Vortrag beim Zweiten Kontaktseminar mit Juristen, Fachrichtung Sozialrecht im Deutschen Anwaltverein, und Leitungen der Werkstätten für behinderte Menschen in der Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen e.V. am 31.8.2006 in Oberursel
Das Problem von Recht und Gerechtigkeit gehört mitten hinein in die Herausforderung der Frage: „In welcher Gesellschaft wollen wir leben?“ Diese Frage spitzt sich ganz besonders zu im Blick auf die Menschen, die wegen ihrer besonders starken Behinderungen nicht am Erwerbsleben teilnehmen können und darüber hinaus besonders betreuungs- und pflegebedürftig sind. Gibt es für sie, gibt es überhaupt ein „Recht des Schwächeren“, wenn sie scheinbar so gut wie keine Gegenleistung anbieten können?
Hier soll das Thema nicht am Beispiel der „sozialen Gerechtigkeit“ erörtert werden. Dieser Begriff ist natürlich nicht untauglich für unser Thema, aber er bedürfte einer eingehenderen Erörterung. Er ist nicht so selbstverständlich, wie es scheint. Ich lasse auch die umfangreiche Problematik der Verteilungsgerechtigkeit beiseite. Sie führt, so wichtig sie ist, hier nicht viel weiter.
I.
Ich wähle vielmehr einen Begriff, den vor allem der Tübinger Philosoph Otfried Höffe seit vielen Jahren im Anschluss an entsprechende Grundgedanken schon bei Aristoteles herausgearbeitet hat. Es ist die so genannte Tauschgerechtigkeit. Bei ihr ist der Ansatz weniger problematisch; denn es geht zunächst darum, dass Nehmen und Geben gleichwertig sind. Man hat den Ansatz bei der Tauschgerechtigkeit sehr oft verkannt, weil man nur einen ökonomischen Tauschbegriff voraussetzte, zumal einen zu engen. Aber Menschen treten nicht nur in einen wirtschaftlichen Austausch miteinander, es gibt nicht nur materielle Tauschbeziehungen, sondern auch ideelle, wie z.B. Anerkennung, Selbstachtung, Selbstverwirklichung. Der Tauschbegriff muss auch nicht so verstanden werden, dass man für das, was man empfängt, sofort wieder ein Äquivalent zurückgeben muss. Man darf Phasenverzögerungen nicht ausschließen, die durchaus die Wechselseitigkeit ja nicht zerstören müssen. „Ausgehend von der anthropologischen Tatsache, dass der Mensch sowohl am Anfang des Lebens als auch in der Regel am Ende hilflos ist, kann man die Hilfeleistungen, die man nach der Geburt und beim Heranwachsen erfährt, später durch eine Hilfe für die Älteren ‚wiedergutmachen’. Entwicklungsgeschichtlich gesehen, findet dieser Tausch zunächst innerhalb der Familie und Großfamilie statt. Er entspricht einem (stillschweigenden) Vertrag zwischen Eltern und Kindern, der über eine phasenverschobene und doch wechselseitige Hilfe abgeschlossen wird. Bei einem hinreichend weiten Begriff erweist sich der Tausch als die weder maternalistische noch paternalistische, vielmehr geschwisterliche, insofern auch demokratische Form der Zusammenarbeit.“
Wenn man diese Skizze annimmt, scheint die Antwort auf die Frage nach einem ausgeglichenen Tausch sehr rasch gefunden werden zu können: Es scheint so, dass der behinderte Mensch, besonders der schwer behinderte, in den wechselseitigen Tauschvorgang so gut wie nichts einbringen kann; die Tauschgerechtigkeit scheint verletzt. Aber diese Anschauung reduziert den Menschen eben durch und durch nur auf seine messbare ökonomische Leistung. Wir haben gesehen, dass der Tauschbegriff erheblich erweitert werden muss, wenn er hier angewendet werden soll. Außerhalb der ökonomischen Regeln eines Marktes verlangt die Tauschgerechtigkeit eben nicht nach einer Ausgewogenheit der Preise. Vielmehr müssen die Tauschpartner in ihrem Wechselgeschäft ein Gleichgewicht ihrer sich austauschenden Wertebeziehungen erkennen. Es besteht deshalb kein Zweifel, dass der Staat in der Wahrnehmung der Verantwortung für das Gemeinwohl dann für die gleichberechtigten Lebensmöglichkeiten gerade schwer behinderter Menschen eintreten muss. Insofern gibt es ein Recht des Schwächeren, wenn die privaten Hilfsmöglichkeiten erschöpft sind.
Daraus darf freilich nicht im Sinne einer Verteilungsgerechtigkeit eine Asymmetrie entstehen, die letztlich eine Fürsorge-Mentalität erzeugt. So notwendig die Nächstenliebe, ja auch die Barmherzigkeit sind, um solchen Menschen im Rahmen ihrer Möglichkeiten Lebenschancen zu schaffen, so wenig darf dies eine paternalistische Einstellung hervorrufen. Dabei geht es gar nicht nur um die Gewährung einer Unterstützung allein aufgrund des Sozialrechtes. Vielmehr muss man sich fragen, ob nicht gerade der behinderte Mensch eigene Fähigkeiten besitzt und in sich hat, die einen authentischen Wert darstellen − womöglich mehr ideeller Art. In dieser Hinsicht müssen wir unser Menschenbild überprüfen, und zwar in doppelter Richtung: wie wir nämlich den behinderten Menschen einschätzen und welche Kriterien dabei leitend sind und welches Bild vom Menschen sich ergibt, wenn wir nur auf den „gesunden“ und „leistungsstarken“ schauen.
Wenn wir stärker von der gemeinsamen Menschenwürde und der Gleichheit aller Menschen ausgehen, dann stellt sich die Frage, ob es zwischen gesunden und behinderten Menschen nicht durchaus eine geradezu notwendige, unentbehrliche und sich gegenseitig ergänzende Wechselseitigkeit in ihrer jeweiligen Bedeutung gibt. Dann wäre eine Kooperation unter „Gleichen“ nicht einfach nur eine Utopie.
II.
Wir reden viel von der gemeinsamen Menschenwürde und der Gleichheit aller Menschen, aber in der konkreten Realisierung bleiben wir oft weit hinter dem damit zum Ausdruck kommenden Anspruch zurück. Dies gilt gegenüber vielen Menschen, die in außerordentlichen Situationen leben, besonders wenn sie an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Wir erkennen immer mehr, dass es viele subtile Formen der Ausgrenzung gibt. Diskriminierung kann offen geäußert werden, aber auch sehr latent mächtig wirksam sein. Unsere Stellung zu den behinderten Menschen ist der Ernstfall unserer Rede von der gleichen Würde aller Menschen.
Gewiss ist in den letzten Jahrzehnten für diese Menschen im Blick auf die materielle Seite der Rehabilitation − Gesetze, Finanzen, Personal, Bauten − in verhältnismäßig kurzer Zeit sehr viel mehr geschehen als in den langen Zeiträumen vorher. Dies kann nicht heißen, der Ausbau würde auch in dieser Hinsicht nicht noch viel mehr erfordern. Bereits im 19. Jahrhundert hat man Anstalten für behinderte Menschen gegründet, viele auf kirchliche, etliche auf staatliche Initiativen hin. Man hat die damit zeitbedingt gegebene Aufgabe zunächst so zu lösen versucht, dass man alle, die eine bestimmte Behinderung hatten, in eigens für sie errichtete Anstalten zusammengebracht hat.
Diese räumliche und organisatorische Zusammenfassung hat einerseits erst die Kenntnisse bei den damaligen Fachleuten über ihre „Zöglinge“ reifen lassen und eine fachspezifische Hilfe ermöglicht , andererseits aber ist damit auch ein weiteres Problem entstanden, ihre soziale Isolierung von der Gesellschaft nämlich. Selbstverständlich geschah dies nicht in erster Linie zu diesem Zweck, aber man kam dadurch auch - mindestens heimlichen - Bedürfnissen der Gesellschaft entgegen. Die Gesellschaft hat nämlich gegen Glieder, die mit einem Leiden behaftet sind, oft ein ambivalentes, ja nicht selten sogar feindseliges Verhalten ausgebildet. Die „Gesunden“ sind froh, wenn sie die Leidenden nicht zu sehen brauchen. Wir kennen dies alle.
Leicht geht es von den Lippen: „Ich habe ja nichts gegen Behinderte, aber …“ Oder: „Es wäre doch besser, wenn sie nicht geboren würden, wenn man einer Mutter das Elend ersparen könnte, wenn man nicht immer an soviel Leid erinnert würde, wenn dies alles nicht so viel kosten würde ...“ Es sind nicht bloß private, dumpfe Gefühle, die am Stammtisch kultiviert werden, sondern diese persönlichen Einstellungen führen auch rasch zu öffentlichen Reaktionen, wenn z. B. die Errichtung eines Wohnheimes für behinderte Menschen von einem ganzen Stadtviertel abgelehnt wird, wenn Touristen sich durch die Anwesenheit behinderter Menschen um ihren „Urlaubsgenuss“ betrogen fühlen, wenn ein behindertes Kind in die Kindergartengruppe oder Schulklasse aufgenommen werden soll. Es hat sich auch hier vieles nachhaltig gebessert.
Nicht wenige Fachleute sprechen schon seit einigen Jahren von einer „neuen“ Behindertenfeindlichkeit. Aggressionen gegen Ausländer und Fremde treffen bei zunehmender brutaler Gewalt immer mehr auch behinderte Menschen. Es gibt offenbar neue Ausgrenzungen geschädigten menschlichen Lebens.
Wir möchten gerne den Anblick von Schmerz und Krankheit, Verunstaltung und Tod verhindern. So etwas erscheint unzumutbar. Es gibt auch viele Visionen am Horizont von Gegenwart und Zukunft, die eine weitgehende oder gar totale Befreiung des Menschen von leidvollen Erfahrungen durch immer bessere ökonomische Bedingungen und immer fortschrittlichere medizinische Betreuung versprechen. In einer ganz auf das persönliche, irdische Glück ausgerichteten Zukunftserwartung gibt es kaum Platz für körperliches oder seelisches Leiden, für Krankheit oder gar Sterben. Leider lassen sich einzelne Wissenschaftler gelegentlich für solche Utopien einspannen.
Der „Gesunde“ will in vielen Fällen vom „Behinderten“ nichts wissen. Die behinderten Menschen und ihre Betreuerinnen und Betreuer erfahren in dieser Isolierung ein schwieriges Gegenüber. Es ist ganz unvermeidlich, dass sich durch diese Struktur eine bestimmte Mentalität ausprägt. Der Umgang mit behinderten Menschen erschöpft sich unter Umständen in der „Fürsorge“. Dies darf gewiss nicht von vornherein negativ gesehen werden: Man hat auf diese Weise fachlich manches für diese Menschen getan; man konnte ihre Lebensbedingungen verbessern; man konnte eine erste Stufe der Verelendung überwinden. Aber dieses fürsorgliche Gegenüber von behinderten Menschen und Betreuern kann auch sehr kühl werden. Unter den heutigen Arbeitsbedingungen kann sich diese Möglichkeit sogar leicht steigern: die Bedeutung technisch-apparativer Prozesse, der Rang organisatorischer Abläufe, funktionale Gesichtspunkte und das Zurücktreten personaler Begegnungsformen, die Vielzahl von spezialisierten Betreuern usw. An dieser Stelle hat das zwar schon etwas ältere, jedoch noch nicht erledigte Stichwort von der partnerschaftlichen Hilfe sein Recht: Der Helfende hat sich als Partner des Hilfsbedürftigen zu sehen.
Dennoch hat dieser Begriff auch seine Schwächen. Er wendet sich gegen jenen hilfebedürftigen Gegenpol, dem Helfer steht in der Betreuung schließlich nur noch ein „Objekt“ gegenüber. Auch wenn man sich noch so partnerschaftlich bemüht, so sind behinderte Menschen dadurch doch in der Gefahr, an den Rand gedrängt zu werden. Sie werden zu einer Sondergruppe, die man nachträglich und immer etwas künstlich wieder mit den „Gesunden“ zusammenbringt.
Wenn die Isolierung bemerkt oder kritisiert wird, ertönt der Ruf nach „Integration“. Dies ist zunächst ein ernstes Programm. Es geht darum, dem behinderten Menschen im Maß der gegebenen Möglichkeiten den Rahmen für ein relativ „normales“ Leben in der menschlichen Gesellschaft zurückzugeben. Dieses Einfügen in die Lebensbedingungen der Gesellschaft wird immer wieder und sehr bald an seine Grenzen stoßen. Denn die Integration in eine Gesellschaft, die man gar nicht nach ihrem Selbstverständnis und nach ihrer Ausrichtung befragt, ist unglaubwürdig. Sie versteht sich eigentlich von selbst. Nur die bisher Nicht-Eingefügten stellen ein Problem dar. So sind sie trotz aller „Integration“ so etwas wie bleibende Außenseiter oder Fremdkörper im Ganzen.
Ich will keinen Zweifel lassen an meiner Grundeinstellung. Das vor allem von den nordischen Ländern her aufgenommene Prinzip der „Normalisierung“ war eine wichtige Leitidee für den Umgang mit behinderten Menschen. Das Prinzip besagt, dass Menschen mit einer körperlichen, geistigen oder psychischen Beeinträchtigung ihr Leben so uneingeschränkt wie möglich führen sollen. Es ist die Leitvorstellung für alle Systeme der Hilfe und alle Zielperspektiven. Die Formel „ein Leben so normal wie möglich“ erwies sich als Motor vieler Reformen sowohl der großen stationären Einrichtungen als auch der schrittweise Ergänzung durch kleinere Institutionen. Das „Normalisierungsprinzip“ ist ein Mittel, das auch dem geistig behinderten Menschen erlaubt, Errungenschaften und Bedingungen des täglichen Lebens weitgehend zu nutzen. Dies bezieht sich auf sehr viele Dinge. Es geht z. B. um einen allgemein üblichen Tages- und Wochen- sowie Jahresrhythmus, um Orientierung am Lebenszyklus und um Respektierung von persönlichen Bedürfnissen, um gleichberechtigte Teilhabe am wirtschaftlichen Lebensstandard usw. Wenn man in das konkrete Leben hineinschaut, ist es ganz erstaunlich, was man trotz Behinderungen „normal“ tun kann und was solche Menschen in ihrem Leben erreicht haben.
„Normalisierung“ gilt aber auch für unseren sprachlichen Umgang mit behinderten Menschen. Gott sei Dank gibt es heute kaum mehr Bezeichnungen wie Idioten, Debile, Schwachsinnige, Krüppel usw. Auch die Sprache kann in besonderer Weise Menschen ausgrenzen und sie auf das Anormale festlegen. Es gibt manche Bezeichnungen und sprachliche Verhaltensweisen, die vorgeben, dass viele behinderte Menschen eben nicht im vollen Sinn Mensch geworden wären und dass sie darum auch nicht als Menschen angesehen zu werden bräuchten. Viele werden darum auch ein Leben lang wie unmündige Kinder behandelt. Es ist erstaunlich, dass es manchmal auch in der Wissenschaft einen solchen Prozess der sprachlichen Diskriminierung von behinderten Menschen gibt.
Gerade auch im Zeichen der pränatalen Diagnostik und besonders des Schwangerschaftsabbruches gibt es eine sprachliche Dehumanisierung von Menschen mit einer Schädigung. Von der Theorie des Entstehens der Vorurteile und ihrer Entwicklung her ist die schädliche Wirkung einer solchen sprachlichen Einstellung vertraut: vom distanzierenden Reden zur Vermeidung von Begegnungen, zur Diskriminierung geht der Weg zum tätlichen Angriff, ja zur Vernichtung. Die Humanisierung und Demokratisierung der Sprache fördert eine positive Veränderung des Denkens und des Handelns gegenüber behinderten Menschen. Es gibt im Übrigen viele literarische Zeugnisse und moderne Film- und Fernsehfiguren, die viel zu sehr das Fremdartige und Anormale von behinderten Menschen darstellen.
In engem Zusammenhang damit stehen die Stigmatisierungen von Menschen, die auf „unerwünschte Weise“ anders sind als erwartet: rassische und ethnische Merkmale („Neger“), soziale Merkmale („Arbeiterkind“), negativ bewertete Ereignisse in der Biographie eines Menschen („Sonderschüler“), körperliche Abweichungen oder eben sichtbare Behinderungsmerkmale („Behinderte“). Sehr häufig wird einem Menschen in konkreten sozialen Begegnungen aufgrund eines dieser Merkmale automatisch eine ganze Reihe anderer, negativ abwertender Eigenschaften unterstellt. Es versteht sich von selbst, dass Menschen, die solchen Stigmatisierungsprozessen ausgesetzt sind, oft an schweren Identitätsfindungsmängeln leiden. Wenn die Balance zwischen „Einmaligsein“ und „Sosein-wie-andere“ nicht gelingt, wird die Ich-Identität gefährdet oder beschädigt. Die Folge ist, dass der geschädigte Mensch falsch reagiert: Er passt sich um jeden Preis an, erscheint immer als der Hilflose und Hilfsbedürftige. Er möchte „pflegeleicht“ sein usw. Behinderte Menschen werden oft erst akzeptiert, wenn sie wenigstens einen Rest ökonomischer Nützlichkeit und Verwertbarkeit einbringen (vgl. Gefahren in früheren Konzeptionen der Rehabilitation von Blinden). Als Arbeitnehmer müssen sie sich am Arbeitsplatz nicht selten durch besondere Leistungen bewähren, um Anerkennung zu finden. Darum muss man sehr aufmerksam sein, ob unsere Hilfen manchmal nicht Ausgliederungsprozesse verstärken und verfestigen. Durch solche Auswahl, Isolierung und Verfremdung wird der behinderte Mensch immer wieder aus der „normalen“ Situation im Alltag herausgehoben. Darum sind wohnortnahe, mobile, ambulante Dienste heute so wichtig geworden. Sie ersetzen jedoch keineswegs die professionellen Einrichtungen, wie immer wieder vorgetäuscht wird. Diese Institutionen selbst haben sich in den letzten Jahrzehnten als qualifizierte, lernende Organisationen bewiesen und sich erheblich gewandelt.
III.
Die bisherigen Überlegungen zeigen, dass bei diesen verschiedenen Versuchen einer besseren, menschlichen Einstellung zum behinderten Menschen doch so etwas wie ein wirklich gemeinsamer Boden fehlt. Es wird eigentlich wenig gefragt, was wir, die behinderten und nicht behinderten Menschen, miteinander sind. Trotz großer Anstrengungen findet man rasch alles in der Einbahnstraße des Versorgens und des Gebens wieder.
Ich bin fest davon überzeugt, dass der biblische, christliche Glaube vertiefende Hilfen bringen kann. Schon früher habe ich dafür das Stichwort „Heilende Gemeinschaft“ verwendet. Bei dieser Leitidee muss man zwei Dimensionen miteinander verbinden und entfalten: Die behinderten Menschen brauchen als ihre Heimat eine heilende Gemeinschaft mit den Nichtbehinderten, um aus ihrer Isolation befreit zu werden und um wenigstens bis zu einem gewissen Grad als „normal“ angenommen und anerkannt zu werden. Aber auch alle anderen benötigen eine solche „heilende Gemeinschaft“. Die „Gesunden“ brauchen die behinderten Menschen, um sich der Fesselung durch die selbstverständlichen Maßstäbe des gesellschaftlichen Lebens bewusst zu werden und zu einem neuen Lebensstil zu finden. Dies gilt nicht nur individuell, sondern auch im Blick auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen unseres Zusammenlebens.
Diese Grundüberlegung möchte ich nun auf der anthropologischen, der christologischen und der ekklesiologischen Ebene in ihrer Bedeutung wenigstens kurz aufzeigen.
Wir klammern die behinderten Menschen aus unserem lebendigen Bewusstsein aus, weil wir ein falsches Menschenbild haben. Es gilt oft nur das Gesunde im Sinne des physischen Intaktseins, das Erfolgreiche und das „Normale“. Der Mensch gilt erst als voller Mensch, wenn er als voll funktionsfähig erscheint. Er vervollständigt sich scheinbar weitgehend in der Summe seiner gesellschaftlich übernommenen Rollen. Unter diesen Voraussetzungen erscheint der behinderte Mensch nicht selten als ein Mensch zweiter Wahl. Der Mensch steigert sich heute durch die Erwartung einer fast grenzenlosen Perfektibilität zu einem Wesen, das keine Mängel haben darf. Es ist jedoch irrig, die Grenzen des Menschlichen und seine vielfachen Mängel aus dem Verständnis des Humanen auszuschließen. Der „normale“ Mensch vertuscht unter vielen Fassaden seine Fehler, Mängel, Schwächen und Grenzen. Er erscheint im allgemein akzeptierten öffentlichen Bewusstsein mit möglichst wenig Schwächen, unerschütterlich, ohne Angst und immer erfolgreich. Der behinderte Mensch dagegen kann die Mängel seines Lebens nicht verbergen. Er zeigt uns wie in einem Spiegel, dass der Mensch Grenzen hat und dass er verdrängt und lügt, wenn er immer nur das Können an die erste Stelle setzt.
Der Mensch hat Grenzen und darf sich auch ein Nicht-Können, auch Schwachstellen erlauben. Mängel im menschlichen und moralischen Bereich können viel gravierender sein als physische Defekte. Es ist ein sehr verzerrtes Menschenbild, wenn Behinderung schlechthin als das Schockierende und Entsetzliche gilt - die andern, oft viel häufigeren und viel mehr verbreiteten Mängel jedoch gar nicht zur Sprache kommen. Allein schon die bloße Existenz und ein Minimum an Gemeinschaft mit den behinderten Menschen können für die „Gesunden“ heilend sein, weil sie dadurch aus einem fragwürdigen Selbstverständnis befreit werden und so auch das Gefährdete und Bodenlose ihrer eigenen Existenz entdecken können.
Falls ein solches Menschenbild auch noch „Gott“ zum Garanten des immer Erfolgreichen und Stärkeren macht, wird Gott ideologisch missbraucht. Der biblische Gott sagt Ja zu jedem Menschen. Er ist auch als behinderter ein letzter Zweck in sich selbst und darf nicht nur nach der Fähigkeit zur Übernahme gesellschaftlicher Rollen und nach einem Denken in der Kategorie der „Effizienz“ beurteilt werden. Christlich verstandene Personalität transzendiert jede Rolle. So wird erst der volle Begriff von Menschenwürde und Personalität erreicht. In diesem Sinne bewährt sich die Rede von der Menschenwürde erst und vollends in dieser Dimension, gerade im Blick auf die Einschätzung des behinderten Menschen. Ich brauche hier nur das Stichwort „Gottebenbildlichkeit“ zu nennen.
Gott schuf nicht bestimmte, besonders leistungsfähige Menschen nach seinem Bilde. Gott ist nicht ein anderer Name für den Sieg und den Erfolg. Gott geht nicht auf in der Summe der menschlichen Erwartungen. Weil er zu jedem Menschen Ja sagt, liebt er auch das beeinträchtigte, ja geschädigte Leben. Der biblische Gott ist sogar in besonderer Weise ein Helfer der Schwachen und Hinfälligen. Gott will darum auch Not und Leid nicht schlechthin beheben. Aber er kann sie erträglicher machen.
Der mit dem endlichen Menschen solidarische und auch der Schwäche und den Grenzen der Kreatur nahe Gott offenbart sich voll und endgültig in Jesus Christus. Er nimmt all unsere Schwäche an, ganz besonders die vom Menschen verursachten Folgen der Sünde in der Welt. So leidet er auch stellvertretend für uns. Er nimmt unsere Schwäche an, damit wir stark werden. Er wird arm, damit wir reich werden. Nach diesem Gesetz der Stellvertretung kann einer des anderen Last annehmen. Stellvertretung ist ein Grundprinzip der biblischen Zuwendung gerade auch zum behinderten Menschen und zu allem, was als schwach gilt, zum Ausdruck gekommen: „Darum nehmt einander an, wie auch Christus uns angenommen hat, zur Ehre Gottes.“ (Röm 15,7) Hierdurch wird nicht nur die Annahme des Anderen und Fremden möglich, sondern dadurch werden auch die herrschenden Normen und die Erfolgszwänge verändert.
Dies ist die Aufgabe jedes einzelnen Christen. In unserem persönlichen Selbstverständnis spielt dies vermutlich eine zu geringe Rolle. Es gilt aber erst recht für die Gemeinschaft der Christen. Die Kirche ist nur dann wirklich Gemeinde Jesu Christi, wenn sie in seinem Geist lebt und auch in den von ihr getragenen Einrichtungen und durch ihre täglichen Hilfeleistungen ein solches Zeugnis abgibt. Sie muss also in der Gesellschaft am meisten den Mut haben, den falschen Menschenbildern zu widersprechen und neue Maßstäbe sichtbar zu machen. Die Kirche muss darum zu einer besonderen Stätte heilender Gemeinschaft zwischen allen Menschen werden, ob behindert oder nicht. Dies gilt nicht nur für die spezifischen, professionell ausgerichteten Einrichtungen, sondern für jede christliche Gemeinde. Gerade hier ist jedoch noch sehr viel aufzuholen, weil die Diakonie als Grundfunktion der Gemeinde noch immer viele Lücken aufweist.
Das grundlegende Gesetz der Stellvertretung muss auch im kleinen Fragment und in den Oasen des gesellschaftlichen und kirchlichen Lebens das tägliche Miteinander prägen. Einmal las ich ein schönes Beispiel dafür: Ein junger Mann machte Ferien mit einem behinderten Jungen. Durch viele Hilfestellungen, wie z.B. Tragen und Fahren, ermöglichte er ihm, an einer Welt teilzunehmen, die ihm sonst verschlossen geblieben wäre. Immer wieder war der behinderte Mensch gerührt über die Hilfsbereitschaft, die ihm geschenkt wurde. Der Helfer sagte ihm als einzige Antwort: „Lass doch einmal für vier Wochen meine Beine deine Beine sein!“ Zu solchen Formen des wörtlich gemeinten „Einander?Tragens“ und ganz konkreter Stellvertretung muss der Christ fähig sein und immer mehr fähig werden. Christliche Tauschgerechtigkeit äußert sich in der Fähigkeit zum selbstlosen Geben ebenso wie zum selbstverständlichen Nehmen.
Damit rühren wir überhaupt an die Wurzel des Christlichen. Das Schicksal dieser Menschen und ihre Aufnahme durch uns rühren an eine verletzliche Stelle unseres gesellschaftlichen Bewusstseins und auch des christlichen Glaubens. Zählt am Ende wirklich nur der, welcher in unseren Augen lebenstüchtig und gesund ist, der sich durchzusetzen versteht? Wird die Geschichte nur nach den strahlenden Siegern und den gewonnenen Schlachten geschrieben? Wehe, wenn auch wir Christen keinen Sinn mehr aufbringen für den glimmenden Docht und das geknickte Rohr. Mitleid und äußerliches Bedauern machen uns nicht schon zu Partnern. Unsere praktische Indifferenz ist solange nicht beseitigt, als wir keine konkrete Solidarität und Verantwortung für diese Menschen in uns und um uns wecken - bis zum Einsatz für die politischen Folgen. Der Geringste unserer Brüder und Schwestern - mag der „Fall“ menschlich noch so „hoffnungslos“ erscheinen - trägt das Antlitz Jesu Christi. Der verspottete, zerschlagene und gekreuzigte Herr ist die stets lebendige Mahnung, dass wir an solchen Schwestern und Brüdern nicht achtlos vorbeigehen. Er trägt auch das Bild des behinderten Menschen.
Es gibt noch eine Belastung, der wir oft nicht gewachsen sind. Viele Anstrengungen für Menschen, die in ihrem Leben beeinträchtigt sind, scheinen sich nicht zu lohnen. Oft ist keine Heilung möglich. In anderer Form kennen wir dies von den Bemühungen um Obdachlose und Suchtabhängige. Rückfälle ersticken hier alle Hoffnungen oder machen viele Bemühungen zunichte. Manches scheint „umsonst“ zu sein. Die Solidarität und Partnerschaft mit dem behinderten Menschen braucht einen großen Mut zum endlosen Helfen, zum Warten und - menschlich gesprochen - auch zur Vergeblichkeit. Oft ist das Gegenteil von „Erfolg“ und „Nutzen“ der Fall. Oft muss man täglich gegen alle Hoffnung neue Kräfte schöpfen. Im Grunde kann nur eine Hoffnung durchhalten, die gläubig davon überzeugt ist, dass Gott auch auf krummen Zeilen gerade schreibt. Vielleicht rettet am Ende nur noch die im Glauben geschenkte Gewissheit, dass Gott gerade diesen Menschen unendlich liebt. Diese Form der Liebe kann in ihrer ungeschminkten Nüchternheit und in ihrer rückhaltlosen Offenheit für das, was ist, nur durchgehalten werden, wenn sie von der Vergeblichkeit und der Torheit, aber auch von der Hoffnungskraft und dem geheimen Sieg der Liebe am Kreuz Jesu Christi lebt. Oft steht vielleicht inmitten von Enttäuschungen nur noch der reine Auftrag da, den Dienst des barmherzigen Samaritans fortzusetzen. Dies ist wohl eine höchste Form der „Stellvertretung“ im Namen Jesu Christi.
Die christliche Gemeinde muss in jedem ihrer Mitglieder einen Funken dieser nüchternen und zugleich unverdrossenen Liebe entzünden. Sie wird auch gemessen werden an der Zahl der Menschen, die sich für einen solchen Dienst bereithalten. Sie wird daran erkannt werden, ob sie die Betroffenen und ihre Helfer wohlmeinend an den Rand abschiebt oder ihnen ein echtes Lebensrecht bei sich einräumt. Nichts anderes kostet der Preis der Glaubwürdigkeit für den einzelnen Christen.
Vielleicht lässt sich diese Hochform christlicher Caritas nur selten und immer nur in Fragmenten unseres täglichen Lebens verwirklichen. Die überaus strukturierten und organisierten, spezialisierten und professionalisierten, genormten und verrechtlichten Beziehungen in unseren Einrichtungen machen es nicht leicht. Oft wird sich diese Form des Miteinanderlebens sehr nüchtern und - auch vom christlichen Geist getragen - „säkular“ offenbaren. Aber wir müssen auch sonst in unserem gesellschaftlichen Leben mit den faktischen und möglichen Einschränkungen unseres Lebens zurechtkommen. In vielen Feldern der Ökologie, der Arbeitslosigkeit, des Wirtschaftswachstums und anderer Lebensbereiche müssen wir lernen, mit neuen Grenzen zu leben. Auch hier ist eine neue Hilfe für andere Lebensformen als bisher notwendig. So stehen die behinderten Menschen am Ende nicht allein im Raum, wenn wir ihr Menschsein und unsere eigene Gefährdung ganz annehmen. Wir sehen dann tief in das Antlitz der Geschöpflichkeit des Menschen und in die Kreatürlichkeit unserer Welt. Grenzen annehmen können - und nicht durch Rebellion oder Resignation versagen: das ist wahrhaft menschlich und christlich.
IV.
Das Thema „Behinderte“ hat in den letzten Jahrzehnten noch eine ganz besonders herausfordernde Zuspitzung erfahren durch die diagnostischen Möglichkeiten des vorgeburtlichen Lebens. Viele werdende Mütter und die dazugehörigen Väter bewegt die Frage, ob ihr Kind gesund, d. h. ohne Beeinträchtigungen und Behinderungen und ohne Erbleiden zur Welt kommen wird. Es gibt gewiss in diesem Zusammenhang eine wachsende Zahl von Hilfsmöglichkeiten. Forschung und Beratung werden hier wieder neue Wege aufzeigen, wie vielen bedrängten Ehepaaren heute Ängste genommen oder wenigstens reduziert werden können. Ich verkenne diese positive Seite nicht, zumal wenn sie mit qualifizierter Beratung einhergeht. Aber es gibt auch die Gefahr, dass sich die pränatale Diagnostik immer stärker von der speziellen humangenetischen Beratung abkoppelt und zu einer Art von „Qualitätskontrolle“ des ungeborenen Lebens wird. Es lässt sich nicht verschleiern, dass die pränatale Diagnostik bei Unsicherheiten und auch schon bei möglichen leichten Behinderungen zu einer tödlichen Indikation werden kann, durch die so genannte „Risikofälle“ ausgeschaltet werden sollen. Rasch ist dann das Urteil der „Unzumutbarkeit“ präsent, das z.B. den Schwangerschaftsabbruch legitimiert. Das „normale“ Ziel der Diagnose ist in sehr vielen Fällen leider die Beendigung der Schwangerschaft. Die zum Abbruch „vorherbestimmten“ Kinder sollen sozusagen ausfindig gemacht werden. In diesem Sinne zielt die vorgeburtliche Diagnose faktisch und überwiegend auf die Abtreibung eines kranken Fötus.
Auch wenn heute nicht unmittelbar eugenisch-rassistische Ideologien im Hintergrund stehen, so ist der soziale Druck auf die Eltern, besonders die schwangere Mutter, außerordentlich groß, wenn das ungeborene Leben irgendwelche Beeinträchtigungen aufweist. Das Leid sei nicht zumutbar, man dürfe der Gesellschaft nicht solche Lasten aufbürden usw. Das Versprechen von Sicherheit und Kontrolle erzeugt Erwartungen bei vielen Frauen, setzt „Qualitätsstandards“ und bringt verschiedene Zwänge. Wer entsprechende Untersuchungen z. B. als Risikogebärende über 35 Jahre ausschlägt, gerät durch die gesellschaftliche Stimmung und manchmal auch durch das ärztliche Verhalten unter einen Rechtfertigungsdruck. Frauen, die sich der pränatalen Diagnostik unterziehen, können sich in ein zweifelhaftes Verhältnis zu ihrem Kind begeben. Sie tragen das Kind „auf Probe“, „bis auf weiteres“, wenn nichts dazwischen kommt. So kann nur schwer eine vorbehaltlose Bindung an das Kind aufgebaut werden. Menschliches Leben wird grundsätzlich in der Schwebe gehalten. Rasch werden die Eltern vor die Frage gestellt, wann ein Leben wert oder unwert ist. Wer ja sagt zum behinderten Kind, bekennt sich zur Unberechenbarkeit und auch zur Vielfalt des Lebens. Krankheit, Behinderung und Tod müssen als Teil des Lebens akzeptiert werden. Sonst bringt der Mensch sich selbst in die Situation, wie ein Gott Richter spielen zu müssen über Leben und Tod, über Sein oder Nichtsein.
Die Gesellschaft wird in Zukunft den Umgang mit den behinderten Menschen also schon im frühesten vorgeburtlichen Stadium positiv oder negativ entscheiden. Insofern verlagert sich die Frage nach ihrem Schicksal und ihrer Zukunft ganz an seinen Anfang. Dies spiegelt sich längst auch in den heutigen Herausforderungen und Fragen zum Ende des Lebens.
Ich brauche nicht auf Hilfen in dieser Situation einzugehen, die nicht zuletzt auch im Gespräch mit Menschen bestehen, die Erfahrung haben im Umgang mit behinderten Menschen. Dabei gibt es außerordentlich überraschende Einsichten. Nicht wenige Eltern, die behinderte Kinder angenommen haben, erzählen von der Freude und der Herausforderung, die ein solches Kind für eine ganze Familie darstellt. So werden Familien durch die Gegenwart eines solchen Kindes stark geprägt und nicht selten auch verwandelt. In einer Familie mit einem behinderten Kind können sich Fähigkeiten und Tugenden entwickeln, die sonst nicht in diesem Maß gewachsen wären. Ich weiß, dass es ganz anders sein kann und oft total anders ist. Es geht mir nicht um Schönfärberei, aber ich möchte auch nicht verschweigen, was Menschen vermögen.
Bekanntlich ist bei der am 29. Juni 1995 erfolgten Verabschiedung der Neuregelung zu Paragraph 218 StGB keine eigenständige eugenische bzw. embryopathische Indikation formuliert worden. Vor allem die Voten der Behindertenverbände, aber auch der Kirchen und der großen Behinderteneinrichtungen, hatten nachhaltig aufgezeigt, dass eine solche Regelung eine geringere Achtung des Lebensrechtes des geschädigten Kindes nahe legen könnte. Eine Behinderung darf jedoch nie zur Minderung des Lebensschutzes führen. Vor diesem Hintergrund erscheint es zunächst als eine Hilfe, dass es keine eigene embryoapathische Indikation gibt. Aber es zeigen sich immer mehr auch gravierende Nachteile dieser gesetzlichen Regelung:
·Die erweiterte medizinische Indikation, die die embryoapathische Indikation auf diese Weise abdecken soll, setzt eine schwere Gefährdung für die körperliche und seelische Gesundheit der Mutter voraus. In diesem weiten Sinne steht eine solche erweiterte medizinische Indikation für einen möglichen Missbrauch offen.
·Es entsteht die Gefahr, dass der Schwangerschaftsabbruch bei Vorliegen einer wahrscheinlichen Behinderung des ungeborenen Kindes bis zum letzten Tag der Schwangerschaft als erlaubt angesehen wird. Es gibt keine Frist wie bisher, sondern diese erweiterte medizinische Indikation ist bis zur Einleitung der Geburt möglich. Ich brauche nur das Stichwort „Spätabtreibungen“ zu nennen.
·Eine Pflichtberatung entfällt, leider auch eine qualifizierte, spezifische humangenetische Beratung, wie sie oft gerade von medizinischer Seite gefordert wurde.
·Es bleibt die ernsthafte Frage, ob nicht in allen Konfliktsituationen, in denen für die Frau keine akute Lebensgefahr besteht, eine Beratung zugunsten des ungeborenen Kindes stattfinden müsste. Wo bleibt hier die Schutzpflicht des Staates, wenn auf der anderen Seite die Strafdrohung wegfällt?
·Die Untersuchungen zur so genannten „eugenischen Indikation“ und den so indizierten Schwangerschaftsabbrüchen haben erwiesen, dass die Bewältigung und die „Verarbeitung“ eines Schwangerschaftsabbruchs in diesem Bereich eine stärkere Belastung darstellt als gemeinhin angenommen wird. Umso wichtiger wäre gerade hier die Beratung.
Diese wenigen Anmerkungen zur heute geltenden Regelung des Paragraphen 218 StGB zeigen, wie problematisch sich die hier gefundene Lösung gestaltet, aber auch wie notwendig eine Sensibilisierung der Gesellschaft für die Behinderung in allen Dimensionen ist, ganz besonders im vorgeburtlichen Lebensbereich.
Lassen Sie mich noch ein Zeugnis einer behinderten Frau anführen: „Nicht wir als Behinderte, als Randgruppe sind das Problem, sondern die Gesellschaft, in der wir leben, und die Nichtbehinderten, die Schwierigkeiten mit uns haben, sei es, weil sie Widerwillen und Ablehnung gegenüber 'Krüppeln' empfinden und deshalb der Konfrontation ausweichen wollen, sei es, weil wir sie an die eigene Verletzlichkeit erinnern, sei es, weil wir gesellschaftlichen Wertvorstellungen nicht entsprechen.“
Der einzelne behinderte Mensch muss zwar die ihm auferlegten Grenzen und sein Leid selbst tragen, aber er findet dabei in den Einrichtungen nicht nur eine fachliche Hilfe, sondern auch eine vielfache Gemeinschaft und Solidarität. Wenn dies kirchliche Einrichtungen sind, dann müssen sie auch etwas von der heilenden Hoffnung und Stellvertretung ausstrahlen, die uns Jesus Christus geschenkt hat. Er hat sie für alle gebracht. Das kleine Wort „für alle“ sagt sich leicht dahin. Die kirchlichen Einrichtungen und Dienste für körperbehinderte Menschen sind ein wichtiger Beleg dafür, wie die Kirche durch die von ihr getragenen Einrichtungen diese Botschaft an alle konkret ausrichten will. Wenn es dabei im Alltag auch recht fachlich, weltlich und bisweilen menschelnd zugeht, ist dies kein Einwand gegen ihre grundsätzliche Ausrichtung, die in der täglichen Arbeit sicher oft eher unscheinbar und verborgen ist. Entscheidend ist, dass diese Einrichtungen für die betroffenen Menschen und ihre Angehörigen Stätten einer Hoffnung sind, von der wir uns nicht abbringen lassen dürfen.
Es gibt also ein „Recht des Schwächeren“. Die Formulierung „Recht des Schwächeren“ könnte allerdings auch zu einem problematischen Bedeutungsgehalt, mindestens in Anwendung auf behinderte Menschen, führen. Der Begriff des „Schwächeren“ muss ja kritisch reflektiert werden, wie es hier versucht worden ist. Auch das Wort „Recht“ muss erläutert werden. Es kommt nämlich vor allem Recht auf das zugrunde liegende Menschenbild mit seinen anthropologischen Voraussetzungen an. Deshalb hebe ich lieber auf die „heilende Gemeinschaft mit behinderten Menschen“ ab.
(c) Karl Kardinal Lehmann
Im Original sind eine Reihe von Fußnoten enthalten
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz