Zu den auffallenden Phänomenen im sozialen Bereich unseres Landes gehört die rasante Vermehrung der sogenannten Tafeln, also der Speisung bedürftiger Menschen, wenigstens zur Mittagszeit. Es hat 1993 in Berlin angefangen. Aus den Vereinigten Staaten hörte und lernte man von der Versorgung vor allem der Obdachlosen mit Lebensmitteln. Was Supermärkte und Kaufhäuser abgeben, weil es ihre Kunden nicht verspeisen oder einfach nicht kaufen mögen, ging an die Tafeln.
Mit Armenspeisung in kleinen Suppenküchen, die es immer wieder und schon lange gab, hat dies dem Umfang nach nicht mehr viel zu tun. Man nimmt an, dass 14 Millionen Menschen in unserem Land als arm bezeichnet werden können, so schwierig auch die Armutsdefinition ist. Dies wären ungefähr 15 % der Bevölkerung. Nur so kann man auch verstehen, warum die Zahlen derer, die an der Tafel essen, geradezu dramatisch gestiegen sind. So werden z. B. in der 82.000 Einwohner großen Stadt Worms 3.000 Menschen an der Tafel versorgt. Dabei sind manche andere Hilfsaktionen, wie z. B. „Brotkorb", nicht mitgerechnet. Nicht zu vergessen sind auch die Speisungen von Kindern, wo es freilich auch im Zusammenhang der Essensausgabe zu weiteren Hilfen kommt, etwa bei der Erledigung der Hausaufgaben.
Manche sind schnell fertig mit der Beurteilung dieser Entwicklung. Sie meinen, das Heer der Drückeberger und der Abzocker, die es auch in diesem Bereich gibt, würde zunehmen. Gewiss werden einige darunter sein, die die Gelegenheit, umsonst an Essen heranzukommen, nützen. Aber es sind ja nicht nur die Obdachlosen und die wirklich Armen, die es immer gab, Es ist kein Zweifel - was viele Untersuchungen bestätigen -, dass der Mittelstand sich in unserer Gesellschaft ausdünnt. Manche wandern nach oben zu den gut Begüterten, manche rutschen aber ab in die Zone der Hartz-IV-Empfänger. Jeder Achte, so kann man lesen, sei von Armut bedroht. Dabei finde ich besonders schlimm, dass diese Armut in steigendem Maß nicht zuletzt ältere Menschen betrifft.
Es gibt nicht wenige, die dieses Phänomen wachsender Armut in Schichten, die bisher weniger betroffen waren, nicht so recht wahrhaben wollen. Dazu muss man auch wissen, dass an den Tafeln die Bezugsberechtigung für das kostenlose Essen kontrolliert wird, indem man verschiedene amtliche Bescheinigungen einfordert. Man darf sich auch nicht damit begnügen zu sagen: Redet nicht so viel von Armut und von den Schwierigkeiten des Sozialstaates. Die Hungerleider haben ja etwas zu essen. Die Gesellschaft sorgt ja für sie, gewiss auf ganz unterschiedliche Weise. Gerne verweist man auf die uralte Bereitschaft der Menschen, den Bedürftigen ein Almosen zu geben.
Aber damit ist es selbstverständlich nicht getan. Gewiss muss man die Ursachen und die Motive dieser neuen Armut, die über viele eingebrochen ist, sorgfältig und objektiv untersuchen. Missbräuche, die es zweifellos gibt, müssen abgestellt werden; sie sind aber offensichtlich nicht so zahlreich, wie man denken könnte. Wenn gesicherte Ergebnisse vorliegen, wird man sich auch fragen müssen, welche sozialpolitischen Maßnahmen von staatlicher Seite getroffen werden müssen.
Viele Menschen recht unterschiedlicher Einstellung wirken an der Organisation der Tafeln mit, nicht zuletzt auch viele Handelskonzerne und Supermärkte. Die Hälfte der Tafeln wird von den Kirchen organisiert. Damit erfüllen sie - mit vielen, die oft in säkularem Gewand zur Hilfe bereit sind, - eine tiefe und alte biblische Weisung: Brich dem Hungernden sein Brot. Auch wenn wir noch so viele politische Maßnahmen ergreifen, so gilt doch immer Jesu Wort: Arme habt ihr immer bei euch. (vgl. Mt 26,11) Aber zur Botschaft Jesu gehört eben auch grundlegend das Wort, das Jesus vom Propheten Jesaja übernimmt: „Er (der Herr) hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe." (Lk 4,18)
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von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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