Das neue Europa als Herausforderung für die Christen und die Kirche

Festvortrag beim 2. Aachener Krönungsfestmahl am 23. Oktober 2004 im Krönungsfestsaal des Rathauses in Aachen

Datum:
Samstag, 23. Oktober 2004

Festvortrag beim 2. Aachener Krönungsfestmahl am 23. Oktober 2004 im Krönungsfestsaal des Rathauses in Aachen

Das Projekt Europa ist schon weit fortgeschritten, und es ist viel erreicht worden. Die trennenden Grenzen sind gefallen. Wir haben einen gemeinsamen Binnenmarkt. Europa ist auch ökonomisch erfolgreich. Seit dem 1. Januar 2002 gibt es den EURO. Europa befindet sich auf dem Weg zu einem Verfassungsstaat. Die Aufnahme weiterer Mitglieder in die Europäische Gemeinschaft sowie die Entwicklung der Union hin auf einen Verfassungsstaat stehen schon lange im Mittelpunkt. Beides greift ineinander. Gerade die Erweiterung brachte die neue Diskussion in Gang. Nahezu täglich wird in den Medien berichtet von Äußerungen des Europäischen Parlamentes, einzelner Mitgliedsstaaten und Persönlichkeiten des politischen Lebens zu dem Prozess hin zu einer europäischen Verfassung. Das Europäische Parlament sowie die Europäische Kommission machen sich Gedanken über ihre Stellung in einem zukünftigen Europa. Der Europäische Prozess verzeichnet also trotz gelegentlich gegenteiligen Anscheins auch keinen Stillstand.

Warum braucht es dennoch in diesen Herausforderungen einen neuen Schwung für Europa?

Eine erste herausfordernde Antwort: Weil zwar Bewegung vorhanden ist, aber kein wirklicher Schwung. All den politisch und technisch orientierten Aktivitäten fehlt heute irgendwo ein Elan, der Zögernde und Skeptiker mitreißt. Man kann den Eindruck einer Stagnation nicht verlieren. Es fehlt eine treibende Kraft.

In den Anfängen waren es die Väter Europas, Konrad Adenauer, Robert Schuman, Alcide de Gaspari, Jean Monnet, Paul-Henri Spaak und manche andere, die politische Visionen und politischen Ehrgeiz hatten. Zu diesen Pionieren zählen auch noch François Mitterand und Helmut Kohl. Es war das traditionelle Ziel gerade der deutsch-französischen Zusammenarbeit, das „Schwungrad“ der europäischen Integration zu sein. Dieses Schwungrad hat sich verlangsamt. In einem Aufruf „Reveillons l´Europe“ heißt es mahnend, dass die großen Fortschritte die Frucht lange zurückliegender Entscheidungen auf europäischer Ebene seien und alle Reden, die den Gedanken einer Wertegemeinschaft und einer gemeinsamen Bestimmung der europäischen Staaten heraufbeschwören, gleichzeitig verbergen, dass Europa seit Jahren ein Patient sei, der an krankhafter Mattigkeit leide. Insgesamt dreizehn Persönlichkeiten, die mit dem europäischen Prozess engstens verbunden sind, unter ihnen Jacques Delors, Helmut Kohl und Jacques Santer, haben diese Diagnose gestellt. Der Schlusssatz des Aufrufs vom Herbst 2002 lautet: Europa schläft. Wecken wir es auf. Warum kommt ein solcher Aufruf nicht von den jetzt Verantwortlichen? Es sollten sich wieder Staatsmänner finden, die diese Gedanken beherzt und andere motivierend nach vorne tragen.

Zu einem Weckruf gehört gewiss die Forderung nach starken Institutionen, nach einem wirklichen Schritt vorwärts, der zu einer Überwindung der Nationalstaaten führt, zu einer Sichtweise, die über die Vertiefung der Integration und den „acquis communitaire“ hinausgeht. Dazu gehört aber auch über den Appell an den Leib das Ansprechen der Seele. Auch eine gemeinsame Währung garantiert nicht einfach den Aufbruch. Einen solchen kann es nur geben, wenn es gelingt, dem wirtschaftlichen Fortschritt und dem sozialen Zusammenhalt eine tatkräftige Unterstützung zu geben. Was wir brauchen, sind nicht Europäer, die eine gemeinsame Währung nur benutzen, sondern wir brauchen den „europafähigen“ Menschen, einen „mündigen“ Bürger. Der auch in Deutschland immer wieder zitierte mündige Bürger ist ein solcher, der nicht staatlich gelenkt ist, sondern im Maß des Möglichen selbstverantwortlich handelt.

Auch wenn die Tendenz zu einer Individualisierung des Gewissens und der Überzeugungen nicht zu übersehen ist, so ist auch nicht zu übersehen, dass trotz der gelegentlich zu beobachtenden abnehmenden Bindung der Menschen an eine Konfession oder eine Kirche den Menschen die sinnstiftende Dimension der Kirchen wichtig bleibt. Die Reaktion vieler Menschen nach dem 11. September 2001 ist nur ein Beispiel dafür. Die Kirchen sind es auch, die dazu beitragen können, den Werteüberzeugungen zu mehr Vitalität zu verhelfen. Werteüberzeugungen brauchen konkrete Vorbilder. Der christliche Glaube ist dafür nach wie vor die größte Stütze für das zusammenwachsende Europa. Die Kirchen sind traditionelle und zukunftsweisende, sinnstiftende Institutionen.

Besondere Bedeutung erlangen die Werteüberzeugungen auch für die Länder, die am 1. Mai 2004 der Europäischen Union beigetreten sind. Es genügt nicht, die Einhaltung des „acquis communitaire“ von ihnen zu verlangen. Es muss sichergestellt werden, dass diese Länder sich mit ihrem vielfältigen kulturellen und religiösen Leben in der Europäischen Union aufgehoben fühlen können. Gelingt es nicht, eine Vitalisierung der Werteüberzeugungen zu erreichen, so wird die Erweiterung der Union eine müde Geschichte sein und die oft beklagte Mattigkeit Europas vielleicht eher noch verschlimmern.

Wir sehen manchmal im Westen und im Osten Europas überwiegend die Probleme der Assoziation aus der ökonomischen und vielleicht auch politischen Perspektive. Wir sind durch die jahrzehntelange Trennung Europas in Folge des Eisernen Vorhangs auch zu sehr gewohnt, „Europa“ weitgehend mit Westeuropa zu identifizieren. Es war immer schon eine ungelöste Aufgabe neben den westlichen und südlichen Kulturen, neben dem griechischen und lateinischen, germanischen und sogar arabischen Kulturbeitrag die viel höhere Bedeutung der osteuropäischen Geschichte, ja des slawischen Erbes in Europa gebührend in Rechnung zu stellen. Ich habe den Eindruck, dass wir auch 15 Jahre nach der Aufhebung der kommunistischen Diktaturen in dieser Hinsicht, mindestens in unseren Köpfen, diese tiefe Zusammengehörigkeit noch nicht genügend rezipiert haben. Das westliche Europa, besonders in den Grenzen der Europäischen Union, muss bescheiden zur Kenntnis nehmen, dass es sich nicht als eine in der Substanz vollständige Größe begreifen darf, zu der einfach nur andere hinzukommen. Im Übrigen haben wir ja auch in der westlichen Kirche ähnliche Probleme. Darum hat Papst Johannes Paul II., der hier wirklich auch als ein Pole mit der geistigen, historischen und gesellschaftlichen Erfahrung dieses Landes spricht, bei seinen Äußerungen zu Europa immer wieder von den beiden Lungenflügeln in Ost und West gesprochen. Dies hat eine ganz besondere Bedeutung, auch im Blick auf den Ort und die Bedeutung Europas in der Welt. Wir spüren dies nicht nur seit dem 11. September 2001.

Auch um die eigene Rolle in der Welt erfüllen zu können, bedarf Europa einer inneren Festigung. Die Werte, die Europa zu bieten hat, sind Ergebnis der Kulturgeschichte Europas, die über die Jahrhunderte hart erkämpft wurden. Sie sind auch heute ständigen Anfechtungen ausgesetzt und müssen immer wieder neu entdeckt, erneuert und nach vorne verteidigt werden. Wenn sie hinausgetragen werden sollen in die Weltgemeinschaft, in der es Bestrebungen zur Realisierung dieser Werte, aber auch mannigfaltige Rückschläge gibt, so ist die erste Voraussetzung ein glaubwürdiger Einsatz für sie und die überzeugende Darstellung dieser Werte nach innen. Die Prinzipien der Menschenrechte, der sozialen Gerechtigkeit, der Solidarität, der Freiheit und des Friedens müssen für eine eigene staatliche und gesellschaftliche Ordnung Europas unter neuen Bedingungen entwickelt und angewendet werden. Die Entwicklung einer neuen Sensibilität und Erfahrung europäischer Zusammengehörigkeit ist unerlässlich. Solidarität und Zusammengehörigkeitsgefühl sind aber nicht durch Aufrufe oder eine vordergründige Europabegeisterung zu erreichen.

Wir bedürfen also für alle Aufgaben der Gemeinschaft einer gemeinsamen Werteüberzeugung. Wie kann eine solche gefunden werden? Genauso wie jeder einzelne Staat kann Europa diese Werteüberzeugung nicht allein aus sich heraus schaffen. Um so mehr aber stellt sich die Frage: Wo sind die Kräfte verwurzelt, die dieser abstrakten Gesellschaft jene Substanz vor allem in ethischer Hinsicht geben, welche diese Gesellschaft konkret-geschichtlich trägt? Von woher haben Staat und Gesellschaft jene Fundamentalüberzeugungen vom Sinn menschlichen Zusammenlebens? Der moderne Staat kann sie nicht erzeugen, da er seine weltanschauliche Neutralität aufgeben müsste. Hier ist an das bekannte Wort des Staatsrechtslehrers Ernst-Wolfgang Böckenförde zu erinnern: Der säkularisierte Staat und die moderne Gesellschaft leben von Voraussetzungen, die sie nicht selber garantieren können, auf die sie aber elementar angewiesen sind. Es kommt damit auf jene gemeinsamen Rechtsgüter, Grundsätze und Überzeugungen an, die den Menschenrechten und Grundrechten vorausliegen und diese erst begründen. Das Christentum steht an der Wiege vieler solcher Grundwerte, die – wie immer ihr letzter Kern begründet wird - eine universal vermittelbare und mit der menschlichen Vernunft vollziehbare Einladung bzw. Verpflichtung für alle darstellen.

Jacques Delors, überzeugter Katholik und Sozialist, bezeichnete es 1992 in seiner Eigenschaft als Präsident der Europäischen Kommission vor allem als eine Aufgabe der Kirchen, dazu beizutragen, das von ihm aufgedeckte und bedauerte „moralische Defizit“ in Europa zu überwinden. Er hat auf das Fehlen einer kräftigen sozialen Dimension, auf die Umwelt- und Wissenschaftspolitik hingewiesen und auf die großen bioethischen Fragen. Er sagte: „Wenn es uns nicht gelingt, unserem Kontinent wieder eine ‚Seele‘ zu geben, verlieren wir den Kampf um Europa – denn mehr denn je werden wir mit ethischen und politischen Fragen konfrontiert. Hierbei spielen Kirche und Religion eine wesentliche Rolle.“ Der bisherige Präsident Romano Prodi denkt ähnlich.

Nicht vergessen werden sollte auch, dass die Gründerväter Europas gerade keine Bürokraten und Technokraten waren. Sie waren erfahrene Politiker, die das Ohr am Puls der Zeit und der Menschen hatten. Sie waren vor allem auch überzeugte Christen und daher den religiösen Wurzeln Europas verhaftet. Sie stellten bei ihren Überlegungen die Bürger in den Vordergrund. Jean Monnet sagte dazu: „Nicht Staaten vereinigen wir, sondern Menschen“. Und er gab einen Hinweis, der gerade für ein Europa am Scheideweg sehr aktuell ist. Er sagte: „Wenn ich noch einmal anfangen könnte, würde ich mit der Kultur anfangen.“ Alfred Grosser, der als europäischer Denker, als Nichtkirchenmitglied und doch Sympathisant für die Rolle der Kirche einen Namen hat, drückte es so aus: „Nicht das Wort Europa ist notwendigerweise bedeutsam für das Aufbauen eines Europa, das wir uns wünschen, sondern eine ethische Grundeinstellung, die von Gläubigen und Ungläubigen zusammengebracht wird. Hierbei fällt den Kirchen eine enorme Rolle zu, nämlich zu stimulieren, damit aus dem Christentum das Beste für das Gemeinwohl der gesamten Gemeinschaft gemacht wird“.

Damit die Kirchen diese Rolle auch wahrnehmen können, brauchen sie einen Freiraum, den der Staat nicht einengen darf. Nur ein solcher Freiraum ermöglicht den Kirchen, ihren Beitrag zum sozialen Miteinander zu leisten und die Beteiligung des Einzelnen und kleiner Gruppen zu aktivieren. Darum ist es so wichtig, die Kirchen nicht einfach als Teil der Zivilgesellschaft oder als Nichtregierungsorganisationen zu betrachten, wie es derzeit auf europäischer Ebene oft geschieht. Die Kirchen sind keine Organisationen im Sinne von so genannten NROs (oder NGOs), die die Interessen ihrer Mitglieder bündeln, um sie wirkungsvoller in die Politik einzubringen. Die Kirchen handeln in Erfüllung ihres eigenen Auftrags, der ihnen vom Evangelium - im Gebot der Nächstenliebe und im Eintreten für die Gerechtigkeit - aufgegeben ist. In diesem Sinne ist der Status der Kirchen in Europa wesentlich, so wie er auch seine Anerkennung gefunden hat in der so genannten „Kirchenerklärung“ zum Amsterdamer Vertrag, die in den Verfassungsentwurf eingegangen ist (vgl. I-52). Darin bekennt sich die Europäische Union zum geistig-religiösen Erbe und anerkennt den Status der Kirchen nach den Regelungen in den einzelnen Mitgliedstaaten an. Daraus folgt dann die wichtige Bestimmung: „Die Union pflegt in Anerkennung der Identität und des besonderen Beitrags dieser Kirchen und Gemeinschaften einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog mit ihnen.“ (I-52, Abs. 3) Diese Bewertung gilt es beizubehalten und zu festigen.

Zur Zeit erleben wir die Welt in einem großen Umbruch. Auch die Europäische Union steht an einem Scheideweg. Die Gefahren, die von außen drohen, ebenso wie drängende Fragen, wie sie sich zur Zeit auf europäischer Ebene am Beispiel der Bioethik oder der Zuwanderung oder der sozialen Rechte der Arbeitnehmer stellen, verlangen nach einer Antwort.

Wir müssen fragen, wie die ökonomisch erfolgreiche, europäische, westliche Gesellschaft ihre kulturelle Apathie überwinden kann. Angesichts der Notwendigkeit der Integration eines Europa, das nicht homogen, sondern von kulturellen Verschiedenheiten geprägt ist, können gerade die Kirchen zur intensivieren Europäisierung der Europäischen Union beitragen; und zwar, indem sie z.B. ihre traditionelle, im Glauben gründende Option gerade auch für die „Modernisierungsverlierer“ wahrnehmen, indem sie zivilgesellschaftliche Ressourcen fördern und sie grundlegende sozialethische Diskurse über eine gerechte Wirtschaft, politische Partizipation und kulturelle Integrität einfordern.

Es darf auch keine europäische Dominanz auf Kosten regionaler Identität geben. Brüssel darf nicht zu einer großen Planierraupe werden, welche die regionale Eigenheiten niederwalzt. Die da und dort bestehende Einheitsbesessenheit darf nicht ungeniert an der Vielheit der Sprachen sowie der Denk- und Lebensformen Europas vorbeigehen.

Wir dürfen aber nicht nur auf Europa selbst schauen. Dies hat es auch in seiner Geschichte kaum so vollzogen (vgl. dazu G. Schulz, Europa und der Globus, Stuttgart 2001). Europa muss möglichst bald seine weltweite Verantwortung gegenüber den Armen, den Entwicklungsländern, dem Hunger, der Schuldenlast, vielfältiger Ungerechtigkeit und Bedrohung der Schöpfung unter Beweis stellen.

Die Kirchen müssen in diesem Zusammenhang Fehlentwicklungen viel stärker entgegensteuern und eine Europa-Mentalität fördern, die auch seiner globalen Verantwortung mehr und mehr entspricht. Dies geschieht auf der einen Seite durch einen intensiven Einsatz zu Gunsten der Menschen in den Ländern der Dritten Welt. Aber es gibt auch eine regionale Zusammenarbeit vor allem im Bereich von Ausgleich und Versöhnung zwischen den Staaten, die sich im letzten Jahrhundert in mörderischen Kriegen feindlich gegenüberstanden und oft weitgehend zerstört haben. So gibt es Neuanfänge schon sehr früh, ja noch während des Zweiten Weltkrieges im Westen, z. B. als der französische Bischof P.M. Théas von Lourdes im März 1945 einen Gebetsaufruf für den Frieden und zur Versöhnung mit den Deutschen initiierte, woraus übrigens die Pax-Christi-Bewegung als Internationale Katholische Friedensbewegung hervorging, die heute in über 50 Ländern der Welt eindrucksvoll tätig ist. Diesen Bemühungen muss die Aussöhnung mit unseren östlichen und südost-europäischen Nachbarländern hinzugesellt werden. Ich brauche hier nicht den langen Weg der deutsch-polnischen Versöhnung nachzuzeichnen, der den berühmten Briefwechsel zwischen dem deutschen und dem polnischen Episkopat am Ende dese Zweiten Vatikanischen Konzils zu einem Höhepunkt führte. Ähnliches ist auch zwischen der Tschechoslowakischen bzw. Tschechischen und der Deutschen Bischofskonferenz besonders in der Wendezeit 1989/90 geschehen.

Der Blick muss jedoch auch darüber hinaus gehen. Hier ging es um Ausgleich und Versöhnung zwischen den Nationen. Dies ist und bleibt eine wichtige Ebene. Aber es gibt eine Kooperation über die nationalen Grenzen hinweg, die sich in der Region vollzieht. Wir haben heute viele solcher langsam wachsender Regionen, die in einem begrenzten Bereich Brücken zu den Nachbarstaaten schlagen. In Westeuropa brauche ich nur die Verbindungen zwischen Frankreich bzw. Elsass, Basel und der gesamten Schweiz sowie Deutschland bzw. Erzbistum Freiburg zu nennen. Aber auch das Zusammentreffen von Deutschland, Belgien, Holland und Luxemburg schafft eine enge regionale Zusammenarbeit im Raum Aachen-Lüttich.

Bevor die kirchliche Dimension genauer erläutert wird, bedarf es jedoch eines kleinen Exkurses über die Bedeutung des so genannten Regionalismus im Zusammenhang der europäischen Einigung. Man hat nicht selten, besonders von zentralistischer Warte aus, die Betonung der Regionen als sekundär erachtet. Gewiss gibt es einen etwas nostalgischen Regionalismus, der sich gegenüber dem Zusammenwachsen eines größeren Europa in die provinzielle Übersichtlichkeit zurückziehen möchte. Dies wäre letztlich nur ein Kompensationsphänomen, das einen emotionalen Ausgleich schaffen will gegenüber den Modernisierungsvorgängen auf der europäischen Gesamtebene. Dies ist kein empfehlenswerter Weg. Aber es verbirgt sich dahinter die Sorge um den Erhalt der überschaubaren Lebenswelten gegenüber der Abstraktheit großräumiger Gebilde in der europäischen Gesellschaft. Aber dies ist noch nicht genug. Wir leben in einer wachsenden zivilisatorischen Komplexität, in der es auf der einen Seite den Bedarf an gewissen zentralen Steuerungskapazitäten gibt, auf der anderen Seite wächst aber auch der Anteil zivilisatorischer Lebensbedingungen, die mit einer zentralen Regulation nicht mehr erreichbar sind. Deshalb muss man Zentrale und Region immer zusammensehen. Der Zentralstaat allein kann nicht der Maßstab schlechthin bleiben. In hochentwickelten Industriegesellschaften muss viel stärker auf die regionalen Besonderheiten Rücksicht genommen werden. Dies hat zur Konsequenz, dass Absprachen und Vereinbarungen im regionalen Bereich einer wirksamen Selbstorganisation der Beteiligten vielversprechender sind als bloß zentralstaatliche Maßnahmen. Es gibt also in diesem Sinne entgegen allem romantischem Regionalismus eine mit der Moderne zusammenhängende Tendenz zu Regionalisierung und Föderalisierung, ohne die ein neues großes Europa gar nicht leben könnte. Dies hat auch zur Konsequenz, dass innerhalb Europas neue Formen zwischenstaatlicher Beziehungen entstehen. Es gibt auch heute schon eine beträchtliche Praxis der Kooperation regionaler Gebietskörperschaften über Staatsgrenzen hinweg. Wir können auch gut erkennen, dass solche Grundsätze heute ebenso die Kommunalpolitik mitbestimmen.

In diesen regionalen Zusammenschlüssen haben die Kirchen eine wichtige Rolle. Einmal gab es immer schon in historischer Perspektive viele Brückenschläge über die nationalen Grenzen hinweg. Dies hängt damit zusammen, dass wir trotz nationaler Bestimmtheit auch der Kirchen insgesamt in eine umfassende Weltkirche eingebettet sind. Wir müssen also neben den großen, wirklich nationalen Kooperationsvorgängen neue Formen der Zusammenarbeit in diesem überschaubaren regionalen Bereich erkennen und fördern.

Es ist für die europäische Zukunft wichtig, dass gerade in Bereichen, in denen früher oft heftige Auseinandersetzungen und militärische Konflikte vorherrschend waren, wie z.B. in Oberschlesien im Blick auf Deutschland, Polen und Tschechien, aber auch hier im Dreiecksverhältnis von Deutschland, Belgien und den Niederlanden um Aachen neue regionale Gemeinschaften wirksam geworden sind.

Darin sehe ich wichtige Perspektiven für die Christen und die Kirchen im Blick auf die Zukunft eines neuen Europa. In diesem Licht kann es dann auch gelingen, noch offene Fragen zu bewältigen, wie z.B. die endgültige Gestalt der Verfassung und die Rezeption in den einzelnen Ländern, aber auch die Frage nach dem Verhältnis zur Türkei und auch zu den übrigen außereuropäischen Nachbarn. Es besteht kein Zweifel, dass damit alte und zugleich neue Fragen der Identität Europas angesprochen sind, die freilich hier nicht mehr erläutert werden können.

(c) Karl Kardinal Lehmann

Es gilt das gesprochene Wort

Das Original-Redemanuskript enthält noch eine Reihe von Fußnoten und Anmerkungen

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz