Das Kreuz als Ärgernis und im Leben des Christen

Katholische Morgenfeier in hr2-kultur

Datum:
Sonntag, 14. September 2014

Katholische Morgenfeier in hr2-kultur

Wir dokumentieren den Text der "Morgenfeier" von Kardinal Lehmann auf hr2-Kultur am Sonntag, 14. September 2014.

Heute begeht die Kirche ein besonderes Fest. Es heißt seit alters Kreuzerhöhung. Es erinnert uns in einer etwas reich verzweigten Geschichte an die Auffindung des Kreuzes, an dem Jesus Christus hingerichtet worden ist. Dies ist im 4. Jahrhundert in Jerusalem geschehen. Das Kreuz wurde einen Tag nach der Einweihung der Grabeskirche, die Kaiser Konstantin bauen ließ, und die an den Ort der Kreuzigung und Auferstehung Jesu erinnert, am 14. September 335 dem Volk gezeigt, wovon sich das Wort „Erhöhung" ableitet. In der Bezeichnung „Erhöhung" wird das Kreuz auch als Siegeszeichen gesehen, weil Jesus am Kreuz den Tod besiegt und uns vom Bösen befreit hat. Von Jerusalem aus gelangten Stücke, so genannte Kreuzpartikel, auch in das ganze Abendland. Zugleich verbindet sich dieses Fest mit einer geschichtlichen Erinnerung, wonach Kaiser Heraklius im 7. Jahrhundert das Kreuz, das von den Persern geraubt worden war, nach Jerusalem zurückgebracht hat.

- Musikauswahl: Diözesankirchenmusikdirektor Thomas Drescher -
Musik 1: aus dem Gregorianischen Choral „Crucem tuam adoramus" (CD: Marcel Dupré, Le Chemin de la Croix, Friedhelm Flamme, Gregoranik-Schola Marienmünster)

Das Kreuz hat sowohl in der alten Welt als auch in der Geschichte des Christentums eine sehr wechselnde Bedeutung. Es gibt viele fließende Übergänge im Gebrauch dieses Symbols. Ist es uns nicht zu selbstverständlich geworden? Wir machen Kreuze zum Spielen in den Sand, wir schmücken prächtige Wappen und Hoheitszeichen mit Kreuzen, wir benutzen sie als Schmuck, sie leuchten von der Spitze unserer Kirchtürme. Auch waren wir fast alle schon in Amtsstuben, Krankenzimmern und vielleicht sogar Gerichtssälen, wo uns das Kreuz recht sonderbar vorkam. Ich lag nach einem Autounfall einmal in der Ambulanz eines Krankenhauses: vor mir ein Kreuz an der Wand, aber das Verhalten des Pflegepersonals und der Ärzte stand in einem krassen Missverhältnis dazu. Haben wir uns nicht alle zu sehr an das Kreuz gewöhnt? Ist es nur noch ein schwaches Symbol?

Die Kreuzigung war die schändlichste Hinrichtungsart der ganzen alten Welt. Sie war weit verbreitet, wahrscheinlich auch deshalb, weil sie in ihrer Grausamkeit für politische und militärische Vergehen eine besonders abschreckende Wirkung hatte. Die Kreuzigung kam auch dem primitiven Racheverlangen und der sadistischen Grausamkeit einzelner Herrscher und der sensationsgierigen Masse entgegen. Wer gekreuzigt wurde, wurde in ganz besonderer Weise aus der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen. Er wurde nackt und gequält öffentlich zur Schau gestellt, Man verweigerte ihm ein Grab, nahm ihm so die letzte Würde des Menschen und gab den Leichnam wilden Tieren und Raubvögeln zum Fraß. In diesem Sinne war die Kreuzigung die äußerste Entehrung eines Menschen.

Musik 2: aus „Jesus nimmt das Kreuz auf seine Schultern", Marcel Dupré, Kreuzweg (CD: Marcel Dupré, Le Chemin de la Croix, Friedhelm Flamme, Gregoranik-Schola Marienmünster)

Das Symbol des Kreuzes hält den Glauben lebendig, dass in der Mitte der Erlösung das Kreuz Christi seinen festen Platz hat. In der Verehrung des Kreuzes Jesu Christi erkennt der Glaube dankbar, dass das Zeichen von Gewalt und Grausamkeit von Gott zum Zeichen der Hingabe für die Menschen wurde. Dies können wir am besten noch aus einem Text des hl. Paulus aus dem Brief an die Philipper erkennen. Er ermahnt die Christen, dass sie auf Prahlerei und Ehrgeiz verzichten und jeder in Demut den anderen höher schätze als sich selbst. In diesem Kontext heißt es dann:

„Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus entspricht: Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Darum hat ihn Gott über alle erhöht." (Phil 2,5-9a)

Wenn die ersten Christen „Kreuz" hörten und sagten, dann mussten sie unwillkürlich an das schon genannte grausame Hinrichtungsinstrument und an die totale Schändung eines Menschen denken. Paulus hat dies deutlich im Ohr, wenn er schreibt, „das Wort vom Kreuz" sei in den Augen derer, „die verlorengehen, Torheit", „für Juden ein empörendes Ärgernis, für Heiden eine Torheit" (1 Kor 1,18.23). Ein Theologe des 2. Jahrhunderts hat den Anstoß, den die christliche Botschaft gab, mit dem Wort „Verrücktheit" umschrieben. Der angebliche Gott der Christen ist - ein grotesker Widerspruch - ein „toter Gott". So erscheint das Christentum den Heiden wegen des Kreuzes als ein besonders schlimmer und vom Fluch beladener Aberglauben. Ein „gekreuzigter Gott" erschien besonders grotesk. Ich erinnere mich immer wieder an eine regelrechte Verspottung des christlichen Glaubens, indem man einen Menschen mit Eselskopf an einem Kreuz zu einem „Spott-Kreuz" macht. Die Christen gelten deshalb als Eselsanbeter.

Musik 3: aus „Christus factus est", Anton Bruckner (CD: Bruckner, Mass in E-Minor u.a., Kammerchor Stuttgart, Deutsche Bläserphilharmonie, Frieder Bernius)

So verwunderte es nicht, dass die Christen erst sehr viel später wagten, den Gekreuzigten überhaupt darzustellen, gar als Kunst. In ihm liegt ja der äußerste Gegensatz zum Schönen und Guten. Aber in ihm ist auch bereits das ganz Neue des christlichen Glaubens sichtbar: Auch das Hässliche und Böse gehört zur Wirklichkeit des Menschen. Man darf es nicht weglügen oder hinter viel Licht einfach verstecken. In Jesus von Nazaret wurde Gott wirklich dem äußersten menschlichen Elend gleich. „Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz" (Phil 2,8). Überall, wo „Religion" Wirklichkeit gern übermalen und die brutale Realität mit einem goldenen Schein umgeben wollte, stehen für den christlichen Glauben das unerbittliche Zeichen und der harte Protest des Kreuzes. Jesu grausamer Tod verhindert, dass unser Glaube falscher Trost oder taumelige Betäubung werden dürfte. Dass Gott den Mut hat, in Jesus Christus das Leid und das Elend der Welt anzunehmen, darin liegt das revolutionär Neue, Anstößige, aber zugleich auch das Sieghafte.

Jesus ist nicht allein der Kreuzträger. Nicht nur hängen neben ihm zwei an diesem Schandpfahl, die es nach der Ansicht des einen Schächers sogar verdient haben. Mit Jesus erscheint die ganze Passionsgeschichte der Menschheit am Kreuz. Das offenkundige und das stille Leid der Welt sowie der ganzen Kreatur kommt vor uns: das Weinen der Kinder, der Hunger von Millionen, die Absurdität immer wieder neuer kriegerischer Auseinandersetzungen, die Schreie der Wehrlosen, der Stachel dauernder Schmerzen, die Ausweglosigkeit unheilbarer Krankheiten, die Untröstlichkeit über den Tod eines geliebten Menschen, die Unfassbarkeit vor einem blindwütigen „Schicksal", die brutale Zerstörung durch Katastrophen. Wir dürfen aber auch an unsere eigene Unzulänglichkeit und das Leiden an uns selbst denken. Überall wo wir nachlässig sind, stets wieder hinter dem Guten, das wir uns vorgenommen haben, zurückbleiben, wo wir nachtragend und untreu sind - überall da steht unser Kreuz.

In Jesus und seinem Schicksalszeichen erkennen wir jeden geschlagenen und geprügelten, zu Tode gehetzten und zusammengebrochenen Menschen. Die Verurteilung Unschuldiger, innere Ohnmacht, grenzenlose Einsamkeit, das Ausgestoßenwerden aus der Gemeinschaft der Menschen, die ewigen Flüchtlingszüge der Menschheit, Misshandlungen, Folterungen, Meineide, politisches Herumschachern auf dem Rücken der Schwächere, gaffend-geile Sensationslüsternheit beim Tod oder wenigstens in der Lebensgefahr eines anderen - all das ist im Kreuz versinnbildlicht. Ich denke an die vielen Kreuze, die die Menschen im Lauf einer langen Leidensgeschichte aus ihrem Schicksal geschnitzt und gestaltet haben: die Pestkreuze des Mittelalters mit dem blau-geschwollenen Leib, das Kreuz aus dem gestrandeten Wrack-Holz auf einer Insel, das Antlitz eines Gefolterten am Kreuz, der Berg der Kreuze in Litauen. Gefangene aller Art machen sich auch heute noch aus Stacheldraht ein schlichtes Kreuz, das sie mit sich führen und mit dem sie ihr Los ertragen. Wir kennen es aus lateinamerikanischen Gefängnissen.

Musik 4. aus „Christus factus est", Anton Bruckner (CD: Bruckner, Mass in E-Minor u.a., Kammerchor Stuttgart, Deutsche Bläserphilharmonie, Frieder Bernius)

Das Kreuz sagt aber noch mehr. Es geht nicht bloß um die unverdiente Not und das Ausmaß des Bösen in der Weltgeschichte. Das Kreuz Jesu mahnt noch an anderes. Es zeigt das Leiden eines Unschuldigen an. Es geht nicht nur um das Mitleid mit dem Schwachen. Hier werden trotz Einsicht in die Unschuld des Angeklagten das Recht verletzt und die Menschenwürde mit Füßen getreten. An Jesus und an seinem Leiden wird darum Schuld offenbar. Niemand ist davon ausgenommen. Natürlich kann man die Schuld an Jesu Tod - wie es immer noch geschieht - bloß auf die Juden oder eine Gruppe unter ihnen schieben. Aber auch wir müssen uns fragen, wo wir schuldig geworden sind. Nur an Jesu Christi Bildnis kommt es wirklich an den Tag, dass auch wir selbst Täter des Bösen sind. Vor seiner Passion zerrinnen alle unsere heimlichen und offenen Unschuldsbeteuerungen. Wir haben für alles Entschuldigungen und Alibis gefunden.

Warum erinnern wir uns aber gerade dieses Kreuzes? Warum feiern wir diesen Schandpfahl? Es ist eine harte Frage. Denn es gibt viele namenlose und bekannte Kreuzträger in der Geschichte. Und manchmal stellen wir uns - wenigstens menschlich - die Frage, ob nicht viele ein ähnlich schlimmes oder vielleicht noch gar elenderes Los erlitten haben. Wir feiern jedoch nicht die Größe des Leids, auch nicht die übermenschliche Geduld, mit der manche Menschen es tragen können. Wir wollen uns auch nicht in das uns aufgegebene Leid verlieben. Das Kreuz Jesu Christi unterscheidet sich von allen anderen Hölzern durch etwas ganz Entscheidendes: Er, der Gerechte und Unschuldige, hat sich die ganze Leidenslast der Welt mit ihrer Bosheit auf sich geladen. Er hat bewusst und von innen heraus die Sünde der Welt auf sich genommen. Paulus ist kühn, wenn er sagt, dass Jesus unseretwegen zum „Fluch" geworden ist. Er ist das Lamm, das das sündige Erbe der ganzen Welt wegnimmt. So ist das Kreuz Jesu Christi das Symbol für das Heil der Welt. Am Ende aller Schmerzen steht doch ein letzter Sieg. Das Schandmal wurde für Jesus zum Zeichen des Überlebens. „Im Kreuz ist Heil, im Kreuz ist Hoffnung", singen wir am Karfreitag.

Es darf uns bei der Überwindung des Bösen durch das Kreuz nicht um einen fragwürdigen Triumphalismus gehen, der plötzlich im hellen Osterlicht alles Leid vergisst und die Welt verklärt. Das Kreuz muss zwar von Ostern her verstanden werden: Die Liebe ist stärker als der Hass, die Geduld erntet wirklich einmal die Früchte der Hoffnung, das Leben hat mehr Macht als der Tod. Darum ist es durchaus verständlich, wenn das Kreuz als Symbol des Sieges Jesu Christi - besonders in der Ostkirche - oft mit kostbarsten Edelsteinen geschmückt wird. Ungefährlich ist es nicht. Aber in dieser Zeit bleibt es zunächst und zumeist bei der Armut des Kreuzes. Oft sieht man nur Schmerz und Leid, Ungerechtigkeit und Entbehrung. Es gibt auch das kleine und unscheinbare Kreuz, irgendwo eingeritzt, das Feldkreuz an den mühseligen Lebenspfaden der Menschen, das Kreuz im Sterbezimmer, wo kein Mensch mehr helfen kann: nur noch der Blick auf den gekreuzigten Herrn. Ja, jeder soll täglich sein Kreuz tragen (vgl. Lk 14,27; 9,23; Mt 10,38; Mk 8,34).

Da ist noch Maria, die Mutter des Herrn. Sie musste bei der Wegbegleitung ihres Sohnes mit vielen Enttäuschungen und viel Leid fertigwerden. Die Mutter der Schmerzen kann uns zeigen, wie wir das Kreuz Jesu Christi annehmen und verstehen sollen, indem wir Leidende nicht allein lassen, sondern in der Kraft des Glaubens geduldig und hoffend an ihrer Seite stehen. Dies ist der Platz Jesu Christi und darum auch der Ort seiner Jünger.

Das Kreuz ist gewiss auch für viele heute Ausdruck von Absurdität und Unsinn, einer höchst fragwürdigen Überhöhung des Schwächlichen, Kapitulation vor der Übermacht des Bösen, Verführung in ein resignierendes Sich-Ergeben in so etwas wie „Schicksal". Aber dies erfahren wir gerade in diesen Tagen in unserer eigenen Gegenwart, wenn wir an die unheimlichen Verbrechen an den zahlreichen Konfliktorten unseres Lebens denken. Auch heute werden Christen wieder gekreuzigt. Es ist paradox: aber die einzige Macht, die Hass und Gewalt wirklich zerbrechen kann, ist die Kraft der Hingabe und der Liebe, die Jesus gelebt hat. Aber es bleibt dabei: In den Augen der Welt ist eine solche Liebe empörendes Ärgernis und Torheit, für die Glaubenden aber Gottes Kraft und Gottes Weisheit. „Denn das Törichte an Gott ist weiser als die Menschen, und das Schwache an Gott ist stärker als die Menschen." (1 Kor 1,25)

Musik 5: aus dem Introitus zum Fest Kreuzerhöhung für Sopran, Querflöte, Sopransaxophon und Klavier, Thomas Gabriel (CD: Creator Spiritus, Gregorianische Wandlungen, Thomas Gabriel, Vocalensemble Darmstadt, Choralschola Seligenstadt)

(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

 

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz