Das Leben der Kirche im Wagnis der Moderne

Vortrag im Meister-Eckart-Forum „Zur Sache" am 15. März 2012, veranstaltet durch den Dominikanerkonvent in Düsseldorf, Lambertussaal

Datum:
Donnerstag, 15. März 2012

Vortrag im Meister-Eckart-Forum „Zur Sache" am 15. März 2012, veranstaltet durch den Dominikanerkonvent in Düsseldorf, Lambertussaal

Ich will den Bogen nicht so weit spannen. Sonst kann man die ganze Neuzeit durchwandern, um das Verhältnis von Kirche und Moderne auf den verschiedenen Stationen genauer zu betrachten. Ich werde das Thema unmittelbar in unserer Gegenwart behandeln, und zwar in drei Schritten: 1. Wie steht es um die Kirche?, 2. Worauf es ankommt, 3. Warum ich in der Kirche bleibe. Viele andere Fragen, die einem in den Sinn kommen, können wir in der Diskussion behandeln.

Wie steht es um die Kirche?
In aller Kürze: Enttäuschung über die Kirche verbreitet sich in mehreren Lagern. Die einen haben beim Aufbruch des Zweiten Vatikanischen Konzils, der die Kirche erneuerte, geglaubt, dass sie wirklich neu Tritt gefasst habe in unserer Zeit und dass man sich über die Kirche wieder freuen dürfe. Sie haben oft einen guten Teil ihres Lebens für diese Erneuerung eingesetzt. Ihr Zorn entstammt, auch wenn er manchmal bitter ist, einer enttäuschten Liebe. Viele Verwundungen, die persönlich erfahren worden sind oder überhaupt zur Geschichte der Kirche gehören, sind wieder aufgebrochen. Diese enttäuschten Christen haben den Eindruck, die Erneuerung der Kirche sei nicht konsequent genug fortgesetzt worden. Sie wittern einen Rückfall hinter das schon Erreichte und fürchten einen Rückzug der Kirche aus ihrer vielfachen Verantwortung und den Rückgriff auf frühere Zwangsmaßnahmen.

Im Gegenzug beklagen andere, dass sich die Kirche schon viel zu sehr an die moderne Zeit angepasst und dass sich darum in der Kirche fast alles zum Schlimmeren gewendet habe. Sie verweisen auf den massiven Rückgang des Gottesdienstbesuches und der Berufungen zum Priester- und Ordensstand, das Desinteresse vieler Menschen verschiedener Altersstufen an der Kirche, den Verfall der Moral und der kirchlichen Disziplin. Diese Katholiken führen die Lockerung der kirchlichen Bindungen auf eine zu große Öffnung der Kirche für die Welt zurück. Sie sehen die Rettung darin, dass sich die Kirche wieder stärker von der Welt abgrenzen und mehr auf ihre altbewährten Traditionen besinnen sollte.

Diese beiden gegensätzlichen Reaktionen beziehen sich oft auf dieselben Beobachtungen, deuten und bewerten sie jedoch ganz verschieden. Andere wiederum sehen gerade in diesen schier unüberbrückbaren Spannungen den Ausdruck der Krise schlechthin, weil durch diese Gegensätze die Einheit der Kirche zutiefst in Gefahr geraten ist.

Auch die Angriffslust von außen wird immer schärfer. Sie richtet sich nicht nur gegen die katholische Kirche, sondern immer mehr gegen den christlichen Glauben selbst. Dabei haben diese Kritiker aber häufig eher Zerrformen und Verfälschungen des Glaubens vor Augen; ihr Bild von Glaube und Kirche wird nicht selten von einzelnen Missständen und Skandalen bestimmt. Gewiss gibt es solche negativen Vorkommnisse, doch deren Kritik steigert sich oft zu einer pauschalen Verurteilung oder sogar zur gehässigen Verunglimpfung. Wir haben dies in den letzten Jahren bitter erfahren.

Die Empörung und Resignation im Inneren der Kirche und die Angriffe von außen verstärken sich gegenseitig. Es wäre gefährlich, wenn wir bei dieser Entwicklung nur mutlos und stumm zusehen würden.

Man muss darum die Gründe für das Entstehen und den Wandel unserer Situation zu erkennen suchen. Dabei darf man jedoch nicht bei relativ oberflächlichen Symptomen stehen bleiben, sondern muss auf die letzten Wurzeln zurückgehen.

Die moderne Zeit ist charakterisiert durch das, was man mit einem Schlagwort „Säkularisierung" nennt. Damit ist nicht bloß die Verweltlichung des gesellschaftlichen Lebens gemeint, auch nicht nur das Selbstständigwerden der Lebensbereiche gegenüber dem bestimmenden Einfluss der Religion, sondern die Abschwächung und der Verlust religiöser Elemente in unserem Denken und Fühlen. Sehr viele Menschen leben, als ob Gott nicht existierte. Man erkennt diesen Schwund konkreter Religiosität z. B. daran, dass immer mehr Menschen ohne das Gebet am Morgen, am Abend oder bei Tisch auskommen. Das Brot aus der Fabrik und das Gemüse aus der Tiefkühlpackung erinnert uns ja auch kaum noch an die Geschenke der Schöpfung und des Schöpfers. Unser Denken ist mehr und mehr geradezu gefangen von den Aufgaben des Berufslebens, von Alltag und Freizeit, von Konsumangeboten und von Unterhaltung. Doch uns beschäftigen nicht nur unablässig viele solche innerweltlichen Dinge, sondern unser Leben und Denken insgesamt erscheint wie in sich abgeschlossen: Es lässt nicht einmal mehr einen Türspalt offen für das, was unsere Welt übersteigt und jenseits unserer Geschichte liegt. Darum fühlen sich heute auch viele Menschen immer hilfloser, wenn sie an die Grenzen ihres Lebens stoßen. Der Umgang mit Sterben, Begräbnis und Totengedächtnis zeigt die Verlegenheit ganz deutlich. Überhaupt scheinen gerade Anfang und Ende des Lebens ganz in unseren Händen zu liegen. Je mehr der Glaube an den lebendigen, persönlichen Gott aus Herz und Sinn schwindet, umso leichter haben es neue, oft dumpfe Formen von Religiosität, wie z. B. Astrologie und Magie, den frei gewordenen Platz zu erobern. Wir können dies z. B. in unseren Schulen, in den Medien und auf dem Buchmarkt leicht beobachten.

In der modernen Gesellschaft gibt es viel mehr Freiheit und viel mehr Möglichkeiten für den einzelnen Menschen als früher. Dies bedeutet nicht nur, dass man heute frei aus einem großen Angebot auch von Religionen wie einem „Markt der Möglichkeiten" auswählen kann, sondern betrifft auch die Gestaltung des eigenen Lebensstils und der Lebensform. Damit ist nicht nur Kleidung und Mode gemeint: Mancher schneidert sich auch seine Weltanschauung aus vielen Flicken und Versatzstücken. Die Zunahme von nichtehelichen Lebensgemeinschaften und anderen neuen Formen des Zusammenlebens ist ein weiteres Zeugnis. Diese neuen Freiheiten offenbaren freilich auch oft eine Schattenseite, dass nämlich die einzelnen Menschen die Geborgenheit in fest gefügten, verlässlichen Gemeinschaften verlieren. Neue Arbeitszeitregelungen, die das Gemeinschaftsleben sprengen, können diesen Trend zusätzlich verstärken.

Von dieser Entwicklung ist die Kirche in besonderer Weise betroffen. Sie lebt schließlich davon, dass der Einzelne mit seinen Gaben und Fähigkeiten sich ihr freiwillig und auf Dauer verpflichtet. Viele Men­schen möchten sich heute aber nicht mehr auf längere Zeit hin festlegen, sondern engagieren sich lieber mal hier und mal dort. Vor allen Dingen sind die Menschen großen Institutionen gegenüber zurückhaltend, deren Regelungen die eigene Freiheit berühren. Besonders misstrauisch werden sie, wenn mächtige Organisationen, zu denen für sie auch die Kirche zählt, mit einem verbindlichen Anspruch auf Wahrheit auftreten und Normen über die persönliche Lebensführung bis in den intimen Bereich hinein vorgeben. Hier will sich heute keiner mehr hineinreden lassen, sondern ausschließlich selber bestimmen und urteilen. Gewiss kann man diese Haltung bis zu einem gewissen Grad verstehen, weil in der Vergangenheit in der Tat Institutionen wie Kirche und Staat ihre Ideale nicht selten mit bloßen Verboten, Gesetzen und unter Strafandrohung durchgesetzt haben. Heute aber droht die Gefahr, dass jeder nur noch nach eigenem Gutdünken, ja sogar nach Beliebigkeit handelt. Die Rücksichtslosigkeit wächst, nicht nur von Mensch zu Mensch, sondern auch im politischen und wirtschaftlichen Leben, wie z. B. allein schon Korruption, Waffen- und Drogenhandel erweisen.

Die Kirche ist hier in einer schwierigen Situation. Einerseits bejaht und unterstützt sie die größer gewordene Freiheit für den einzelnen Menschen, anderseits muss sie sich diesem Trend zur Beliebigkeit und Rücksichtslosigkeit entgegenstellen. Sie will zeigen, dass Freiheit nicht mit Willkür gleichzusetzen ist, sondern muss die Freiheit gegenüber ihren eigenen Gefährdungen verteidigen und schützen. Wahre Freiheit steht und fällt mit der Anerkennung allgemein verbindlicher Überzeugungen. Freiheit und Verantwortung ist ein zentrales Thema. Es ist unvermeidlich, dass die Kirche hier in Konflikt mit dem Zeitgeist kommt und deshalb für viele Zeitgenossen sperrig und unbequem ist.

Die Kirche hat im Lauf ihrer langen Geschichte dabei gewiss auch Fehler gemacht. Sie weiß, dass der Mensch nicht von Natur aus gut ist, und fürchtet darum bis heute, dass die Menschen ihre Freiheit vielleicht nicht richtig gebrauchen könnten. Darum hat sie gelegentlich mehr der Kraft äußerer Maßnahmen vertraut als der Macht des gebildeten Gewissens. Auch bei vielen Konflikten steht ‑ mehr oder weniger bewusst ‑ die Suche nach der rechten Mitte zwischen Freiheit und Ordnung, Selbstverwirklichung und Rücksicht auf das Leben und die Würde anderer im Hintergrund. Es müsste der Kirche besser gelingen, deutlich zu machen, dass ihr energisches Eintreten für unverrückbare letzte Maßstäbe die Freiheit nicht zerstören, sondern schützen will.

 

Worauf es ankommt
Man spricht heute oft von einer kritischen Lage. „Krise" meint ursprünglich eine Situation der Unterscheidung und der Entscheidung. Wir müssen zuerst erkennen, wo die vordringlichen Herausforderungen sind. Sie liegen nicht zuerst oder gar allein bei einigen vordergründigen Themen, wie etwa bei den Fragen nach bestimmten Strukturen und Verfahren, besonders den Diensten und Ämtern in der Kirche. Es darf gewiss kein Frageverbot nach irgendeiner Richtung geben. Etwas befragen heißt jedoch nicht automatisch, es auch endgültig in Frage zu stellen. In einem Prozess der Klärung kann sich auch manches, besonders wenn es vertieft und erneuert wird, bewähren. Kirchen, die viele Reformwünsche von heute erfüllt haben, wie z.B. Aufhebung des Zölibats und Priestertum der Frau, haben keineswegs geringere Schwierigkeiten. Es kommt offensichtlich auf noch grundlegendere Dinge an, die die eigentliche „Krise" ausmachen. Dabei kann ich im Rahmen dieses Vortrags nur auf das Verständnis der Kirche eingehen. Deshalb wollen wir lieber von Gotteskrise sprechen.

Das Zweite Vatikanische Konzil hat so viel von der Kirche gesprochen wie kein Konzil zuvor. Es war auch notwendig, in der Rede von der Kirche einiges zu klären. Doch dass so viele Worte über sie gemacht worden sind, hat nicht nur Vorteile. Kirche versteht sich ja nie aus sich allein. Sie ist nie ein Ziel in sich selbst, sondern hat ihren Ursprung immer in Jesus Christus und ist auf das Reich Gottes ausgerichtet. Man darf nie von ihr allein reden, wie man von anderen Institutionen reden kann. Sie ist keine in sich geschlossene Größe. Kirche ist immer in Bewegung: Sie kommt vom dreifaltigen Gott her und ist zu den Menschen gesandt. Darum sagen wir, dass die Kirche Werkzeug, Mittel und Sakrament Gottes für das Heil der Welt ist. Sie verfehlt ihre Aufgabe, wenn sie um sich kreist und sich nicht der Not der Welt sowie den Wunden der Zeit zuwendet und die Menschen zu Gott führt.

Diese Einsicht hat große praktische Konsequenzen. Wenn die Kirche sich zu viel mit sich und ihren Strukturen beschäftigt, fällt sie auf sich zurück und steht ihrer eigenen Aufgabe im Weg. An dieser Stelle sind wir wohl alle nach dem Konzil rückfällig geworden. Es ist manchmal zum Erschrecken, wie sehr wir Christen uns mit den eigenen Kirchenproblemen herumschlagen. Vor dem Ernst der Herausforderungen in der heutigen Welt ‑ man denke nur an den Aufbau eines neuen Europa, die Gefahren des Nord-Südkonfliktes, die arabische Welt und die seelischen Katastrophen so vieler Menschen ‑ sind viele dieser Probleme kaum mehr als Sandkastenspiele. Manchmal gewinnt man den Eindruck, dass man sich diese nur unter den Bedingungen eines hohen Wohlstands und eines gesicherten, ja mitunter satten Lebens leisten kann. Ich erfahre immer wieder schmerzlich, dass eine solche Kirche auf wache junge Menschen oder Leute mit großer Verantwortung für andere nicht mehr attraktiv wirkt.

In der Mitte allen Bemühens in der Kirche geht es um die Weckung und Förderung von Glauben, Hoffnung und Liebe in unserer Welt. In den Menschen der Kirche muss zuerst eine feurige Leidenschaft für Gott brennen ‑ und sonst nichts. Hier gilt ohne Abstriche das Wort, das Jesus uns sagt: „Euch aber muss es zuerst um sein Reich und seine Gerechtigkeit gehen; dann wird euch alles andere dazugegeben." (Mt 6,33) Wenn Gott wirklich der einzige Halt im Leben und Sterben ist, dann ist das lebendige Zeugnis von ihm das Allerwichtigste. In einer Zeit, in der schon der Zugang zu Gott so verschüttet ist, muss die Kirche alles auf Gott hinordnen: Er soll in seiner Herrlichkeit und Seligkeit den Menschen aufgehen und sich als Hoffnung für alle Hoffnungslosen erweisen. Im Lobpreis der Kirche muss dieser Glanz erscheinen, und an ihren Diensten für die Menschen muss diese Hoffnung ablesbar sein.

So gewinnt auch das Wort Kirche wieder einen neuen Klang. Unsere Blicke hängen oft so an der Oberfläche der Institution Kirche, dass wir kaum mehr in ihr Inneres hineinsehen. Auch hier gehen wir oft hinter das zurück, was wir vom II. Vatikanischen Konzil hätten lernen können. Kirche ist nie nur eine Organisation, von der man nur die Fassade kennen muss, sie erschöpft sich auch nicht in ihren Ämtern und Behörden. Man hört oft auch von katholischen Christen die Redeweise „Die Kirche muss...", „Die Kirche soll...", ohne dass man sich anscheinend selbst dazu zählt. Wir sind in Gemeinschaft mit Gott in Jesus Christus die Kirche, die der Geist erfüllt und führt. Zur Kirche gehören der Missionar bei den Ärmsten der Armen, die Schwester und der Pfleger im selbstlosen Dienst an Schwerstbehinderten, der stille seelsorgliche Begleiter, die christlich engagierte Politikerin und der verantwortungsvolle Unternehmer, der Einsiedler in seinem stellvertretenden Gebet für die Welt und die Eltern in ihrer Sorge für die Kinder, die Jugendlichen mit ihren drängenden, oft unbequemen Fragen, all jene Kranken, die in der Geduld Jesu Christi ihre Leiden tragen ... Kirche ist diese reiche, vielschichtige, uns oft auch verborgene Wirklichkeit: Ihre leuchtendsten Zeugen haben wir in den Heiligen vor Augen. Dieser Reichtum der Kirche ist immer ein Geschenk des Geistes Gottes. So gesehen ist die Kirche nicht unser Produkt: Wir „machen" sie nicht, wie man oft leichtfertig daherredet. Freilich wird sie aus lebendigen Steinen aufgebaut (vgl. 1 Petr 2,5) und fordert unser eigenes Zeugnis in Wort und Tat.

Überhaupt kann man Kirche nicht verstehen, wenn man sie auf die Dauer nur aus der Pose des Zuschauers oder von der Warte des Kritikers aus beobachtet, sondern nur wenn man mit ihr und in ihr lebt. Die Kirche braucht aus vielen Gründen auch eine kritische Öffentlichkeit, die ihren Schwächen durchaus den Spiegel vorhalten soll. Aber das, was in diesem Spiegel zu sehen ist, ist eben nicht ihre volle Realität. Die ganze Wirklichkeit erscheint kaum in den vielen Talkshows, Nachrichten, Notizen und kritischen Kommentaren, die täglich über die Mattscheibe flimmern. Sie kann es auch nicht. Wer nicht am Leben der Kirche selber teilnimmt und ihren Glauben zu teilen versucht, ist auf die Dauer nicht in der Lage, das ihm in den Medien vermittelte Kirchenbild zu überprüfen, nötigenfalls zu korrigieren und zu ergänzen. Der vielberufene mündige Christ ist dazu auch nur in der Lage, wenn er sich bemüht, seinen Glauben und seine Kirche besser kennen zu lernen. Ein Urteil kann man nicht locker aus dem Handgelenk heraus fällen, sondern man muss auch hier eine solide Kenntnis suchen, wie sie uns in anderen Sachgebieten selbstverständlich ist. Das Ausmaß der Halbbildung in Sachen Glauben und Kirche ist erschreckend. Die Christen müssen darum die ihnen seit Jahrzehnten in der Katechese, der Religionspädagogik und der Erwachsenenbildung angebotenen, gediegenen Hilfen mehr als bisher nutzen. Es gibt auch eine Fülle recht guter Bücher. Wer z. B. den Katholischen Erwachsenenkatechismus kennt, fällt auf viele Verwirrspiele in der üblichen öffentlichen Meinung nicht so leicht herein.

Besonders oft stoßen heute öffentliche Meinung und kirchliche Lehre aufeinander. Für den modernen Menschen kreist sehr vieles um das eigene Ich und seine Betroffenheit. Den Zeitgenossen scheint dies ganz normal zu sein, und doch ist eine solche Sicht keineswegs selbstverständlich. In der Bibel ist der Einzelne in seiner Situation zwar durchaus auch angesprochen. Aber das wandernde Volk Gottes braucht im Gang der Zeiten auch das verlässliche Glaubensbekenntnis der Kirche. Dieses muss gewiss immer wieder neu ausgelegt und frisch übersetzt werden, aber man darf es nicht mit dem Argument beiseite schieben, es entspräche nicht mehr den heutigen Lebenserfahrungen und Bedürfnissen. Ohne Bekenntnis und Lehre gibt es keine Kirche. Das „Credo" der Kirche war über fast zwei Jahrtausende ein unentbehrlicher Wegweiser und Maßstab ‑ wie dürften wir uns einbilden, darauf verzichten zu können?

Das Glaubensbekenntnis ist einer der unerschütterlichen Pfeiler für den Bau der Kirche, aber nicht jede Tradition und jede Gewohnheit ist ein solcher Pfeiler. Hier gilt es sorgfältig zu unterscheiden. Wenn das Fundament des Glaubens fest und gewiss ist, dann ist es auch leichter, in den veränderlichen Bereichen der Kirche auf die Zeichen der Zeit zu antworten. Ich denke an viele Probleme, die wir vor uns herschieben und die uns belasten. Die entschlossene Treue im Glauben befreit zur immer notwendigen Erneuerung der Kirche. Freilich, wer weiß, dass er selber zu den armseligen und fehlbaren Gliedern des wandernden Gottesvolkes gehört, beginnt die Reform der Kirche still zuerst bei sich selbst.

Uns allen ist die Erzählung von dem Sturm auf dem See vertraut, dem Jesus Einhalt gebot (vgl. Mt 8,23-27). Die Jünger haben Angst. Der Herr scheint sich nicht um die Not der Seinen zu kümmern. Er schläft. Das Boot wurde von der Zeit der jungen Christenheit bis heute auf das Schifflein der Kirche gedeutet. Den Jünger unserer Tage mag oft dieselbe Angst beschleichen, dass die tosenden Wasser des Meeres das Schiff der Kirche überrollen könnten. Am schlimmsten ist diese Angst bei Christen. Der Evangelist Matthäus nennt sie „Kleinglauben". Auch heute verlieren die Jünger die Macht und Gegenwart des Herrn aus dem Sinn und sind oft wie gelähmt. Doch die Stärke des Glaubens besteht darin, dass der Christ sich immer wieder dem Herrn zuwendet und von ihm sich gehalten erfährt. Der Herr greift auf das inständige Gebet der Kirche hin ein und beruhigt durch sein Wort die großen Wogen. Diese Verheißung gilt auch für die heutigen Glaubenszeugen in allen Situationen. Der Herr wird, wenn wir ihn nur mit ganzem Herzen bitten und vertrauensvoll anrufen, bei seiner Kirche bleiben „alle Tage bis zum Ende der Welt" (Mt 28,20). Schließlich ist dies sein Name, den er von Anfang an dem Gottesvolk rettend offenbarte: Ich werde immer bei Euch sein.

 

Warum ich in der Kirche bleibe
Man kann sich ja fragen: Warum braucht das Christsein überhaupt Kirche? Ich will hier nicht in erster Linie fachwissenschaftlich-theologisch argumentieren, sonst müsste in komplizierten Überlegungen von den Problemen der Kirchengründung[1] und von den Fundamenten der Lehre von der Kirche gehandelt werden.[2] Gewiss gibt es in diesem Bereich auch zwischen den Christen verschiedener Konfessionen noch unbewältigte Hindernisse. Ich möchte im Folgenden jedoch einige Leitlinien aufweisen, die uns gemeinsam sein können. Deshalb gehört zu einer Antwort auf die Frage „Warum ich in der Kirche bleibe" auch das persönliche Bekenntnis, das ich in sechs Thesen entfalte.

Erste These: Eine ungebundene und außerkirchliche Religiosität hat keine großen Lebenschancen, auf Dauer christlich zu bleiben.

Ich benutzte hier den Begriff der außerkirchlichen Religiosität, wie ich ihn schon andeutungsweise in diesem Vortrag skizziert habe. Damit ist zunächst ein ungebundenes religiöses Verhalten gemeint, das sich in der Regel außerhalb der Kirche abspielt und keinen Rückhalt hat an den Gemeinschaftsformen der christlichen Kirchen. Das Interesse richtet sich z.B. auf die ostasiatischen Religionen, die transzendentale Meditation, früher auf die Jugendreligionen, außerordentliche Erscheinungen der psychischen Wirklichkeit, ja sogar Astrologie und Magie. Diese fremde Religiosität fand sich auch innerhalb der Kirche. Manche Christen bastelten sich aus einzelnen Versatzstücken eine eigene private Religiosität und stellten die „neue Religiosität" nicht selten gegen „die Kirche" und ihre spirituellen Traditionen.[3] Dies führte nicht selten zum Kirchenaustritt. Um die tiefer liegenden Fragen des „Kirchenaustritts", nämlich das Verhältnis des Christen zu seiner Kirche, anzugehen, formuliere ich die schon erwähnten Thesen.[4]

Es gibt eine gewisse Romantik der „außerkirchlichen Religiosität", weil man viel zu wenig bedenkt, wie gefährdet diese ist, wenn sie sich selbst überlassen wird. Christlichkeit schrumpft dann leicht zusammen auf eine ganz aus Spontaneität und Zufälligkeit bestehende Religiosität, die nicht immer ganz zu trennen ist von den Anmutungen eines frommen Gemütes. Die Lebensfähigkeit außerkirchlicher christlicher Religiosität - jedenfalls auf längere Zeit - muss nüchtern gesehen werden. Denn stets ist auch die Gefahr der Missdeutung vorhanden. Dies erhöht sich heute noch dadurch, dass die außerkirchliche Religiosität im Raum einer pluralistischen Kultur sich sehr bald mit ideologischen Elementen durchsetzen kann. Wir sehen auch bei vielen Formen ungebundener Religiosität, dass der heutige Mensch in überraschend naiver Weise abergläubisch-magische Praktiken und Hilfen sucht. Religiosität gleitet unkontrolliert tatsächlich sehr oft und bald in ihre Fehlformen ab.

Zweite These: Es ist auch heute noch für einen Christen nicht unwichtig, dass er nun einmal in eine konkrete Gemeinschaft hineingeboren wurde und im Laufe seines Kindseins und seiner Jugend in vielfacher Weise und lebenswirksam davon bestimmt worden ist.

Man kann das Bleiben in der Kirche zunächst auch relativ „pragmatisch" begründen. In diesem Gewohnheitschristentum gehen allerdings Positives und Negatives ineinander. Ich möchte dies durch ein Zitat aus dem Buch von Hans Küng „Christ sein" erhellen:

„Sie (die Christen) möchten gegen erstarrte kirchliche Tradition angehen, die das Christsein erschweren oder unmöglich machen. Aber sie möchten nicht darauf verzichten, aus der großen christlichen und eben zugleich kirchlichen Tradition von 20 Jahrhunderten zu leben.

Sie möchten kirchliche Institutionen und Konstitutionen der Kritik unterziehen, wo immer diesen das Glück von Personen geopfert wird. Aber sie möchten nicht verzichten auf jenes Notwendige an Institutionen und Konstitutionen, ohne das auch eine Glaubensgemeinschaft auf die Dauer nicht leben kann, ohne das allzu viele gerade in ihren persönlichsten Fragen allein gelassen würden.

Sie möchten der Anmaßung kirchlicher Autoritäten, sofern sie die Kirche statt nach dem Evangelium nach ihren eigenen Vorstellungen leiten, widerstehen. Aber sie möchten nicht verzichten auf die moralische Autorität, die die Kirche überall dort in der Gesellschaft haben kann, wo sie wirklich als Kirche Jesu Christi handelt.

Warum also bleiben? Weil man in dieser Glaubensgemeinschaft, kritisch und solidarisch zugleich, trotz allem eine große Geschichte bejahen kann, aus der man mit so vielen anderen lebt. ...Weil man hier, bei allen heftigen Einwänden, in Bezug auf die Fragen nach dem Woher und Wohin, Warum und Wozu des Menschen und der Welt eine geistige Heimat gefunden hat, der man ebenso wenig den Rücken zukehren möchte wie im politischen Bereich etwa der Demokratie, die auf ihre Weise nicht weniger als die Kirche missbraucht und geschändet wird".[5]

Ich glaube, dass diese Gesichtspunkte nicht zuletzt auch im Blick auf die bestehenden getrennten Kirchen und ihren Sinn durchaus von großer Wichtigkeit sind. Jedoch scheint mir, dass man diese Betrachtung auch noch durch die folgenden Elemente ergänzen muss.

Dritte These: Der Christ bleibt in der Kirche, weil diese nicht nur eine menschliche Institution, sondern die Kirche des Herrn ist. Anders formuliert: Ich bleibe in der Kirche, weil ich trotz aller Enttäuschungen erfahre, dass sie die Kirche des Herrn ist.

Wir haben die Kirche zu sehr als unsere Unternehmung gesehen, auf die wir stolz sind oder deren wir uns schämen. Weil wir fast alles machen und produzieren können, betrachten wir auch die Kirche weitaus in den Perspektiven ihrer menschlichen Herstellbarkeit. Nein, sie ist zuerst die geschichtliche Stätte, wo Gottes unergründliche Liebe zum Menschen auf dem Antlitz Jesu Christi aufleuchtet. Erst wenn wir - positiv oder negativ gewertet - hinter der eindimensionalen Fassade der „Institution" Jesus Christus als den einzigen Herrn der Kirche wieder entdecken, dann werden wir auch den inneren Zusammenhang von Christsein und Kirche neu erfahren. „Was immer es in der Kirche an Untreue gibt und geben mag, wie sehr es wahr ist, dass sie des ständig neuen Maßnehmens an Jesus Christus bedarf, so gibt es doch keine letzte Entgegensetzung von Christus und Kirche. Die Kirche ist es, durch die er über die Distanz der Geschichte hinweg lebendig bleibt, heute zu uns spricht, heute bei uns ist als unser Meister und Herr, als unser Bruder, der uns zu Geschwistern vereint. Und indem die Kirche, sie allein, uns Jesus Christus gibt, ihn in der Welt lebendig anwesend sein lässt, ihn im Glauben und Beten der Menschen allzeit neu gebiert, gibt sie der Menschheit ein Licht, einen Halt und einen Maßstab, ohne den sie nicht mehr vorstellbar wäre. Wer die Gegenwart Jesu Christi in der Menschheit will, kann sie nicht gegen die Kirche, sondern nur in ihr finden".[6] An diesem Punkt tragen wir selbst ein gerütteltes Maß Schuld an unserer Situation, weil die Theologie und kirchliche Publizistik der letzten Jahrzehnte fast nur die Differenz zwischen Jesus und Kirche, kaum aber ihre geheime Zusammengehörigkeit hervorgekehrt hat. Die Schrift spricht jedenfalls anders von der Gemeinde des Herrn als wir.

Vierte These: Glauben kann man nicht allein, sondern nur im Miteinander. Glaube ist seinem Wesen nach eine Kraft der Einigung.

Das Urbild des Glaubens und der Kirche ist die Geschichte von Pfingsten, das Wunder des Verstehens, das zwischen Menschen geschieht, die von ihrer Herkunft, in ihrer Sprache, in ihrer Bildung, in ihrer Rasse, in ihrer Kultur usw. einander fremd sind. Wenn der Glaube nicht solche trennenden Mauern einreißt zwischen den Menschen, dann ist er nicht lebendig. Und in diesem Sinne gibt es Glauben im strengen Sinn nur als kirchlichen Glauben. Es wird dann auch sehr viel deutlicher, dass man diesen Glauben nicht auf Grund eigener Fantasie oder Begabung annimmt, sondern dass der Grund dieses Glaubens uns vorausgeht. Ich habe ihn von anderen empfangen und lebe ihn mit anderen und für andere. Dies ist auch die einzige Möglichkeit, mir meinen Glauben unversehrt zu erhalten, indem ich mich in die Gemeinschaft des Glaubens hineinstelle und mich von ihr binden lasse. Dies geht auch so weit, dass ich mich - freilich nicht ohne kritische Besinnung - an institutionelle Formen des Glaubens binde, weil ich weiß, dass meine eigene Bereitschaft und meine persönliche Spontaneität sehr willkürlich sein können. Jedes Charisma braucht, wenn es seine Kraft in der Alltäglichkeit bewahren soll, den Mut, sich auch in institutionellen Formen, in der recht verstandenen „Gewohnheit" des Lebens zu bewähren.

Jeder Christ hat eine eigene Gabe. Er darf sich mit ihr aber nicht isolieren, sondern muss sich in das größere Ganze der Kirche Jesu Christi hinein aufschließen. Nur so können die Extreme von Individualismus und Kollektivismus im Leben der Kirche vermieden werden. Darum gehört eine ganz eigene Art von Einheit in der Vielfalt der Glaubenszeugen zum unverlierbaren Grundwesen der Kirche. Kirche zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie der Ort ist, wo sich Nachfolge und Vergegenwärtigung des Herrn so ereignen, dass die Vielfalt der Charismen ein Lebensrecht hat. Viele dieser Charismen scheinen sich auf den ersten Blick kaum miteinander vereinbaren zu lassen: „Die einen der gegenwärtigen Welt zugewandt, in ihr und für sie arbeitend, die anderen vorweg eschatologisch das kommende, verborgen anwesende Reich Gottes ankündigend. Ohne die Zweiten wären die Ersten in Gefahr, im Innerweltlichen stecken zu bleiben, ohne die Ersten wären die Zweiten versucht, den Anforderungen der gegenwärtigen Welt zu entfliehen. Christen können im Prisma eines kirchlichen Miteinanders das eine Licht des Ursprungs vermitteln; aber im Prisma muss jede Farbe mit der anderen zusammenhängen: Das Wesen der Kirche ist die Liebe der Christen verschiedenster Berufungen: Dieser liebende Zusammenhang, dieser Selbstüberstieg eines jeden Charismas zum Geltenlassen der übrigen, dieser Überstieg der Charismatik (1. Kor. 12) zur Liebe als ihrem Grund und Ziel (1. Kor. 13) ist die Authentisierung des Verweises der Kirche auf ihren uneinholbaren Ursprung".[7] Es gibt viele Gründe, warum dieses kirchliche Miteinander in den heutigen Gemeinden oft gefährdet oder gar nicht mehr lebendig gegeben ist. Hier ist auch das Problem von Gemeindereformen und modernen Formen der Gemeindebildung mitzubedenken.[8]

Fünfte These: Ohne ein gewisses Maß an Liebe findet man auch in der Kirche nichts.

Die Alten haben gewusst, dass zur Erkenntnis geistiger Sachverhalte auch die „Sympathie" gehört. Erkennen und Wollen, Sehen und Lieben müssen eine innige Einheit eingehen, wenn der Mensch eine personale Wirklichkeit voll verstehen will. Es gibt freilich auch eine falsche und kurzsichtige „Liebe" zur Kirche, die ihre eigenen Grenzen und Gefährdungen nicht erblickt. Es geht hier ähnlich wie sonst im zwischenmenschlichen Leben. Wer von vornherein nur Sicherheit haben möchte, verfehlt die Freiheit der Liebe. „Wer sich nicht ein Stück weit wenigstens in das Experiment des Glaubens, in das Experiment mit der Kirche einlässt, bejahend einlässt, es nicht riskiert, mit den Augen der Liebe zu schauen, ärgert sich nur. Das Wagnis der Liebe ist die Vorbedingung des Glaubens. Wird es gewagt, so braucht man sich nichts von den Dunkelheiten der Kirche zu verbergen. Aber man entdeckt, dass sie doch nicht das einzige sind. Man entdeckt, dass es neben der Kirchengeschichte der Skandale doch auch die andere Kirchengeschichte gibt, die der freimachenden Kraft des Glaubens, die sich in so großen Gestalten wie Augustinus, Franz von Assisi ... Vinzenz von Paul, Johannes XXIII. alle Jahrhunderte hindurch fruchtbar bewährt hat"[9], Der evangelische Christ wird seine heiligen Zeugen diesen an die Seite stellen wollen, angefangen von seinen Vätern des Glaubens bis zu einem Dietrich Bonhoeffer.

Um eine volle und noch tiefere Antwort zu geben, müsste man eine ganze Ekklesiologie schreiben, besser noch: die Kirchenerfahrung dieser Zeit unter dem Stichwort „Christen ohne Kirche?" entfalten. Es könnte darin natürlich auch die Versuchung zu einem sehr steilen und unerreichbaren Ideal liegen, das dann in der Alltäglichkeit des gelebten Lebens hinter den Erwartungen zurückbleibt und noch mehr Emigration, Resignation und Frustration anstatt tiefere Identifikation auslöst und erzeugt. Darum muss nun gegen Ende auch, wie mir scheint, notwendigerweise vom Leiden an der Kirche, ja vom Ärgernis der Kirche, die Rede sein.

Darum sei eine letzte These formuliert:

Sechste These: Große Liebe gibt es auch in der Kirche nicht ohne das Leiden.

Nur wer die endliche und sündige Wirklichkeit von uns Menschen und der Kirche annimmt und durch die verschiedenen Stationen hindurch ausleidet, kann die ursprüngliche Liebe wahren. Diese bleibt nur, wenn sie wächst. Auch hier ist Stillstand Rückschritt.

Je radikaler die Kirche in ihrem Ursprung aus Jesus Christus gelebt und begriffen wird, umso tiefer werden auch ihre Schwächen sichtbar. Vielleicht fehlt es gerade an dieser Stelle an theologischem Tiefblick im heutigen Kirchenverständnis. Wir Christen haben die leidenschaftliche Liebe zur Kirche und mit dieser auch den Feuereifer um ihre Reinheit weitgehend verloren. So radikal dieser Eifer allen Kehricht von den Tennen des Gotteshauses fegen will, so nachsichtig und barmherzig bleibt die vom Glauben genährte Kirchenkritik. „Wir müssen es lernen, die Kirche zu ertragen. Wir sind der Kirche gegenüber manchmal wie Kinder, die wissend geworden sind und hinter die Schwächen ihrer Eltern kamen... Wir sind selbst wissend und traurig. Aber wenn unser naiver Kinderglaube reif werden soll, muss diese Last getragen werden. Diese Kirche, wie sie leibt und west und in vielen ihrer Glieder verwest, ist und bleibt auch für uns Glaubensprobe, Prüfung, Bestürzung, brennende Sorge. Sie kann zur Glaubensgefahr werden, weil wir alle in der Versuchung stehen, sie spiritueller, anziehender, eindrucksvoller, mitreißender zu wünschen - und schon beginnen wir auch heute wieder das uralte Gespensterspiel von der Kirche des reinen Geistes aufzuführen, das da durch alle Jahrhunderte geht von Montanus bis Jansenius und bis in die Kammer unseres Herzens. Es ist die teuflische Versuchung, das Reich Gottes nun doch schon auf Erden zu vollenden, sich für einen nur glorreichen Messias zu begeistern und also das eigene Versagen abzuschieben in den Lobpreis einer Kirche der Geistigen oder einer Kirche des innerweltlichen Erfolgs, der statistisch erfassbaren Fortschritte, der Konkurrenzfähigkeit mit anderen Religionsgemeinschaften".[10] Weil wir die Vielschichtigkeit und Hintergründigkeit des Geheimnisses der Kirche aus dem Blick verloren und dafür eine eindimensionale und graue Fassade reiner Institutionalität eingetauscht haben, häuft sich die - sicher oft berechtigte - Kirchenkritik. Auch ändern sich damit ihre Formen und ihre Folgen. Wir haben nicht zuletzt deshalb soviel Traurigkeit, Resignation, Überdruss und Abschied von der Kirche, weil es so wenig bleibende und tief greifende Kirchenreform gibt. Eine solche ist freilich nur möglich, wenn sie beständig und gegen alle Schwierigkeiten aus spirituellen Wurzeln genährt wird. Vielschichtigkeit der Kirchenwirklichkeit, Reformernst und Spiritualität gehören eng zusammen.

Eine solche Sicht darf keine Verharmlosung des Bösen und Sündigen in der Kirche bedeuten. Der Gehorsam gegenüber dem unverkürzten Evangelium muss sich in der Kirche in Form von Kritik Luft machen dürfen. Hier ist der Ort einer Treue zum Evangelium „sine glossa", ohne alle Glossier- und Kommentierungskunst, wie Franz von Assisi seinen eigenen Auftrag akzentuiert. Aber gerade dies macht die paradoxe Größe des wirklichen „Charismatikers" aus, dass er bei allem radikalen Einsatz für das ungeschmälerte Evangelium ebenso entschieden den Willen zum gehorsamen und geduldigen Bleiben in der konkreten Kirche aufbringt. Hier gilt es den Auftrag zur bedingungslosen Bezeugung des Evangeliums durchzutragen - und durchzuleiden. Das authentische Charisma übernimmt seine Sendung im Raum der Kirche. „Das Kriterium des echten Charisma ist das Kreuz, das Sich-Zerreißenlassen zwischen dem Auftrag und dem Ort seiner Erfüllung um des Auftrags willen. Wer dazu nicht bereit ist, wer die Unversehrtheit des Ich der Ausrichtung des Auftrags am Ort, dem er zugehört, vorzieht, beweist, dass er zu guter Letzt doch sein Ich wichtiger nimmt als den Auftrag, und zerstört damit das Charisma. Die Spaltung kommt letztlich aus dem Zurückweichen vor dem Kreuz und aus dem Egoismus hervor".[11]

Jeder, der in der Nachfolge des Herrn steht und schmerzlich die Wirklichkeit der Kirche erfährt, kennt diese Zerreißprobe. An ihr ist nicht vorbeizukommen. Darum gibt es bei aller Identifikation mit der Kirche diese Elemente schmerzlichen Zerrissenseins und der Nicht-Identität. Wer nicht bereit ist, diesen Grundkonflikt des Glaubens auszutragen, beweist am Ende nur, dass er die runde Identität seines Ich wichtiger nimmt als die ihm bestimmte Sendung. In ihr kann man nicht davor fliehen, Herausforderungen anzunehmen und sich ihnen auszusetzen, sie zu bestehen und mit ihnen zu kämpfen. Dies gehört zur „Gefährlichkeit des kirchlichen Auftrags". Doch nur auf diesem Weg des Leidens und des Kreuzes lässt sich das hier und dort auch in der Kirche verdrängte oder entstellte Evangelium wieder einbringen. Alle wahre Reform in der Kirche bezeugt dies.

Ein weiteres Beispiel der Erfahrung wahrer Kirchlichkeit soll als letztes Zeugnis das Gesagte nochmals veranschaulichen: „Natürlich hat diese Gemeinschaft des Glaubens, Kirche genannt, von den Notwendigkeiten menschlicher Vergesellschaftung her nach dem Willen Gottes und Jesu ihre gesellschaftlichen Strukturen, ihre Ämter, ihre wechselnde, oft mit menschlicher Enge, Schuld und Zerrissenheit belastete Geschichte. Aber für den, der wirklich weiß, worum es letztlich in dieser Glaubensgemeinschaft geht, nämlich um Gott in Jesus Christus, der kann diese Glaubensgesellschaft aus armen Menschen, die auch als Kirche immer von Schuld zur Vergebung unterwegs sind, in gelassener Geduld ertragen, wissend, dass er ja auch seine eigene Enge und Schuld in diese Gemeinschaft um Christus und mit ihm einbringt. Für den ist auch alles Ärgernis der Kirche nicht größer und nicht unerträglicher, als es auf jeden Fall in der Schuld, Wirrnis und Enge der menschlichen Geschichte gegeben ist. Er reiht sich demütig in die Gemeinschaft dieser Glaubenden ein, die durch die Finsternis der Welt dem ewigen Licht entgegenpilgern. Er weiß, dass er Gott am nächsten ist, wenn er in Geduld, Vergebungsbereitschaft und Hoffnung den Menschen und so auch den Menschen der Kirche brüderlich nahe ist und bleibt".[12]

(c) Karl Kardinal Lehmann

 

 


Anmerkungen und Fußnoten
[1] Vgl. dazu in einfacher Form K. Lehmann, Jesus hat die Kirche gewollt = Antwort des Glaubens 30, Freiburg i. Br. 1983.

[2] Statt dieser Methode werde ich einige spirituelle und theologische Zeugnisse recht verschiedener Theologen anführen, die eine Einheit aufzeigen, die oft vergessen wird.

[3] Zur genaueren Analyse vgl. meine Beiträge „Außerkirchliche Religiosität und Identifikation mit der Kirche, in: K. Forster (Hg.), Religiös ohne Kirche?, Mainz 1977 (Topos-Taschenbuch 66), 34-50; K. Lehmann, Signale der Zeit - Spuren des Heils, Freiburg i. Br. 1983, 58-82; Theologische Reflexionen zum Phänomen „außerkirchlicher Religiosität", in: L. Bertsch/F. Schlösser (Hg.), Kirchliche und nichtkirchliche Religiosität. Pastoraltheologische Perspektiven zum Phänomen zur Distanzierung von der Kirche = Quaestiones disputatae 81, Freiburg i. Br. 1978, 49-69.

[4] Ich verzichte darauf, später erschienene Literatur von mir selbst anzuführen, verweise jedoch auf eine kleine Veröffentlichung jener Zeit mit J. Ratzinger (= Benedikt XVI.): J. Ratzinger/K. Lehmann, Mit der Kirche leben, Freiburg i. Br. 1977 u.ö.; dazu auch K. Lehmann, Neuer Mut zum Kirchesein, 3. Aufl., Freiburg i. Br. 1985.

[5] H. Küng, Christ sein, München 1974 u.ö., 512.

[6] J. Ratzinger, Warum ich noch in der Kirche bin, in: Zwei Plädoyers, München 1971, 69, auch in: Ders., Gesammelte Schriften, Band 8/2, Freiburg i. Br. 2010,1179-1185, Zitat: 1179.

[7] H. U. v. Balthasar, Warum ich noch ein Christ bin?, in: Zwei Plädoyers, München 1971, 50f.

[8] Vgl. meine umfangreicheren späteren, zusammenfassenden Studien: Gemeinde, in: F. Böckle u. a. (Hg.): Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, Bd. 29, Freiburg i. Br. 1982, 5-65 (Lit.).

[9] J. Ratzinger, Warum ich noch in der Kirche bin?, in: Zwei Plädoyers, 73, Gesammelte Schriften 8/2, 1183.

[10] H. Rahner, Die Kirche, Kraft Gottes in menschlicher Schwäche, Freiburg 1957, 13, auch in: Ders., Abendland, Freiburg i. Br. 1966, 286-297, Zitat: 292.

[11] J. Ratzinger, Bemerkungen zur Frage der Charismen in der Kirche, in: G. Bornkamm/K. Rahner, Die Zeit Jesu. Festschrift für Heinrich Schlier, Freiburg 1970, 257-272, 270f., auch in: Gesammelte Schriften, Band 8/1, 345-362, Zitat: 360.

[12] K. Rahner, Glaubensmitte - Lebensmitte, in: Geist und Leben, 46. Jhrg., 1973, 246.
2015 @Bistum Mainz | Impressum | Datenschutzerklärung | Login

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz