Das Ringen um die Religionsfreiheit

Adventspredigt von Kardinal Karl Lehmann im Mainzer Dom

Datum:
Sonntag, 7. Dezember 2014

Adventspredigt von Kardinal Karl Lehmann im Mainzer Dom

Mainz. Unter der Überschrift „Das Ringen um die Religionsfreiheit auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil" stand die Adventspredigt von Kardinal Karl Lehmann, Bischof von Mainz, am Sonntag, 30. November, im Mainzer Dom. Sie war Auftakt der traditionellen Reihe der Adventspredigten im Mainzer Dom, die in diesem Jahr unter dem Thema „Religionsfreiheit als Menschenrecht" steht. Die kommenden Predigten am Sonntag, 7., und Sonntag, 14. Dezember, halten jeweils um 18.00 Uhr Pater Professor Dr. Felix Körner SJ, Rom, bzw. Ute Granold, Klein-Winternheim. Im Folgenden dokumentieren wir die Predigt des Kardinals ohne den Anmerkungsapparat. (MBN)

Wir haben in den letzten Jahren hier bei den Advents- und Fastenpredigten, aber besonders auch in Veranstaltungen der Akademie des Bistums im Erbacher Hof viele Studien gemacht über die Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils. Allmählich nähert sich das Konzilsjubiläum dem Ende. Am 8. Dezember 1965 war die vierjährige intensive Beratungszeit der Bischöfe aus der ganzen Welt abgeschlossen. Aber wir dürfen eigentlich nicht den Reigen dieser Dokumente beenden, ohne dass wir noch auf einen sehr wichtigen Text zurückkommen, der gerade heute eine große Bedeutung hat. Dieser Text ist am 7. Dezember 1965 als allerletztes Dokument des Konzils abgestimmt und von Papst Paul VI. sofort veröffentlicht worden, nämlich die Erklärung über die Religionsfreiheit „Dignitatis Humanae".

Während des Zweiten Vatikanischen Konzils durfte ich durch meinen Studienaufenthalt in Rom und vor allem durch die anschließende Assistententätigkeit bei Karl Rahner (formell ab 1964) persönlich erfahren, wie über viele Jahre und mit großer Leidenschaft zur „Erklärung über die Religionsfreiheit" mit den schon genannten Anfangsworten „Dignitatis Humanae" disputiert und gekämpft worden ist. So wurde die feierliche Schlussabstimmung, wie schon erwähnt, nach dieser jahrelangen intensiven Diskussion und sechs überarbeiteten Textfassungen ganz am Ende des Konzils verabschiedet. Am 7. Dezember 1965 wurde der Text schließlich mit über 2.300 Ja- gegen 70 Nein- bei acht ungültigen Stimmen angenommen und auch am gleichen Tag feierlich verkündet. Man schätzt die anderen Konzilsdokumente nicht geringer ein, wenn man feststellt, dass dieser so heftig umstrittene Text wohl zu den weitreichendsten und gewichtigsten Beschlüssen dieser Kirchenversammlung gehört. Er hat freilich auch bis heute viel Widerspruch geerntet. Immerhin gab es 70 Nein-Stimmen, was außerordentlich viele waren. Wie wir sehen werden, gab es dafür viele Gründe.

Ursprünglich sollte das Thema der Religionsfreiheit beim Textentwurf über den Ökumenismus behandelt werden. Er wurde aber mit Ausführungen über die Juden zuerst in einen Anhang verwiesen, dann ganz vom Ökumenismus-Schema abgetrennt und sechsmal überarbeitet. Im Herbst 1964 wurde der überarbeitete Text sehr intensiv diskutiert. Nun war er jedenfalls eine eigene Erklärung geworden. Eine Abstimmung erfolgte in der III. Sitzungsperiode nicht, angegeben wurde der „Zeitmangel". Weitere Abänderungsvorschläge wurden eingereicht. Ein neuer Text wurde im September 1965 vorgelegt. Er wurde dem Konzil im September zur Diskussion übergeben und als Grundlage angenommen. Papst Paul VI. hat wesentlich zu einer positiven Aufnahme beigetragen. Es gab im Oktober 1965 eine sehr penible Abstimmung. Anschließend wurde der Text nochmals überarbeitet. Die Verbindung mit dem Thema „Juden" wurde dann gelöst. Die Hauptaussagen über das Judentum finden sich in der Erklärung zum Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen „Nostra aetate" (vgl. Art. 4), aber auch in der Kirchenkonstitution (vgl. Art. 6, 9, 32). Gewiss finden sich auch in anderen Zusammenhängen weitere Ausführungen, z.B. unter dem Stichwort „Israel" (vgl. LG 16, 19; DV 14). Da das Thema Israel, besonders im Verhältnis zu den arabischen und muslimisch orientierten Staaten, viel Zündstoff enthielt, war die gesamte Debatte lange Zeit zusätzlich belastet. Aber es meldeten sich auch innerkatholische Kritiker, die sich mehr und mehr um Erzbischof Lefebvre scharten. Dies muss wenigstens kurz erklärt werden.

Man muss dabei vor allem die Veränderungen wahrnehmen zwischen der traditionellen kirchlichen Lehre und den vom Konzil geplanten und dann auch verabschiedeten Aussagen. In den lehramtlichen Texten wurde noch bis zum ersten Entwurf „Über die Kirche" aus dem Jahr 1962 (neuntes Kapitel) die Auffassung vertreten: Ist die Mehrheit der Menschen in einem Staat katholisch, dann muss auch der Staat katholisch sein. Für die Anhänger eines anderen Glaubens gibt es kein einklagbares Recht, diesen Glauben öffentlich zu bekennen. Ist die Mehrheit der Menschen in einem Staat nicht-katholisch, dann muss sich der Staat nach dem Naturrecht richten, d.h. er hat einzelnen Katholiken und der Kirche alle Freiheit zu lassen. Man sieht deutlich, dass hier Toleranz bloße Duldung ist. Nicht zuletzt deshalb trat allmählich an die Stelle des Begriffs Toleranz das Wort Religionsfreiheit. Thema der Konzilserklärung sind die Beziehungen physischer und moralischer Personen in der menschlichen und politischen Gesellschaft sowie das Verhältnis zur öffentlichen Gewalt in Sachen der Religion. Die Wahrheitsfrage wird nicht geleugnet, tritt aber in den Hintergrund. In diesem Sinne wurde immer wieder über die alte These gestritten: „Nur die Wahrheit hat Recht, der Irrtum hat keinerlei Recht."

Für uns erscheint Toleranz als selbstverständlich. Wer will schon gegen Toleranz sein! In Wirklichkeit aber handelt es sich beim Verhältnis der Kirche zur Religionsfreiheit um eine regelrechte Leidensgeschichte. Vielleicht darf man in der folgenden Aussage den Kerngehalt der konziliaren Erklärung sehen: „Das Vatikanische Konzil erklärt, dass die menschliche Person das Recht auf religiöse Freiheit hat. Diese Freiheit besteht darin, dass alle Menschen frei sein müssen von jedem Zwang sowohl von Seiten Einzelner wie gesellschaftlicher Gruppen, wie jeglicher menschlichen Gewalt, sodass in religiösen Dingen niemand gezwungen wird, gegen sein Gewissen zu handeln, noch daran gehindert wird, privat und öffentlich, als Einzelner oder in Verbindung mit anderen - innerhalb der gebührenden Grenzen - nach seinem Gewissen zu handeln. Ferner erklärt das Konzil, das Recht auf religiöse Freiheit sei in Wahrheit auf die Würde der menschlichen Person selbst gegründet, so wie sie durch das geoffenbarte Wort Gottes und durch die Vernunft selbst erkannt wird. Dieses Recht der menschlichen Person auf religiöse Freiheit muss in der rechtlichen Ordnung der Gesellschaft so anerkannt werden, dass es zum bürgerlichen Recht wird."

Warum ist dies bis zu diesen Worten so etwas wie eine Leidensgeschichte? Wir kommen hier rasch auf den tieferen Grund aller Religion. Besonders die biblisch-christliche Religion lebt von der Überzeugung der unverbrüchlichen Wahrheit des eigenen Glaubens. Der Glaube verliert rasch seinen wahren Sinn, wenn er diese Gewissheit preisgibt. Unvermeidlich scheint dann jedoch die Konsequenz zu sein, dass die christliche Religion die einzig wahre ist, alle anderen Religionen diesen Gott so nicht kennen. Die Kirche wird spätestens seit dem vierten Jahrhundert von der Frage umhergetrieben, wie sich unter dieser Voraussetzung das Verhältnis der Christen zu den Nichtglaubenden und besonders auch zu den Häretikern gestaltet, die vom wahren Glauben abgefallen sind. Das Dilemma ist offenkundig: Wenn der Glaube eine Sache des Willens ist (Augustinus: credere voluntatis est), dann darf er nicht erzwungen werden. Dann können eigentlich nur die Verkündigung, besonders die Predigt, und das Mittel der Überzeugung zu ihm hinführen. Gewiss gab es Zwangsbekehrungen, vor allem oft gegen die Juden angewandt. Man denke nur an das Vorgehen Karls des Großen nach der Eroberung Sachsens. Dabei wird aber leider oft übersehen, dass es von Gregor dem Großen, bei Nikolaus I. und immer wieder in der Kirche deutliche Aussagen gibt, „dass man sie (die Heiden) durch Ermahnungen, Ratschläge, Gründe und nicht durch Gewalt von der Nichtigkeit der Götzenbilder überzeugen muss". Zweifellos hat die Kirche sich jedoch oft zur Duldung von Gewalt hinreißen lassen oder sich durch Zwang in einen solchen Dienst begeben.

Ein besonders schwieriges Kapitel ist dabei die Anwendung von Zwangsmitteln und Strafen gegen die Häretiker. Die weltliche Sanktion wird für das geistliche Delikt in Anspruch genommen, weil der wahre Glaube und seine Herrschaft erhalten bleiben sollen. Auch Thomas von Aquin, der sonst ähnlich wie Augustinus besonnene Ausführungen zur Freiheit des Glaubens macht, spricht hier mit aller Härte. Schon Augustinus nimmt hier eine sehr unduldsame Haltung ein. Der Hass gegen die Häretiker wurde nicht gebremst, sondern eher voll befördert. Auch die Reformation steht noch unter diesem unglücklichen Stern. Luther, Melanchthon und Calvin denken ähnlich wie die mittelalterliche Kirche, wenn vielleicht auch die Intensität der Verfolgung etwas gemildert wurde. Zwar gab es auch in dieser Zeit schon andere Stimmen, z.B. bei Erasmus von Rotterdam, aber sie konnten in der sich eher verhärtenden Auseinandersetzung nicht die Oberhand gewinnen.

Es ist eine große Tragödie, dass die Kirchen als streitende Religionsparteien nicht in der Lage waren, selbst diese Probleme zu lösen. Die politische Ordnung löste sich daraufhin schrittweise von der Verankerung in der Religion und suchte ihre Aufgabe unabhängig von der religiösen Wahrheit in der Begründung und Erhaltung von äußerem Frieden, öffentlicher Sicherheit und Ordnung. Allmählich wurde die Frage der Toleranz auf der politischen Ebene von der Frage der Wahrheit getrennt und damit von der faktisch destruktiven Unbedingtheit gelöst, die in den konfessionellen Bürgerkriegen wütete. Die Gewährung religiöser Freiheit schritt stückweise voran, bis es im Lauf des 19. und endgültig im 20. Jahrhundert zur Anerkennung der vollen Religionsfreiheit kam. Dies war nun nicht mehr eine im Einzelnen auch aufhebbare Duldung, sondern ein verbürgtes, unentziehbares Recht auf staatlicher Grundlage. Es ist und bleibt - wie schon erwähnt - eine wirkliche Tragödie, dass die Religionsfreiheit, die dem Christen heute selbstverständlich ist, trotz der eigenen Ansätze jedenfalls in der Durchsetzung den Denkern der Aufklärung und dem modernen Staat verdankt wird.

Die Kirche hat über lange Zeit an der alten Lehre festgehalten und nur notgedrungen Konzessionen gemacht. Dies darf man nicht herunterspielen. Aber gleichzeitig muss auch gesagt werden, dass vor allem im 19. Jahrhundert viele Äußerungen über die geforderte Religionsfreiheit außerhalb der Kirche oft sehr eng und - für die damalige Zeit offenbar kaum unterscheidbar - mit einem Indifferentismus und einer Verkennung der Wahrheitsfrage überhaupt verbunden waren. Wenn man die Dokumente des 19. Jahrhunderts liest, muss man immer diese Situation vor allem des kirchlichen Lehramtes vor Augen haben. Es kam zu einem unheilvollen absoluten Gegensatz zwischen Wahrheit und Freiheit. Beide Seiten haben darunter gelitten, dass man dieses Verhältnis als feindliche Spannung, die prinzipiell unauflösbar war, gesehen hat. Noch heute findet man auf Schritt und Tritt ähnliche Überzeugungen, wenn z.B. der gesellschaftliche Friede, der einen fast unbegrenzten Pluralismus einschließt, gegen jeden Wahrheitsanspruch gesetzt wird.

Die Kirche hat, wie gerade das Zweite Vatikanische Konzil zeigt, hier gründlich umgedacht. Außerdem hat Papst Johannes Paul II. am 12. März 2000 in seinem Schuldbekenntnis der Kirche auch um Vergebung gebeten für die Verletzungen des Rechts auf Glaubensfreiheit und die Verfolgung Andersgläubiger. Man hat lange Zeit gerungen, um die Verbindung von Wahrheit und Freiheit zu finden. „An die Stelle des Rechts der Wahrheit ist ohne Einschränkung das Recht der Person getreten, womit ein Grundprinzip neuzeitlichen Freiheitsdenkens aufgenommen und anerkannt wurde. Dies wird aber nicht mit einer Relativierung der Wahrheitsfrage verbunden. Wie nicht anders zu erwarten, hält die Erklärung am Wahrheitsanspruch des katholischen Glaubens und der Verpflichtung des Menschen, den wahren Glauben zu suchen und anzunehmen, fest." Dieser Zusammenhang ist aber leider bei der nachkonziliaren Diskussion innerhalb und außerhalb der Kirche wenig beachtet worden. Man ist auch auf kirchlicher Seite immer wieder auf einen Gegensatz von Wahrheit und Freiheit zurückgefallen, hat mit Recht die Religionsfreiheit betont, aber oft den bleibenden eigenen Wahrheitsanspruch zu sehr im Hintergrund belassen. Wir haben selbst zu wenig herausgearbeitet, dass Freiheit auf Wahrheit gründet und auf sie bezogen ist, aber auch dass Wahrheit Freiheit voraussetzt, weil dies nur in Respekt der Person geschehen kann. „Wahrheit und Freiheit sind so (heute in der neuen Theorie der Toleranz und der Religionsfreiheit) in der Weise miteinander verknüpft, dass äußere, rechtliche Freiheit unabdingbar der Weg zur Wahrheit ist; nicht gegen die Wahrheit, sondern um der Wahrheit willen besteht Religionsfreiheit als Recht." Dazu gehört die Einsicht: „Wer seine Quellen kennt, wer seinen Selbstwert nicht relativistisch erschüttern lässt oder gar nihilistisch verzweifelt, der hat etwas zu sagen, der hat etwas zu verkünden und lässt sich durch Widerspruch oder auch Häme nicht aus dem Tritt bringen. Selbstbewusstsein ist eine Bedingung für Toleranz. Wer an sich selbst zu sehr zweifelt, wird denjenigen fremden Angeboten nachlaufen, die Stärke und Konformität versprechen und auf den Achtungsanspruch des Andersdenkenden mit übermäßiger Furcht reagieren." Bewusst zitiere ich hier Staatsrechtler, die auch Bundesverfassungsrichter waren und sind.

In der Zwischenzeit ist die Anerkennung der Religionsfreiheit als Grundrecht in der Kirche sehr anerkannt, wenn auch an dieser Stelle der Streit mit den Traditionalisten noch nicht überwunden ist. Die Sache ist aber in den letzten Jahren in vieler Hinsicht nur noch wichtiger geworden. Die vorgetragene Konzeption hat Konsequenzen. Sie duldet z.B. keinen Verzicht auf Wahrheit. Sie gibt den eigenen Wahrheitsanspruch nicht preis. Das wahre Toleranzverständnis kennt auch seinerseits Grenzen und Schranken. Die Utopie reiner Toleranz führt nicht zur Freiheit, sondern am Ende zur Unterwerfung. Es gibt eine Toleranz, die zum Selbstmord führt, wenn sie nämlich eingehalten wird im Blick auf Leute, die ihrerseits von Toleranz nichts halten. Dies ist auch ein Grund, warum Toleranz im Bereich der Religion nicht zur Vorstellung einer Reduktion der Vielfalt der Religionen auf das Einheitsmodell eines gemeinsamen Gottesbildes führen kann, wie z.B. bei Lessing in Nathans Ringparabel. Die Religionen schulden einander und den Menschen gewiss wechselseitiges Verstehen, größtmögliche Verständigung und gemeinsame Verantwortung gegenüber den Bedrohungen unserer Welt, am meisten aber das Zeugnis ihres Glaubens. Dies schließt die Bereitschaft ein, in dem, was mir als das Fremde begegnet, Wahrheit zu suchen, die mich angeht und mich weiterführen kann.

Wenn dann auch in der gegenseitigen Brüderlichkeit, in der Offenheit und Ehrlichkeit zueinander, im Respekt voreinander Toleranz gefördert wird, bleibt bei allem wechselseitigen Verstehen, das jedoch ein letztes Geheimnis im Anderen nicht ausschließt, ein bleibendes Getrenntsein, auch, wenn dieses sich in einem ernsthaften Dialog vermindert. Darum bleibt auch in jedem echten Gespräch und Disput ein Schmerz.

Dies ist der Weg zwischen der falschen Sicherheit des Fundamentalismus und dem unaufhörlichen Zweifel des Relativismus. Beide untergraben das Vertrauen untereinander und fördern Verbohrtheit und Beliebigkeit. Wir wollen aber über dem Zweifel nicht die Gewissheit verlieren und im Verlangen nach Orientierung nicht starrsinnig werden. Darum braucht es im Leben des Geistes immer das Ringen zwischen Wahrheit und Freiheit. „Hier wäre idealiter der Ort intensivster Problementfaltung in einem unendlichen Prozess, in dem immer wieder Schmerz der Getrenntheit und Glück des Verstehens dergestalt ineinandergreifen, dass der letzte Horizont der Verstehensproblematik offen bliebe: die Unverfügbarkeit des anderen, in dessen Blick ich mich immer bereits vorfinde. Diesen Zustand zu erreichen, wäre ein gebrechliches Ideal, aber da der Mensch gebrechlich ist, dürfen es auch seine Ideale sein." Oder hören wir es in der prägnanten Formel des Mainzer Bischofs Wilhelm Emmanuel von Ketteler, dessen 200. Geburtstag wir an Weihnachten 2011 feierten, und der 1848 auf dem ersten Katholikentag in Mainz sagte: „(Aber) wie die Religion der Freiheit bedarf, so bedarf auch die Freiheit der Religion." Papst Benedikt XVI. begann am 22. September 2011 nach der Landung in Berlin seinen Besuch in unserem Land mit diesem Zitat.

Erfahrene Politiker haben mir schon seit vielen Jahren immer wieder gesagt, bei Besuchen in manchen Staaten der Erde einer freiheitlichen Demokratie sei ihnen der Text, ob faktisch eine echte Religionsfreiheit zugelassen wird, am wichtigsten. Unser langjähriger Außenminister Hans-Dietrich Genscher hat mir dies immer wieder gesagt. In den letzten Jahren hat sich jedoch gezeigt, wie viel offene und versteckte, auf jeden Fall im Lauf der Jahre gewachsene Unfreiheit und Intoleranz im Blick auf die Religion vorherrscht. In den letzten Monaten haben wir überall auch noch feststellen müssen, wie sich diese Intoleranz mit einer menschenverachtenden Grausamkeit und geradezu Bestialität verbindet. Entsprechend wurden auch besonders die Christen in vielen Ländern unserer Erde grausam verfolgt. Nüchterne Kenner und Beobachter gehen von ihrer festen Überzeugung aus, dass heute sehr viel mehr Christen verfolgt werden als in anderen Epochen der Menschheitsgeschichte.

Sie kennen diese Vorfälle aus den täglichen Berichten vieler Medien. Wir haben in Rom für die ganze Weltkirche und besonders auch in der Kirche unseres Landes viele Aktionen und Initiativen begonnen, um auf diese Entwicklung aufmerksam zu machen. Dies ist auch ein Grund für die Auswahl der beiden folgenden Predigten an den nächsten beiden Sonntagen. Frau Bürgermeisterin Ute Granold, die viele Jahre unsere Gegend im Deutschen Bundestag vertreten hat, hat in Zusammenarbeit mit vielen christlich orientierten, aber auch wirklich freiheitlich gesonnenen Politikern, nicht zuletzt dem Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Herrn Volker Kauder, immer wieder das öffentliche Bewusstsein geweckt, aber auch viele Reise unternommen, besonders in den Nahen Osten, um vor Ort und konkret die Situation kennen zu lernen. Sie wird uns darüber erzählen. Schließlich habe ich Herrn Prof. P. Dr. Felix Körner SJ, Päpstliche Universität Gregoriana in Rom, gebeten, speziell über die Religionsfreiheit im vielgestaltigen Islam zu berichten. P. Felix Körner stammt aus Offenbach in unserer Diözese. Ich freue mich, dass wir ihn deshalb hier in Mainz begrüßen dürfen. Er hat aber auch etliche Jahre vor allem in der Türkei gelebt und intensive Gespräche und Studien mit Gelehrten aus dem Bereich des Islam durchgeführt, die zum Teil auch veröffentlicht worden sind. Beide Predigten können uns damit das am heutigen Abend Gesagte konkret aufzeigen. Ich freue mich schon heute auf diese Begegnungen und lade Sie alle herzlich dazu ein.

(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz