Der wahre Skandal

Kleine Nachlese zur Böhmer-Debatte

Datum:
Dienstag, 4. März 2008

Kleine Nachlese zur Böhmer-Debatte

Gastkommentar in der Mainzer Kirchenzeitung "Glaube und Leben" (März 2008)

Der Streit um die Äußerungen von Ministerpräsident Prof. Dr. Wolfgang Böhmer (Sachsen-Anhalt) scheint nach einigen Tagen heftiger Debatten, die bis zu Rücktrittsforderungen gingen, im Archiv zu landen, wie es bei solchen leidenschaftlichen Auseinandersetzungen nicht selten geschieht.

Ich lasse hier offen, wie weit Ministerpräsident Böhmer bei den ersten Äußerungen Missverständnisse ausgelöst hat. Jedenfalls hat er sich bei den Frauen und Müttern mit einer DDR-Biografie entschuldigt, für die seine Äußerungen über Kindstötungen in keiner Weise zutreffen. Schließlich müsste das ausführliche Interview, das er mit Chefredakteur Thomas Schmid von der WELT bereits am 28.2. 2008 auf einer ganzen Seite geführt hat, im Blick auf das Ausräumen von Missverständnissen und Verletzungen wirklich genügen. Hier hat sich Böhmer von allen pauschalen Äußerungen überzeugend distanziert.

Wenn bestimmte politische Gruppierungen dennoch - es gibt ja noch weitere Präzisierungen - auf einem Rücktritt bestehen, lässt dies aufhorchen. Denn mindestens die Frage muss man zulassen, woher es denn kommt, dass in den neuen Bundesländern die Zahl der Kindstötungen viermal größer ist als in der übrigen Bundesrepublik. Der Medizinprofessor Wolfgang Böhmer hat immerhin in Görlitz und Wittenberg 30.000 Kindern bei der Geburt den Eintritt in unsere Welt miterleichtert und weiß, wovon er spricht.

Nachdem Ministerpräsident Böhmer jeden simplen Zusammenhang zwischen der höheren Zahl von Kindstötungen im Osten mit einer leichtfertigeren Einstellung aufgrund der DDR-Abtreibungspraxis zum ungeborenen Kind mit Hinweis auf die vielen Ursachen und das komplexe Gesamtgebilde zurückgewiesen hat, bleiben nachdenkliche Fragen. Er glaubt nicht an die Allmacht ausschließlich sozialer Ursachen, so wenig er diesen Druck übersieht. Er hat den Mut festzustellen: „Es gibt offensichtlich einen Zusammenhang zwischen christlichem Glauben und Achtung vor dem werdenden Leben."

Erschreckend an der Debatte ist im Nachhinein gesehen weniger das entstandene Missverständnis, das man ja rasch ausräumen konnte, sondern im Hintergrund vieler Teilnehmer der mehr oder weniger deutliche Unwille, überhaupt über die Würde und den Schutz des ungeborenen Kindes neu bzw. wieder zu diskutieren. Dies gilt nicht nur und zuerst für die Situation in den neuen Bundesländern, sondern für die ganze Republik. Wie das beklagenswerte Faktum der Spätabtreibungen und Versuche, sie zu verhindern oder wenigstens zu reduzieren, zeigt, gibt es eine Menge Leute, die auf keinen Fall eine Wiederaufnahme der Diskussion um den Lebensschutz des ungeborenen Kindes dulden wollen. Sie fürchten offensichtlich einen solchen Streit wie der Teufel das Weihwasser.

Man hat wohl aus der jahrelangen Debatte um die Abtreibung vieles vergessen. Schließlich ist die Tötung des ungeborenen Kindes nach unserer Verfassung „rechtswidrig", wenn sie auch unter bestimmten Voraussetzungen straffrei bleibt. Immer war die Sorge, dass diese grundsätzliche Aussage der Rechtswidrigkeit in der öffentlichen Debatte  und noch mehr im gesellschaftlichen Bewusstsein zwar folgenlos zugestanden wird, aber faktisch auf der Strecke bleibt. Deshalb hat die katholische Kirche in den vergangenen Jahrzehnten sich nicht einschüchtern lassen, diese Frage immer wieder unüberhörbar in den öffentlichen Raum zu stellen.

Dies ist, bei Licht besehen, der wahre Skandal dieses Streits: Es ist an den Tag gekommen, wie das Bewusstsein für den Lebenswert des ungeborenen Kindes trotz aller begrüßenswerten Hilfen, Eltern mehr Mut zu Kindern zu machen, unverändert schlecht ist, ja sich bei allen Wandlungen sich in bestimmten Dimensionen negativ verfestigt. Dies ist letzen Endes der Grund für den Aufschrei in der Böhmer-Debatte. Gerade deshalb ist sie aber nicht zu Ende. Die Akten dürfen nicht geschlossen werden.

(c) Karl Kardinal Lehmann

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz