer des Konzils sind auf der Seite der Bischöfe und Theologen zum größten Teil nicht mehr am Leben. Restriktive Maßnahmen, die z.T. auch auf Missbräuche zurückgehen, lähmen. Das Problem der Gestaltung und Vermittlung von Freiheit und Bindung ist weithin ungelöst. Viele haben das Empfinden, dass ein Neuaufbruch Not tut. Nicht wenige rufen darum nach einem Vaticanum III. Darüber soll jetzt nicht gehandelt werden. Der Ruf danach kann auch die jetzigen Aufgaben und jetzt schon zu ergreifenden, realen Möglichkeiten verdecken. Aber das Feuer des Zweiten Vatikanischen Konzils ist nicht erloschen.
4. Vielleicht stehen wir in einer vierten Phase, deren Beginn mit dem 50jährigen Konzilsgedenken und vor allem mit dem Beginn des Pontifikates von Papst Franziskus angesetzt werden könnte (ab 2012/13). Wir stehen noch in dieser Phase und können sie im Blick auf den Ertrag besonders auch für die nahe Zukunft noch nicht ausreichend beurteilen. Hier wird es nicht zuletzt auf die Früchte der Bischofssynoden 2014/15 und auf das „Jahr der Barmherzigkeit" (2015/16) ankommen. In unserem Land spielen der fünfjährige Dialogprozess (2010-2015) und die Gestaltung des künftigen Reformationsgedenkens 2017 eine gewichtige Rolle. Die Flüchtlingsdramatik unserer Tage wird dabei jede Eurozentrik sprengen und durch neue Maßstäbe eine neue globale Epoche einläuten, die auch Konsequenzen hat für die Weltkirche.
Es gibt noch manche Gesichtspunkte, die man für eine künftige Rezeption und die dafür notwendige Hermeneutik anführen könnte. Aber dies soll einstweilen und vorerst genügen. Wir bleiben ja im Prozess Konzil.
Aber am Ende möchte ich einen Blick in die Zukunft tun. Es geht ja um den künftigen Umgang mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, seinen Beschlüssen und seinen Texten, aber auch mit seinem Geist. Was hat sich in den fünf Jahrzehnten am meisten geändert und wie soll dies im Umgang mit dem Konzil und seiner Wirkungsgeschichte berücksichtigt werden? Dies lässt sich hier gewiss nur sehr allgemein darstellen. Ich darf dabei auf mein umfangreiches Referat bei der Eröffnung der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz 2005 verweisen. Ich will wenigstens andeuten, worum es dabei geht: Die konziliare Hervorhebung der „Zeichen der Zeit" verlangt eine fortführende Interpretation, die sich auf das Verfahren der Diagnose (Kairologie), aber auch auf die Inhalte bezieht. Der Text versucht in einem ersten Teil „Analyse" (1-14) durch die Interpretation einiger „Zeichen der Zeit" neue Perspektiven ausfindig zu machen. Dabei geht es ausführlicher um die Entwicklung der Interpretationskategorie „Säkularisierung" und ihre Eignung zur Beschreibung der gesellschaftlichen Situation, besonders im Blick auf Religion und Kirche. Danach werden Entwicklungen unter dem Stichwort „Flexibler Mensch" (R. Sennett) zusammengefasst und analysiert, die auch die Konzeption der Arbeitswelt betreffen. Zugleich ist es notwendig, sich dem Verlust der Subjektstellung des Menschen und seiner Personenwürde entgegenzustellen. Ein letztes Paradigma ist das Merkmal der „Ambivalenz" unserer Gesellschaft.
Wenn man diese Zusammenhänge genauer analysiert, um den „neuen Zeichen der Zeit" begegnen zu können, kann man folgende Gesichtspunkte nennen:
1. Bald nach dem Konzil wurde deutlich, dass inzwischen jede positive Rede von Gott in eine grundlegende Krise kam. Das Konzil konnte noch relativ beruhigt von Gott reden und das Bekenntnis an ihn voraussetzen. Inzwischen sind alle Selbstverständlichkeiten, wenn sie es je waren, in diesem Bereich Vergangenheit. Eine schleichende Säkularisierung, die sich steigert, aber keineswegs unumkehrbar sein muss, hat auch radikal und tief das religiöse Bewusstsein erfasst. Ich habe an anderer Stelle aufzuzeigen versucht, wie im Verständnis des säkularisierten Bewusstseins und der Annahme einer „Rückkehr der Religiosität" neue Chancen für eine intensive Fortsetzung des Dialogs mit der intellektuellen Welt von heute bestehen. Alles kommt jedoch darauf an, stets wieder von neuem das Antlitz des lebendigen Gottes zu suchen. Darum steht eine Erneuerung der Frage nach Gott an erster Stelle aller Aktivitäten.
2. Es gibt unerwartete Einbrüche in der Glaubensvermittlung seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Es sind - wie oben schon dargelegt - für die Zeit vor allem zwischen 1968 und 1974 starke Säkularisierungsschübe festgestellt worden. Darum erscheint der Bruch zur „vorkonziliaren" Zeit noch größer. Vor allem die Weitergabe des Glaubens an die künftigen Generationen hat schwer gelitten, was freilich nicht kirchlich verengt gesehen werden darf, sondern auch einen Umbruch in der Tradierung kulturellen Wissens überhaupt bedeutet. Darum müssen wir mit allen Kräften die religiöse Erziehung des Kindes fördern, das Gespräch mit jungen Erwachsenen und jungen Eltern neu suchen und um das Vertrauen der Frauen überzeugender werben, vor allem in der jüngeren Generation. Hier bedeutete der Weltjugendtag im August 2005 in Köln zweifellos ein ernstzunehmendes Signal, übrigens auch die verstärkten Wiedereintritte aus der Kirche ausgetretener Menschen. Diese Bemühungen werden ja intensiver fortgesetzt. Diese positiven Impulse sind durch den Missbrauchsskandal zum Teil wieder verdeckt worden, bleiben aber nach wie vor gültig. Die Limburger Ereignisse um Bischof Franz-Peter Tebartz van Elst in den Jahren 2013 bis heute haben uns dabei mächtig zurückgeworfen.
3. Das Konzil hat sich wie vorher noch keine Kirchenversammlung und keine Epoche in der Glaubensgeschichte ausführlich und direkt mit der Kirche beschäftigt. Dies war aus vielen Gründen notwendig. Das Konzil hatte damit jedoch keine Selbstbespiegelung angezielt. Wir sind in der nachkonziliaren Zeit jedoch oft sehr auf uns selbst zurückgefallen, weil wir mit vielen innerkirchlichen Reformen, Diskussionen und Auseinandersetzungen beschäftigt waren. Hier müssen wir gründlich umlernen und die Kirche noch viel stärker in ihrer radikal dienenden Hinordnung auf Gott und die Menschen zu einem glaubwürdigen Zeugnis machen. Dienst und Dialog sind dafür die entscheidenden Stichworte.
4. Alles zielte im Konzil darauf, den Christen neu für seinen Dienst an der Welt und den Dialog mit ihr zu befähigen. Das Resultat ist auf weite Strecken hin eher enttäuschend. Wir haben viel Anpassung an die Strukturen der Gesellschaft und der Welt erfahren, aber auch neue Formen der Weltflucht hinnehmen müssen. In einer Zeit, in der sich tiefgreifende Umbrüche vollzogen haben, war die aktive Verantwortung der Christen für die Gestaltung gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse oft wie in einem Dornröschen-schlaf. In Zukunft muss es viel entschiedener auf das lebendige, personale Zeugnis der Christen ankommen.
5. Mit den bisher schon genannten Perspektiven hängt es auch zusammen, dass wir eine neue missionarische Initiative brauchen. Wem der Glaube etwas bedeutet, der wird andere zu gewinnen suchen. Dies gilt nicht nur für die ferne Weltmission oder den Nichtchristen fremder Herkunft, die bei uns leben, sondern es gilt für die vielen Nichtchristen, vor allem in den neuen Bundesländern, aber auch für eine wachsende Zahl in der alten Bundesrepublik Deutschland. Dann hätten wir auch eine Chance, in der geistigen Auseinandersetzung von einer Verteidigungsstellung mit dem Rücken zur Wand loszukommen und inmitten des vielfältigen Pluralismus in unserer Gesellschaft den eigenen Standort offensiver zu markieren.
Ich möchte schließen mit einer kurzen Überlegung. Wir lassen uns durch die Besinnung auf das Konzil an ein geistiges und geistliches Erbe erinnern, das wir der Vergesslichkeit unserer schnelllebigen Gesellschaft entreißen und in Dankbarkeit neu annehmen wollen. Solche Erinnerung führt uns durch Verkrustungen aller Art wieder zurück zu den unverbrauchten Quellen christlichen Lebens, vor allem zum Wort Gottes. So kann die Erinnerung neue schöpferische Kräfte entbinden, die faszinierender und wagemutiger sind als die neuesten Moden des Zeitgeistes, die morgen schon wieder von gestern sind. In diesem Sinne ist das Gedächtnis des Konzils ein herausforderndes Abenteuer, das die Wachheit und Bereitschaft, die Umkehrfähigkeit und die Sensibilität unseres Glaubens auf die Probe stellt. Gerade darum tut lebendige Erinnerung not. Es ist gewiss auch die Chance für eine reinigende Gewissenserforschung.
(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz
Es gilt das gesprochene Wort
Im Original sind eine Reihe von Fußnoten und Anmerkungen enthalten.
Vortrag von Kardinal Lehmann bei der Festakademie "50 Jahre Konzil"
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz