Ich freue mich, dass wir auch hier in Mainz einen Hospiz- und Palliativtag machen, der unter vielfacher Kooperation steht (vgl. Programm). Wir haben unmittelbar nachher einen Vortrag von Herrn Dr. Martin Weber, dem wir sehr viel gerade auch für die Hospizarbeit in Mainz, in jüngster Zeit aber besonders für die Palliativstation im Universitäts-Klinikum verdanken. Am Nachmittag können wir in sieben Workshops viele Probleme mit kompetenten Ärzten, Therapeuten, Pflegern und Schwestern sowie auch Sozialpädagogen besprechen. Dies ist der Grund, warum ich in meinem Referat nun nicht die Probleme der viel erörterten „Sterbehilfe“ und auch der Patientenverfügung behandeln möchte. Die ethischen Entscheidungen am Ende des Lebens werden auch von Herrn Dr. Weber und in den Workshops eingehend und vor allem kompetent behandelt. So lasse ich meine bisherigen Ausführungen zur diesem Thema, die ich anderswo vorgetragen habe, beiseite und konzentriere mich heute vor allem auf das Verständnis von Leid und Schmerz. Am Ende werde ich in einigen Thesen auch nochmals näher an unser Thema heranführen.
Unsere Wahrnehmungsfähigkeit für das Leid ist im Begriff abzunehmen. Man kann das Leid und das Leiden jedoch nicht einfach völlig narkotisieren. Es stellt sich die Frage, ob nicht der Schmerz zum menschlichen Leben und Reifen gehört. Ein griechisches Sprichwort lautet: „pathei mathos“, „durch Leiden lernen wir“. Aber damit beginnt auch bereits eine unter Umständen sehr fragwürdige Sinngebung und Rechtfertigung des Leidens. Die Erfahrung von Leid und die Frage nach der Ursache und dem Sinn des Leids gehören zu den Grunderfahrungen und Grundfragen der Menschheit. Auch der Glaube und die Theologie werden - schon im Alten Testament - erbarmungslos vor diese Frage gestellt: Wie kann Gott das zulassen? Jeder Versuch einer Rechtfertigung Gottes vor dem Bösen, also jede Theodizee, endet fast immer mit dem umgekehrten Ergebnis, dass Gott selbst vor Gericht gestellt wird. Für den Gottesglauben ballen sich alle Fragen, die das Leid der Menschen in der Welt aufgibt, in der quälenden Frage zusammen: Leiden - wie kann Gott dies gerade am Unschuldigen zulassen?
Es ist nicht möglich, diese Frage ausreichend oder gar erschöpfend im Rahmen eines Vortrags zu beantworten. Aber ich will wenigstens einen Anlauf zum Verstehen versuchen. Oft ist es bei unbegreiflichem Leid besser, wenn wir still und solidarisch beim Leidenden bleiben und nicht flüchten, vielmehr mit anderen, vornehmlich den Ärzten, Schwestern und Pflegern, aber auch den Familienangehörigen standhalten. Aber ganz schweigen dürfen wir gegenüber den vielen Fragen auch nicht. So möchte ich zwischen Krankenhaus und Pastoral, Medizin und Theologie, Universität und Seelsorge, zwischen Hospiz und Alltag einen solchen Versuch wagen, der auch in anderer Hinsicht einen Brückenbau darstellen könnte zwischen vielem, was uns sonst im täglichen Leben trennt. Auch im Glauben wollen wir auf unsere Weise teilnehmen an einer umfassenden Therapie, an der ganzheitlichen Sorge um den Weg und das Los der Menschen. Dabei darf die Frage nach dem Leiden und dem Leid nicht fehlen.
Bevor wir uns Gedanken machen über „Gott und das Leid“, wollen wir zugleich eine schon kurz genannte Realität menschlichen Lebens und Erlebens ins Auge fassen, nämlich unsere Flucht vor dem Leid.
Wer den Blick nur fröhlich in die Zukunft wendet, kümmert sich wenig um die Ruinen und Trümmer um ihn herum. Wer denkt an die vergessenen Opfer auf dem Weg zum „Fortschritt“? Unter uns fehlt oft die Sensibilität für das Leiden. Diese Blindheit äußert sich in der Wahrnehmungsunfähigkeit gegen das eigene und gegen das fremde Leid. Wer stumpfsinnig das Leiden über sich ergehen lässt, steht in Gefahr, das Auszeichnende der menschlichen Natur einzubüßen: das Ringen mit dem Widrigen, den Widerstand gegen die Faktizität, das Arbeiten an sich selbst. Wie wir uns relativ leicht durch Mittel der Betäubung und vor allem der Sucht physische Leiden ersparen können, so drängen wir auch seelische und soziale Schmerzen zurück. Je mehr wir gesättigt sind, umso mehr steigert sich die Apathie. „Es ist zu fragen, was aus einer Gesellschaft wird, in der bestimmte Formen von Leiden kostenlos vermieden werden..., in der die als unerträglich erkannte Ehe rasch und glatt gelöst wird, in der nach der Ehescheidung keine Narben bleiben, in der die Beziehungen der Generationen möglichst rasch, konfliktfrei und spurenlos abgelöst werden, in der die Trauerzeiten vernünftig kurz sind, in der die Behinderten und Kranken schnell aus dem Hause und die Toten schnell aus dem Gedächtnis kommen. Wenn sich die Auswechslung von Partnern nach dem Modell Verkauf des alten und Ankauf eines neuen Autos vollzieht, dann bleiben die Erfahrungen, die in der missglückten Beziehung gemacht wurden, unproduktiv. Aus Leiden wird nichts gelernt und ist nichts zu lernen“ (D. Sölle).
Unzureichende theologische Antworten
Für den Christen gehört, wie noch genauer zu zeigen sein wird, das Leiden mitten in das Bild Gottes. Darum konnte es in der Gestalt des gekreuzigten und auferstandenen Herrn zu einem Ort der Hoffnung werden. Weil auch das Leiden noch Ort und Quelle des Trostes und der Kraft, des Lebens und der Liebe sein konnte, gab es nicht zuletzt in auswegloser Situation noch so etwas wie Fügung und Ergebung in das Leid. Gerade hier setzt jedoch der Streit um die christliche Bewältigung des Leidens ein. Nicht zuletzt das Judentum mit seiner messianischen Hoffnung auf eine nur endzeitliche Erlösung vom Bösen hat - gläubig oder eher in so genannten „säkularisierten“ Formen - hier Einspruch erhoben.
Darf man so rasch sagen, im Grunde wäre seit Jesus Christus alles Leid der Welt schon erlöst? Kommt hier nicht immer wieder die Anklage, eine solche Antwort, die das Leid der Toten und das bittere Unrecht überfliege, sei ein Zynismus angesichts der Opfer? Muss hier nicht der Verdacht entstehen, als würde nur wohlfeiler Trost in einem gleichgültigen Jenseits angeboten? In der Tat wird für die christliche Rede vom Leiden hier ein tiefe Besinnung notwendig. Wir haben zu wenig bedacht, wie sehr konkretes Leid Glauben und Hoffnung abnützt. Noch problematischer ist aber jener Versuch einer „Erklärung“ des Leidens, der allen von Kindheit an vertraut ist: Das Übel in der Welt kann dadurch gerechtfertigt werden, dass es insgeheim einem „höheren Ziel“ dient. Wir wissen als Christen oft leicht zuviel vom Sinn des Leidens, z.B. dass es der Läuterung und Bewährung dient, dass es als Sündenstrafe gerecht und gut ist, dass es von der Barmherzigkeit des ermahnenden Gottes kommt, dass es ein Erweis des Schicksalszusammenhangs der Ursünde ist. Schließlich hat ein stoisch geprägter Vorsehungsglaube zutiefst unsere Auffassung vom Sinn des Leidens geprägt: In der notwendigen Stufenordnung der Welt muss das Einzelne der Vollkommenheit des gegliederten Ganzen dienen. Die Schönheit des Ganzen ergibt sich aus seinen Gegensätzen und Widersprüchen.
Verstärkte Zweifel
Wir stocken heute vor diesem Gedanken an eine „höhere Harmonie“ als Erklärungsgrund für das Böse und das Leiden in der Welt. Uns ist der Gedanke einer bergenden Einladung des Einzelnen in das kosmisch geordnete Ganze und darin Notwendige unheimlich geworden. Wir empfinden eine solche Erklärung des Leidens als rationalistisch und harmonistisch. Es gibt einen theologischen Missbrauch mit dem menschlichen Leiden, den wir heute tausendfach bezahlen müssen: Leid kommt aus Gottes Hand; die Wurzel der Krankheit ist die Sünde; volle Gesundheit besteht erst im Reich Gottes; Leiden ist eine einzigartige Gelegenheit, innerlich zu reifen; das Leid ist die sublime Erziehung Gottes für den störrischen Menschen. Man denke nur an manche Aufforderung zur „Leidenswilligkeit“, zur bedingungslosen Unterwerfung, ja zu einer masochistischen Lust am Leiden.
Eine solche theologische Bewältigung des Leidens stößt heute umso mehr auf Widerspruch, weil die Theologie in einer merkwürdigen Zurückhaltung nicht jene Unterscheidung grundlegend durchgeführt hat zwischen solchen Leiden, die wir mindern oder vermeiden, und solchen Leiden, die wir weder verursachen noch beenden können. Was problematisch geworden ist, ist nicht der Versuch einer persönlichen und existenziellen Sinnerhellung des Leidens, wie sie Menschen immer wieder für sich - ob geglückt oder eher verfehlt - versuchen, sondern die nachträgliche, theologische Systematisierung, die unweigerlich den Eindruck erweckt, sie habe keinen Respekt und im Grunde auch nur ein abstraktes Mitleid vor dem Schmerz. Darum zerbrechen diese abstrakten Rechtfertigungsversuche auch immer wieder an den konkreten Erfahrungen.
Das Zerbrechen jeder „höheren Harmonie“
Es gibt gerade in dieser Hinsicht in den letzten hundert Jahren Bestreitungen theologischer Erklärungsversuche, an denen keine Besinnung über das Leiden vorbeigehen kann. Gemeint ist vor allem jenes Leid, in dem die Betroffenen nichts mehr lernen können, sondern viel eher verstummen.
F.M. Dostojewskij hat in „Die Brüder Karamasow“ die möglichen Antworten auf diese Herausforderung im Dialog zwischen den beiden Brüdern unter der Überschrift „Die Empörung“ dargestellt. Iwan spricht vom Leiden unschuldiger Kinder. „Von allen übrigen Tränen der Menschen, von denen die ganze Erde von ihrer Rinde bis zum Mittelpunkt durchtränkt ist, davon will ich kein Wort reden... Nach meinem euklidischen Verstande weiß ich nur eins, dass nämlich Leiden existieren, ohne dass es Schuldige gibt.“ Die übliche Deutung, dass diese Leiden durch eine „höhere Harmonie“ gerechtfertigt seien, will Iwan nicht annehmen. „Einen gar zu hohen Preis hat man auf die Harmonie gesetzt, meine Tasche erlaubt es mir durchaus nicht, so hohen Eintrittspreis zu zahlen. Daher beeile ich mich auch, meine Eintrittskarte zurückzugeben... Nicht, dass ich Gott nicht gelten lasse, Aljoscha, aber ehrerbietigst gebe ich ihm die Eintrittskarte zurück.“ Iwan will nicht der Empörer sein, aber das Leiden der Unschuldigen führt ihn - Ungläubige um der Liebe willen, wie andere Gestalten Dostojewskijs - zur Anklage und Rebellion. Aljoscha hört sich stumm die Zeugnisse des Protests gegen die Barmherzigkeit Gottes an, kann nur auf Jesus Christus verweisen und küsst dem Empörer Iwan schweigend die Lippen.
S. Freud schreibt an den ihm befreundeten Pfarrer Oskar Pfister: „Und endlich - lassen Sie mich einmal unhöflich werden - wie zum Teufel bringen Sie alles, was wir in der Welt erleben und zu erwarten haben, mit ihrem Postulat einer sittlichen Weltordnung zusammen? Darauf bin ich neugierig - aber Sie brauchen nicht zu antworten“. Immer wieder erhebt sich dieselbe Frage, z.B. bei W. Borchert: „Warst Du in Stalingrad lieb, lieber Gott, warst Du da lieb, wie? Ja, wann warst Du eigentlich lieb, Gott, wann? Wann hast Du Dich jemals um uns gekümmert?“ S. Weil schließt sich - wie viele andere - Iwans Rede in den Karamasows an: „Was man mir auch bieten könnte, um die Träne eines Kindes aufzuwiegen, es gibt nichts, das mich veranlassen kann, diese Träne hinzunehmen. Nichts, gar nichts, das die menschliche Vernunft ersinnen könnte.“ Reinhold Schneider hat es über die Leiden des unschuldigen Menschen hinaus das stumme Leid der nichtmenschlichen Kreatur angetan. Im „Winter in Wien“ steigert er gelegentlich diese Erfahrung bis in das Grotesk-Absurde: „Das Phänomen 'Leben'. Die Gottesanbeterin hat den Kopf des Männchens verspeist und sättigt sich nun am Vorderleib, während der Hinterleib sie begattet. (Welche Versklavung aller Kreatur! Blutdurst der Tanzfliegen zur Begattungszeit.)“.
Papst Benedikt XVI. hat ähnliche Fragen öffentlich formuliert, als er am 28. Mai 2006 Auschwitz besuchte: „Wo war Gott in jenen Tagen? Warum hat er geschwiegen? Wie konnte er dieses Übermaß von Zerstörung, diesen Triumph des Bösen, dulden?“
Verzicht und Grenze theologischer „Erklärungen“
Vor diesen Zeugnissen und den tausendfältigen Erfahrungen des unbekannten und ungenannten Leidens, das in einer ihm eigenen Form von Sprachlosigkeit sich uns meist entzieht, ist es notwendig, dass der Theologe sparsamer wird mit jeder „Deutung“ von Leid. Auf alle Fälle muss man auf eine pauschale „Gesamtlösung“ verzichten. Es gibt sicher einen allgemeinen Zusammenhang zwischen dem menschlichen Leidenmüssen und der Sünde, zwischen der Urverfehlung des Menschen und dem unausweichlichen Unheil. Der Einzelne kann in seiner Leiderfahrung um eine eigentümliche Verflechtung seiner Situation mit der Geschichte der Sünde und um die Verstrickung in Schuld wissen, die ihn überschreitet. In der Klage und im Fluch, in der Anklage und in der Bitte des Betroffenen kann dies zum Ausdruck kommen. Aber die von außen „erklärende“ Rede kommt beim konkreten, leidenden Menschen an eine unübersteigbare Grenze. Die globale Theorie kann - so wahr sie sein mag - hier nicht in jedem Einzelfall ihre Richtigkeit nachweisen. Die Theologie wird sich darum hüten, von jedem einzelnen Geschehnis und Ereignis menschlichen Leids eine theologische Deutung zu haben, als ob hier oder dort mit Sicherheit Gott strafend, demütigend, erniedrigend am Werke wäre. Der leidverursachende Gott, wie er gelegentlich in der Theologie - nicht zuletzt auch der Reformation - beschworen wird, trägt manchmal sadistische Züge, sodass es kein Wunder ist, dass ein solcher Gott vor den Fragen des leidenden Menschen nicht bestehen kann, nicht nur vor Iwan Karamasow und Albert Camus.
Leid und Tod als unaustilgbarer Stachel
Der christliche Glaube braucht bei dieser Antwort nicht schlechthin stehen zu bleiben. Sparsamkeit in der Deutung des Leids ist kein Verzicht auf die verborgene Kraft dessen, was der Christ im Leid erfahren kann und darum auch sagen muss. Immer ist noch die Frage „Warum leide ich?“, wie G. Büchner sagt, „der Fels des Atheismus“. Wer alles Menschengemachte zu entzaubern weiß, wird auch nüchtern gegenüber seinen eigenen Antworten. J. Habermas hat im Blick auf die von Th.W. Adorno unbeirrt festgehaltene Idee einer universalen Versöhnung darauf hingewiesen, diese habe zuletzt ihren Grund „im Bedürfnis der Tröstung und der Zuversicht angesichts des Todes, das die inständigste Kritik nicht erfüllen kann. Dieser Schmerz ist ohne Theologie untröstlich“. Auch E. Bloch weiß, dass der Tod als der „letzte Feind“ des Menschen „jenes gewisseste Empirikum, schlagendste Metaphysikum“, „die härteste Gegenutopie“ ist. Der Glaube wird ob solcher „Bekenntnisse“ nicht triumphieren und sich in unreifer Weise überlegen geben, wenn er inmitten des Leidens noch Hoffnung sieht.
Die entscheidende Wahl
Das Christentum ist die Religion, welche dem Menschen keinen Glücksgott anbietet, der ihn das Dunkel des Leidens vergessen lässt. Religion wird in der Tat nicht zuletzt aus der Sehnsucht nach der Überwindung des menschlichen Leidens geboren, aber nicht selten wählt sie den Weg einer trügerischen Verniedlichung von Leid und Tod, hält den harten Druck menschlicher Hoffnungslosigkeit nicht aus, sondern flieht feige und vorschnell in eine bessere Welt. Es war das gläubige Israel, das den Tod nicht mythologisch verklärt hat, wie in den Religionen der Nachbarvölker, sondern es hat ihn aus der Tiefe des Göttvertrauens nüchtern angenommen. Darum gehört auch und - wie wir sehen werden - erst recht zum christlichen Glauben zunächst der Mut zur Erkenntnis des Leidens. Dies schließt, sieht man ihm ins Auge, auch die Teilnahme und das Mit-Leiden ein. Wo soviel Verdrängung und Apathie, Flucht und Verweigerung vor dem Leiden erfolgt, ist eine solche Solidarität und Sympathie (ursprünglich: Miterfahren, Mitleiden) schon mehr als nur ein Anfang. Oft stoßen wir im Leid ohnehin an Grenzen, die sich kaum überschreiten lassen. Die einzige Form des Mitleidens besteht dann darin, den unsäglichen Schmerz der Leidenden mit ihnen - vielleicht wortlos - zu teilen, sie nicht in ihrer Einsamkeit zu lassen und wenigstens ihren Schrei zu vernehmen. Schlechthin „fremdes“ Leid darf es für den Menschen nicht geben.
Der Gott der Verlorenen
Darum darf der Christ nie das Leid rhetorisch abschwächen. Es ist noch kein Zeichen des Glaubens, wenn man am falschen Ort und in unangemessener Weise von ewigem Frieden, von Gottes Gnade und von unvergänglichem Leben spricht. Vielmehr ist es überhaupt die erste Aufgabe des Christen, der berechtigten Trauer die gläubige Sprache zu geben. Sicher ist es die vornehmste Pflicht des Christen, die Partei alles Schwachen und Niedrigen, Wehrlosen und Missratenen zu übernehmen. Gott wird das geknickte Rohr nicht zerbrechen und den glimmenden Docht nicht auslöschen (vgl. Jesaja 42,3) - allen Grundsätzen der Selektion zuwider. Nirgendwo kann deutlicher erwiesen werden, dass dieser Gott nicht nur ein Gott der Starken und Erfolgreichen ist, dass er sich vielmehr im Leid als derjenige zeigt, den Jesus verkündigt hat: der Vater der Verlorenen. Er steht auf der Seite der Kleinen, Kranken, Armen, Verfolgten, Unterpriviligierten, Unterdrückten und der stumm Leidenden. Dieser Gott fordert freilich auch den Verzicht auf jene falsche Vertröstung in einem Leiden, das durch den Menschen gemindert oder gar beseitigt werden kann. Jede Rede von einem möglichen „Sinn des Leidens“ wird an der Wurzel unglaubwürdig, wenn nicht das vermeidbare Leiden in allen Bereichen und mit den geeigneten Mitteln bekämpft wird.
Kein fremdes Leid
Wir müssen von Grund auf immer wieder lernen, dass es kein fremdes Leid gibt. Einen solchen Satz kann man nur in sehr bedingter Weise begründen. Wer nicht vom Leid betroffen ist, nimmt die Rolle des neutralen Zuschauers oder den Standpunkt des Pilatus ein, der sich die Hände in Unschuld wäscht. Leid erzeugt, mit einer Spur von Menschlichkeit und Brüderlichkeit betrachtet, Mitleid. Wo immer Leiden ist, da geht es dich an. Wir wollen uns jedoch nichts vormachen: In der Situation des Leidens kann der Mensch noch schlimmer als das triebgehetzte Tier werden, das seinem Artgenossen den letzten Brocken wegfrisst und ihn vielleicht sogar tötet. Der Kampf ums Überleben stellt den Menschen in die letzte und rücksichtsloseste Vereinzelung. Aber es gibt gerade bei einfachen und armen Menschen eine entgegengesetzte Erfahrung: Die gemeinsames Leid erlitten haben und heute noch erleiden, sie teilen nicht selten das Letzte und Äußerste miteinander. So bleibt es dennoch wahr: Es gibt kein fremdes Leid. Dieser Satz ist keine „Tatsache“, sondern er wird uns aus dem innersten Geheimnis des Menschseins und des christlichen Glaubens zugemutet. Und wir werden einmal danach gefragt und abgewogen werden, ob wir zu denen gehörten, die Leid verursacht, die es gemindert oder die es apathisch ignoriert haben. „Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig oder obdachlos oder nackt oder im Gefängnis gesehen und haben dir nicht geholfen?“ (Matthäus 25,44)
Die einzige Antwort: Blick auf Jesus
Die letzte und im Grunde einzige Antwort auf das Leiden der Welt kann der Christ nur geben, indem er auf Jesus von Nazareth, die Leidensgestalt des Messias und damit auf das Kreuz zeigt. Auch Gott hat in Jesus Christus das menschliche Leid nicht „erklärt“, sondern als der völlig Schuldlose hat er das Unvermeidliche übernommen und bis zum bitteren Ende durchlitten. Gerade der Tod Jesu lässt sich nicht mystifizieren. Das Kreuz Jesu ist am allerwenigsten eine theologische Erfindung, sondern die tausendfach gegebene Antwort der Welt auf die Botschaft der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens. Darum können sich die unschuldig Leidenden in Jesu Sterben und in seinem Kreuz wiedererkennen. Die Machthaber lösen oder um-gehen ihre Konflikte auf seinem Rücken, die Landsknechte aller Zeiten lassen ihre Wut und ihren Sadismus am Unschuldig-Wehrlosen spielen - Verhaltensweisen, die auch wir gegenüber Unterlegenen leicht benutzen.
Das vielfältige Kreuz
So ist es auch zu verstehen, dass zu allen Zeiten Glaubende und Nichtglaubende ihren Schmerz in das Leiden Jesu Christi hineingelesen und ihr unbegreifliches Leid in seine Passion hineingezeichnet haben. Wir sehen es an den Pestkreuzen, in die der Künstler einst die Not der von dieser Seuche befallenen Menschen in den pestblauen und pestschwarzen Leib des gemarterten Jesus hineingelegt hat. Wir sehen es heute an erschütternden Kruzifixen, die aus den Händen von Gefolterten aus den Gefängnissen Südamerikas kommen: Am Kreuz hängt ein Jesus Christus, dessen Leib und Antlitz unverkennbar von der Folter gezeichnet ist. Die christliche Frömmigkeit und die christliche Kunst haben - besser als alle Theologie - diesen stellvertretenden Leidensweg des Schmerzensmannes immer wieder in den vierzehn Stationen des Kreuzweges durchbetet und durchwacht und dabei die Stätte der Erlösung auch für ihr eigenes Leiden gefunden.
Stark genug für die Leidensfracht der Welt
Man kann sich streiten, ob das Leiden und der Tod Jesu das äußerste Maß an Brutalität und Grausamkeit darstellen. Vielleicht ist die Kunst des Menschen, sich am Schmerz seines Bruders zu weiden, in ihren Fertigkeiten noch längst nicht an ihr Ende gekommen. Aber für den Glaubenden ist es gewiss, dass das Leiden und der Tod Jesu gerade durch die Gottnähe dieses Gemarterten auf eine äußerste Probe gestellt wurden. Der Schrei der Gottverlassenheit zeigt, wie nahe die Erfahrung der Sinnlosigkeit dem Geheimnis dieses Todes ist: absolut alleingelassen von dem, auf dessen Hilfe er alles gesetzt hatte.
Alles war - menschlich erfahren und gesprochen - umsonst. Kein Mensch kann angesichts der Aussichtslosigkeit und der Ohnmacht dieses Todes erfinden, dass das Zeichen eines gehenkten Verbrechers Heil und Sinn in sich bieten könnte, genauso wenig wie die sinnlosen Katastrophen und Tode, die wir erfahren. Der Christ glaubt - daran hängt allerdings alles -, dass Jesus von Nazareth nicht in diesem absurden Tod geblieben ist, sondern dass Gott diesen Tod vollendet hat, indem er seinen gerechten Zeugen auch durch das äußerste Leid hindurch gehalten hat. Und wie man in der letzten Ohnmacht ein solches Licht sich nicht selbst anzünden kann, so kann „Sinn im Leid“ nicht von uns produziert, sondern kann uns nur im Glauben geschenkt werden. Nur weil Gott Jesus rettet und ihn ein für alle Mal der Macht des Todes entnimmt, gibt es einen letzten Ausweg und einen verborgenen Sinn in dieser Katastrophe. „Das Leid ist unabweislich und zwingt zu Gott. [Stimmt dies?, so möchte man an dieser Stelle eine Zwischenfrage stellen.] Aber der Mensch erfindet den Namen Gottes nicht; Gott muss ihn nennen. Der Mensch erfindet auch das Zeichen nicht, das alles Leid trägt; Gott muss es selber errichten, das einzige Zeichen, das stark genug ist für die Leidensfracht der Welt, weil es für Gottes Leiden und Sterben gefügt ist. Keines steht fester in der Wirklichkeit; es ist die Antwort auf die unausweichliche Not des 'Staubgeschlechts'“ (Reinhold Schneider).
Bedingungen eines „Sinnes“ im Leiden
Es gibt freilich - was wir oft vergessen haben – auch im christlichen Leben keine automatische Sinngebung des Leids. Der Sieg des Kreuzes bleibt immer verborgen, und der Auferstandene behält ewig seine Wundmale. Man kann dem Leiden nicht „Sinn“ wie ein Warenetikett christlicher Marke anheften. Darum darf es im Bereich des Christlichen auch keine Leidverklärung geben. Die Sinnhaftigkeit des Leidens kann uns erst bedeutet werden, wenn wir uns in festem Glauben und unerschütterlichem Vertrauen auf Gott als letzte Wirklichkeit unseres Lebens eingelassen haben. Darum öffnet sich der „Sinn“ des Leidens nicht von selbst, sondern man kann ihn nur im Ringen mit Gott, im Schrei der Klage, unter Seufzen, manchmal widerwillig und am Ende vielleicht in der Tat äußerster Ergebung empfangen. Wir späte Erben einer Kultur, die das Geheimnis der Tränen und die Notwendigkeit der Klage vergessen hat, verstehen so wenig vom Leiden und von seinem Trost, weil wir auch nicht mehr aus der Tiefe unseres Herzens zu Gott schreien können. Auch dies gehört zur Apathie unseres Lebens.
Gott und das Leid
Damit kommen wir vor das Geheimnis Gottes selbst. Im Leiden verhüllt sich Gott. In der Betrachtung des Geschickes Jesu Christi wandelt sich für uns auch das Bild Gottes, das wir uns von ihm gemacht haben. Er ist nicht der unbeeindruckbare Gott, der in seliger Unberührbarkeit und fern allen menschlichen Leidens über den Himmeln thront. Der Vater Jesu Christi ist kein teilnahmsloser Gott, der allen Leidens enthoben ist. Gegen einen Gott, der in ungestörter Glückseligkeit waltet und herrscht, kann der Mensch Protest einlegen. Gegen den Gott, der seine Teilnahme am Leid der Welt geoffenbart und in Jesus Christus sein konkretes Mit-Leiden erwiesen hat, wird es schwieriger, sich durch eine Revolte zu erheben und „Rechtfertigung“ zu verlangen. Gott ist auf der Seite der Opfer, sein getreuester Bote und Sohn wird gehenkt. Die Meditation seines Kreuzes soll uns dahin führen, dass die Macht Gottes in der vergebenden und hingebenden Kraft der Liebe seines nächsten Gesandten besteht.
Unbegreifliches Leid auch in Gott
Darüber könnte noch vieles gesagt werden. Die heutige Theologie spricht viel vom gekreuzigten Gott. Sie ist davon überzeugt, dass die Ernstnahme des Leidens in Gott eine „Revolution des Gottesverständnisses“ (J.Moltmann) bedeutet. Der Weg zu fragwürdiger Spekulation ist auch hier nicht weit. Rasch und gekonnt konstruiert man eine dialektisch zwischen Gott und Gott, dem Vater und dem Sohn, sich ereignende innergöttliche Leidensgeschichte. Wird man aber dem Leiden Gottes gerecht, wenn man in die Liebe Gottes eine eherne Notwendigkeit zum Kreuz hineinliest? Bedeutet es nicht mehr zu sagen, dass die Liebe Gottes des Kreuzes nicht bedarf, dass aber die reale Liebe Gottes in dieser Welt - durch den Ernst seiner Zuwendung und die Grausamkeit des menschlichen Verhaltens - an das Kreuz kommt? Ohne krampfhafte spekulative Zwänge wird das Erbarmen Gottes größer, und Leid bleibt Leid. Wahre Theologie muss auch hier und heute gegen solche Versuchungen zu einer „höheren Harmonie“ einen Riegel vorschieben.
Gegenwärtiges und zukünftiges Heil im Leiden
Das Leiden zeigt eine letzte Dimension christlichen Glaubens an: Wer leidet, kann sich nicht nur mit dem fernen und künftigen Gott zufrieden geben. „Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft muss auch in den jetzt leidenden Subjekten als Gegenwart, als Trost festgemacht sein: Gott muss auch im Elend für den Menschen gedacht werden, die Wahrheit auch der jetzt nichts ausrichtenden Liebe bleibt darin gewiss“ (D. Sölle). Ein Gott, der nicht unmittelbar helfend, rettend, heilverwirklichend eingreift, ist als reiner Trost der Zukunft und ohne alle Gegenwart selbst hilflos. Der Glaube sagt im Leiden, dass Gott uns liebt, auch wenn jetzt (noch) nichts davon sichtbar ist. „Jetzt ist der Tag des Heiles“ (2 Kor 6,7) - dies gilt gerade im Leiden. Nur darum gibt es mitten im leidvollen Streit den Frieden, mitten im Leiden eine geheimnisvolle und freilich äußerst verletzliche Gestalt der Freude, nur darum gibt es in der Ohnmacht des Leidens und der Schmerzen das Affirmative, das Lob Gottes, den Gesang der Jünglinge im Feuerofen, den Psalm der Todgeweihten im Konzentrationslager. „Gottes Liebe bewahrt nicht vor allem Leid. Sie bewahrt aber in allem Leid“ (H. Küng).
In der Gegenwart hebt an, was erst im Reich Gottes seine Vollendung finden kann. Darum ist dies die tiefste Aussage, welche die christliche Theologie mit der letzten Schrift des Neuen Testaments machen kann: „Gott selbst wird als ihr Gott bei ihnen (den leidgeprüften Menschen) sein. Er wird jede Träne aus ihren Augen wischen: Der Tod wird nicht mehr sein, nicht Trauer noch Klage noch Mühsal. Denn die alte Welt ist vergangen.“ (Offb. 21,3f).
Die Rettung des Leidens
Jedes Wort zur Sinndeutung des Leidens bleibt zwielichtig und zweideutig, wie selten sonst in der Theologie. Freilich, manchmal bedarf es innerhalb und außerhalb des Christlichen gerade des Wortes, damit die stummen Schreie der Leidenden hörbar gemacht werden. Dies ist nicht nur der Auftrag des Theologen, sondern gerade heute z.B. auch des Dichters und Schriftstellers. Ich erinnere nur an die Widmung, die Alexander Solschenizyn dem ersten Band seines „Archipel Gulag“ vorangestellt hat:
„All jenen gewidmet,
die nicht genug Leben hatten,
um dies zu erzählen.
Sie mögen mir verzeihen,
dass ich nicht alles gesehen,
nicht an alles mich erinnert,
nicht alles erraten habe.“
Die theologische Rede von Leid und Leiden muss noch einen Schritt weiter gehen in der Begrenzung dessen, was sie leisten kann. Was sie sagt, muss sie auch dadurch wahrmachen, dass sie das Verkündigte tut. Darum müssen Jesu Christi Freunde bei den Leidenden sein. Wenn es wahr ist, dass einer des anderen Last tragen soll, kann sich keiner dem Ruf aus dem Leiden zur Hilfe entziehen.
Das Leid am Ende des Lebens
Dieses Leid kann sich am Ende des Lebens ungewöhnlich steigern. Im Sinne des eingangs Gesagten will ich dazu nur thesenartig einige knapp formulierte Gesichtspunkte beitragen:
1. Das Leid und der Schmerz gehören zum endlichen, unvollkommenen, durch Schuld und Sünde gebrochenen Menschen. Wir können sie nie einfach ein für allemal besiegen. Darum darf der Mensch in der Erfahrung des Leidens und Sterbens bei allem Schmerz nicht total verzweifeln oder nur trotzig aufbegehren.
2. Wir müssen uns mit dem Leiden auseinandersetzen und es menschlich bestehen. Wir können an ihm vollends zerbrechen, es kann uns aber auch heilsam reinigen.
3. Alles Leid, das den Menschen trifft, soll und muss, soweit es nur möglich ist, gemindert werden. Wir haben aber nicht das Recht, dabei unser Leben selbstmächtig zu beenden. Wenn palliative Maßnahmen, bei denen die Sinne sowie auch das Denken und Wollen gedämpft werden, durchgeführt werden müssen, darf der Sterbeprozess nicht beschleunigt werden, sodass daraus eine Art aktiver Sterbehilfe wird oder man in ihre Nähe kommt.
4. Wir dürfen – wie oben gesagt - mit vielen Mitteln die Schmerzen lindern, aber nicht aktiv das Leben beenden. Hier verläuft bei allen differenzierten Erfahrungen im Raum von Leben und Tod zwischen Sterbenlassen und Töten eine grundsätzliche Grenze. „Du sollst nicht töten“ ist ein unbedingtes Gebot.
5. Die Hospizarbeit und die Palliativmedizin sind in dieser schwierigen Aufgabe heute die wichtigsten Hilfen, die das Gesagte in eindrucksvoller Weise umsetzen.
6. Wenn wir nicht diese Hilfen, Wege und Mittel in ethisch zulässiger Weise einsetzen, können wir den Druck in Richtung einer aktiven Sterbehilfe kaum aufhalten.
7. In der Einsamkeit der Sterbenden bezeugen Menschen, die dabeibleiben, helfen und aushalten, bei allen medizinischen Möglichkeiten die geschwisterliche, kreatürliche und tief menschliche Solidarität, die wir alle einmal brauchen.
Dann brauchen wir kein falsches Mitleid, sondern teilen durch menschliche und christliche Hilfe das Mit-Leiden.
(c) Karl Kardinal Lehmann
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz