Die Bedeutung Karl Rahners für Theologie und Kirche

Datum:
Samstag, 31. Januar 2004

Vortrag anlässlich der Tagung der Katholischen Akademie der Erzdiözese Freiburg „Glauben gibt zu denken", P. Karl Rahner SJ als Lehrer der Kirche, beim Festakt im Historischen Kaufhaus am Münsterplatz in Freiburg am 31. Januar 2004

Ein hundertster Geburtstag hat auch dann Bedeutung, wenn die Jubilare nicht mehr leben. Auf der einen Seite sind wir traurig ob des immer noch spürbaren Verlustes. Auf der anderen Seite wissen wir, dass es auch heute noch ein besonderes Geschenk ist, wenn Menschen 100 Jahre und mehr alt werden dürfen. Aber einen hundertsten Geburtstag feiert man anders, wenn der zu Ehrende ein hohes Alter erreichen durfte und noch gar nicht so lange von uns gegangen ist. Am 5. März feiern wir den hundertsten Geburtstag, am 30. März sind es 20 Jahre, dass Karl Rahner für immer von uns gegangen ist. Aber auch wenn es „nur" 20 Jahre her sind, so leben wir doch in einer gewissen Distanz. Doch ist dies auch eine neue Chance, einen Menschen im Abstand von seinem Tod aus der langsam gewachsenen Distanz heraus in der ganzen Fülle seines Lebens und Wirkens kennen zu lernen.

Gerade wenn man 100 Jahre zurückblickt, kann man an dem Lebensweg nicht einfach vorbeigehen. Die Zeit in der jemand gelebt hat, und die Ereignisse seines Lebens gehören zur Bedeutung eines Menschen, und zwar auch noch für die folgende Generation. Dies gilt gerade für Karl Rahner. Leben und Wirken gehören eng zusammen. So möchte ich die Bedeutung Karl Rahners für Kirche und Theologie gerade in seiner Heimatstadt in doppelter Weise entfalten: Einmal im Blick auf das bleibende Zeugnis seines Lebens und zum anderen als ein Versuch, sein Vermächtnis für uns skizzenhaft, nach Art eines Holzschnitts zu umreißen.

 

I.

Karl Rahner war ein echter Alemanne. Er redete nicht viel und nicht gerne, um so mehr dachte er nach und grübelte. Da ist viel Hintersinn im Spiel. Manchmal auch gepaart mit ein wenig Schwermut, wenn man an die Schicksalsschläge des Lebens denkt. Manchmal freilich kam auch das Pfiffige und Verschmitzte, das auch zum vielfältigen Hintersinn gehört, an den Tag. Karl Rahners Lehrer, Martin Heidegger, nannte es erstmals im „Feldweg" das „Kuinzige" (Martin Heidegger hat im Jahr 1954 in einem Brief an einen ihm Unbekannten Dr. Walter Zluhan das Wort erläutert, vgl. Martin Heidegger, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, 1910-1976 = Gesamtausgabe I,16, Frankfurt 2000, 487.), „Tiefsinn für das Wesenhafte, der im Unscheinbaren erscheint und die Gegensätzlichkeit in allem zu hören Einheit aufhebt, dabei aber stets in Bewegung bleibt".

Karl Rahner sprach nur ungern und ziemlich selten von sich selbst. Später ließ er sich eher das eine oder andere entlocken. Es ist typisch, wie eine der wenigen kurzen autobiographischen Äußerungen lautet: „In aller Reflexion und in aller Planung ist jeder der Geführte, der sich nie einholt. Und wenn ich so sage: Ich bin am 5. März 1904 in Freiburg geboren, war Sohn eines Gymnasialprofessors, wuchs in einem überzeugten, christlichen, katholischen (ohne Enge) Elternhaus auf, dem eine tapfere Mutter mit sieben Kindern das Gepräge gab, empfing die übliche Schulausbildung bis zum Abitur 1922 mit gutem, aber durchaus normalem Erfolg - was weiß ich dann eigentlich selbst von meinen ‚Anfängen‘? Wenig. Und das Wenige schwindet immer mehr in eine schweigende Vergangenheit hinein, verstellt von der Mühe des Alltags. 1922 trat ich in den Jesuitenorden ein. Nach 44 Jahren [im Jahre 1966 geschrieben] weiß man von diesem Anfang auch nur mehr, dass er gut war, dass er mir blieb und ich ihm treu sein durfte." (Selbstzeugnis in: W. E. Böhm (Hg.), Forscher und Gelehrte, Stuttgart 1966, 21. Die alte Rechtschreibung wurde wegen des Zitatcharakters erhalten.) Karl Rahners älterer Bruder Hugo, schon 1968 verstorben, konnte immer wieder mit tiefem Humor und köstlicher Hintergründigkeit von den herzerfrischenden Streichen der Rahner-Buben erzählen. Hugo Rahner, schon einige Jahre früher Jesuit geworden, später ein hervorragender Kenner und Deuter der Väter-Theologie, Neuentdecker des Ignatius von Loyola und feinsinniger Humanist, war sicher nicht ganz ohne Einfluss, als der jüngere Bruder Karl nach seinem Abitur im Jahre 1922 in den Jesuitenorden eintrat. Das Verhältnis der beiden grundverschiedenen, aber einander in Herzlichkeit zugekehrten Brüder hat vor einiger Zeit P. Neufeld näher erhellt (Vgl. A. P. Kustermann - K. H. Neufeld, Gemeinsame Arbeit in brüderlicher Liebe, Stuttgart 1993; K.H. Neufeld, Die Brüder Rahner. Eine Biographie, Freiburg i.Br. 1994, jetzt in 2. Aufl., Freiburg i.Br. 2004.).

Zuerst ging es im Noviziat in Tisis bei Feldkirch in Österreich an die zweijährige geistliche Einübung in die Lebensform eines künftigen Jesuiten. Durch sein ganzes Leben hindurch war Karl Rahner von den Grundelementen ignatianischer Spiritualität geprägt: Gott suchen in allen Dingen, die Erfahrung des immer größeren Gottes („Deus semper maior"), die Wahl in den Exerzitien und überhaupt die „Geistlichen Übungen" des Ignatius von Loyola. Von 1924-1927 studierte er (zuerst noch ein Jahr in Tisis, dann) Philosophie, zunächst in Feldkirch, dann in Pullach bei München. Nach einer im Orden üblichen, zweijährigen Unterbrechung, in der Karl Rahner (u.a. den 1945 von den Nazis hingerichteten Mitbruder Alfred Delp SJ) Latein und Griechisch lehrte, folgte von 1929 bis 1933 das Theologiestudium in Valkenburg (Holland), wo Rahner Lehrer wie den späteren Kardinal Bea und Theologen wie Franz Hürth SJ, Hermann Lange SJ und Karl Prümm SJ hatte. Im Juli 1932 wurde Karl Rahner in St. Michael in München von Kardinal Faulhaber zum Priester geweiht.

In den elf Jahren „ordensüblichen Studiums", wie er selbst gerne abkürzend diese Zeit nennt, erfolgte eine unermüdliche Beschäftigung mit den großen Quellen der klassischen Philosophie und Theologie. Zunächst studierte er freilich gründlich und genau wie wenige andere die Philosophie und Theologie der Schule aus ihren sehr trockenen Handbüchern. Wenn er später gegen diese oft steril und schal gewordene „Schultheologie" polemisierte, so setzt er ihre genaue Kenntnis doch ganz selbstverständlich voraus, was nicht wenige Prüfungskandidaten immer wieder überraschte. Es macht nicht zuletzt das Lebenswerk Karl Rahners aus, dass er die verborgene Dynamik und die innere Kraft aufspürte, die in der Schultheologie als einem gleichsam eingetrockneten Sammelbecken ursprünglich durchaus großer Einzeltraditionen steckte. In diesen verborgenen Jahren hat sich Karl Rahner, wie schon erwähnt, den wirklich großen Quellen der Väter und der Theologen des Mittelalters sowie der großen Mystiker zugewandt. Die ersten Veröffentlichungen zeigen dies ganz deutlich.

Schon früh war Karl Rahner dazu bestimmt worden, in seinem Orden Geschichte der Philosophie in Pullach bei München zu lehren. Darum wurde er nach Abschluss seiner theologischen Studien mit P. Johannes B. Lotz SJ in seine Heimatstadt Freiburg geschickt, wo er das Glück hatte, Martin Heidegger als anregenden Lehrer zu finden. Entscheidend dabei waren weniger zu lernende Einzelinhalte als vielmehr die Einübung in das strenge Denken und nicht zuletzt auch das sorgfältige Bedenken großer Texte. Neben Martin Heideggers Denken war schon längst Joseph Maréchal wichtig geworden, der belgische Jesuitenphilosoph, der in einem großen fünfbändigen Hauptwerk eine Begegnung der Philosophie des Thomas von Aquin vor allem mit Kant und Fichte eröffnete. Frucht der mehrjährigen Auseinandersetzung Rahners war das 1936 abgeschlossene, erst im Jahr 1939 veröffentlichte und in vielen Sprachen übersetzte Werk „Geist in Welt. Zur Metaphysik der endlichen Erkenntnis bei Thomas von Aquin." (Innsbruck 1939; die zweite Auflage, München 1957, wurde im Auftrag des Verfassers überarbeitet und ergänzt von Johannes Baptist Metz. Vgl. heute im Rahmen von „Karl Rahners Sämtliche Werke" die vorzügliche Neuausgabe von A. Raffelt, Freiburg i.Br. 1996 (Band 2 der Ausgabe); ebenso erschien auch neu herausgegeben und bearbeitet von A. Raffelt, als Band 4 der „Sämtliche Werke" die Neuausgabe von „Hörer des Wortes. Schriften zur Religionsphilosophie und zur Grundlegung der Theologie", Freiburg 1997.)

Es klingt heute wie ein Treppenwitz der neueren Philosophie-Geschichte, 1936 war es jedoch bittere Wahrheit, dass der damalige Inhaber des Freiburger Konkordats-Lehrstuhls für Philosophie, Martin Honecker, diese Arbeit nicht zuletzt wegen ihres überwiegend systematischen, zu wenig historischen Charakters der Thomas-Interpretation und möglicherweise auch wegen der vermuteten Nähe zu Heideggers Denken nicht als Dissertation angenommen hat. Karl Rahner interessierte sich in der Tat weniger für die einzelnen Verästelungen des thomanischen Denkens in historischer Absicht, sondern überließ sich ganz dem Gewicht und der Dynamik der Grundgedanken des Thomas, die er frisch und relativ unbekümmert sachlich weiterentwickelte.

Nicht aus diesem Grund, sondern vielmehr wegen Personalschwierigkeiten wurde Karl Rahner von seinen Ordensoberen für Lehraufgaben in der dogmatischen Theologie bestimmt und noch im selben Jahr an der Universität Innsbruck mit einer Abhandlung über die Ekklesiologie der Kirchenväter zum Doktor der Theologie promoviert. Die nicht sehr umfangreiche Abhandlung (135 Seiten) ist eine exegesegeschichtliche Arbeit zu Joh 19,34: Der Ursprung der Kirche als zweiter Eva aus der Seite Christi, des zweiten Adam. Die Arbeit ist früher nie gedruckt worden (Vgl. jetzt „E Latere Christi" (1036), in: Spiritualität und Theologie der Kirchenväter = Sämtliche Werke 3, Freiburg 1999, 3-84, 428-435, 449.). Mit Untersuchungen aus der Geschichte der patristischen Theologie, der Frömmigkeitsgeschichte und der mittelalterlichen Mystik, besonders über Bonaventura, wurde Karl Rahner ein halbes Jahr später für das Fach Dogmatik habilitiert. Die jahrelangen Einzelstudien wurden zu einem Ganzen verbunden. Leider existiert kein Exemplar der auf diese Weise eingereichten Habilitationsschrift, auch nicht im Innsbrucker Rahner-Archiv oder in der dortigen Theologischen Fakultät.

Von 1937 an wirkte Karl Rahner neben seinem Bruder Hugo bis 1964 als Dogmatiker an der Theologischen Fakultät in Innsbruck. Doch war ihm keineswegs eine kontinuierliche Arbeit vergönnt. Die Innsbrucker Theologische Fakultät wurde 1938 nach der deutschen Besetzung Österreichs geschlossen. Von 1939 bis 1944 lebte Karl Rahner in Wien, wo er am Seelsorgeinstitut mitarbeitete: Predigten, Vorträge, Exerzitien, Gutachten. Nach einem kurzen Einsatz in der Seelsorge für Einheimische und Flüchtlinge in Niederbayern lehrte Karl Rahner in Pullach bei München und ab Herbst 1948 (ab Juni 1949 als ordentlicher Professor) wieder in Innsbruck.

Hier hat er die längste Zeit seines Lebens kontinuierlich gelehrt, immer wieder zu erneuten Vertiefungen angesetzt, in Seminaren mit seinen Studenten neue Wege erprobt und über das schon Bekannte hinausgedacht. Lange waren die Innsbrucker dogmatischen Seminare seine theologische Werkstatt, in der mancher später veröffentlichte Gedankengang laut vorgedacht und erprobt wurde, z.B. über den Tod und über das Verhältnis von Weltgeschichte und Heilsgeschichte.

Im Jahr 1964 geht Karl Rahner als Nachfolger Romano Guardinis an die Universität München, übernimmt den Lehrstuhl für Religionsphilosophie und christliche Weltanschauung und baut ein neu zu gründendes Institut auf. Die Übernahme dieses Auftrags, im Rahmen einer Philosophischen Fakultät den Grundsinn des christlichen Glaubens im Horizont neuzeitlichen Denkens zu vermitteln, entsprach einer tiefen Absicht seiner Auffassung von Theologie, die er eigentlich nie alleine um der theologischen Wissenschaft willen betreiben wollte. Der Neubeginn und der ganze Aufenthalt in München waren von der intensiven Mitarbeit am Zweiten Vatikanischen Konzil bestimmt, in gewisser Weise auch durch die starke Inanspruchnahme belastet. Die Zeit der großen fakultätsübergreifenden Veranstaltungen im Sinne eines „studium generale" schien dem Ende entgegenzugehen. Karl Rahner las hier zunächst und vor allem den später veröffentlichten „Grundkurs".

Karl Rahner fühlte sich bei diesem Auftrag angesichts der nach dem Konzil entstandenen innerkirchlichen Situation nicht so recht wohl. Er spürte immer mehr, dass nach dem Abschluss des Konzils eine neue Phase theologischer Arbeit beginnen würde. Seine Wirkmöglichkeiten inmitten einer Theologischen Fakultät waren - ganz abgesehen von der Möglichkeit zur theologischen Ausbildung von Schülern - viel größer. Darum nahm er im Frühjahr 1967, also mit 63 Jahren, den ungewöhnlichen Ruf an die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Münster an, die ihm drei Jahre vorher den Ehrendoktor verliehen hatte, und an der er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1971 wirken sollte.

Karl Rahner wohnte zehn Jahre im „Ruhestand" in München, den er aber in einer großen Vortragstätigkeit und im unermüdlichen Schreiben geradezu unendlich ausschöpfte. Dazwischen gab er mehr oder minder regelmäßige Vorlesungen und Kolloquien an der Hochschule der Jesuiten für Philosophie in München, an der Theologischen Fakultät in Innsbruck und auch bei H. Vorgrimler und J. B. Metz in Münster. Es war jedoch nicht zu übersehen, dass es ihn immer mehr nach Innsbruck zog, wo er seine arbeitsintensivste, am meisten kontinuierliche und letztlich wohl auch fruchtbarste Zeit verbracht hatte. Die Jesuiten statteten ihn mit Räumen für ein heute noch vorhandenes, inzwischen erheblich ausgebautes Rahner-Archiv aus. Nach den schon genannten Jahren des „Ruhestandes" in München zog er im Herbst 1981 nach Innsbruck. Die Vollendung des 80. Lebensjahres brachte große Anerkennung für Karl Rahner. Die Freiburger Katholische Akademie hielt am 11./12. Februar 1984 eine Tagung ab, an der Karl Rahner vom Beginn bis zum Schluss lebhaft und schlagfertig teilnahm. Wie bei so vielen Vorlesungen und Vorträgen der vergangenen Jahrzehnte war das Auditorium Maximum überfüllt. (Vgl. die Dokumentation der Tagung: K. Lehmann (Hg.), Vor dem Geheimnis Gottes den Menschen verstehen. Karl Rahner zum 80. Geburtstag, Freiburg 21984. Dort vor allem die Beiträge von Karl Rahner selbst: Erfahrungen eines katholischen Theologen, 105-119; Nachwort, 136f.) Der 80. Geburtstag selbst wurde in Innsbruck gefeiert. Ein Karl-Rahner-Preis zur Förderung des theologischen Nachwuchses wurde gestiftet.

Die vielen Reisen und Feiern hatten ihn sehr ermüdet. Wie schon öfter hatte sich Karl Rahner bald nach dem 80. Geburtstag zu einem längeren Krankenhausaufenthalt zurückgezogen, in dem er sich erholen und auch wieder neu arbeitsfähig werden wollte. Deshalb waren alle, die ihn besser kannten, über diesen ohnedies geplanten Krankenhausaufenthalt nicht sonderlich erstaunt. Aber sein Zustand hat sich rasch zusehends verschlechtert, so dass er schließlich in die Medizinische Universitätsklinik nach Innsbruck gebracht werden musste. Am Ende kam jede Hilfe zu spät. Kurz vor Mitternacht ist Karl Rahner am Freitag, 30. März 1984, verstorben. In aller Frühe am 31. März meldeten die Nachrichtenagenturen dieses überraschende Hinscheiden. Er ist sanft entschlafen, ohne dass ihm ein langer Leidensweg aufgegeben war. Wenige Tage später hat eine große Trauergemeinde ihn in der Innsbrucker Jesuitenkirche zu Grabe getragen, wo er in der Gruft neben vielen anderen Brüdern aus der Gesellschaft Jesu ruht. Ich selbst durfte das Pontifikal-Reqiuem halten und die Beerdigung vornehmen.

In der Zwischenzeit reifte ein ungeheures Werk heran. Vermutlich sind es nur wenige, die es in seiner ganzen Fülle und in allen Dimensionen überschauen können. Einschließlich der Übersetzungen und Teildrucke kommt man auf weit über 4.000 Publikationen. Die großen Bausteine von Rahners Theologie sind gesammelt in den 16 Bänden „Schriften zur Theologie", deren letzter Band im März 1984 erschien. Eine gewisse Summe seines theologischen Denkens ist im „Grundkurs des Glaubens" gegeben, der seit dem ersten Erscheinen im Jahre 1976 neben Sonderausgaben in vielen Auflagen vorliegt. Die großen theologischen Handbücher, die in aller Welt bekannt sind, verdanken nicht zuletzt ihre Existenz dem tatkräftigen Herausgeber Karl Rahner: Lexikon für Theologie und Kirche, Sacramentum mundi, Herders Theologisches Taschenlexikon, Handbuch der Pastoraltheologie oder Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft. In den „Sämtlichen Werken" füllen allein die Lexikon-Artikel 1956-1973 unter dem Titel „Enzyklopädische Theologie" zwei umfangreiche Bände (SW 17/I-II, Freiburg 2002.). Dazu kommt noch die maßgebliche Mitbegründung der Internationalen Theologischen Zeitschrift „Concilium". Nicht zu vergessen ist die mit Heinrich Schlier begründete Reihe „Quaestiones disputatae". Und auch „Mysterium salutis" ist ohne Karl Rahner kaum denkbar. In der Zwischenzeit erschienen zwölf umfangreiche Bände in der Reihe „Sämtliche Werke", 32 sind bisher vorgesehen. Der Gesellschaft Jesu gebührt Dank für diesen großzügigen und treuen Dienst im Gesamtwerk dieses großen Lehrers.

Ausführlicher durfte von Karl Rahners Leben die Rede sein, zumal es ganz der Theologie und der Kirche sowie seinem Orden gehörte. In der Theologie lassen sich Biographie und Theologie weniger trennen als in anderen Wissenschaften. Bei Karl Rahner gibt es zwischen Lebensgeschichte und theologischer Arbeit eine unauflösliche Einheit.( Eine ausführlichere Darstellung, immer wieder aktualisiert, habe ich versucht in der Einführung „Karl Rahner. Ein Porträt" in: K. Lehmann/A. Raffelt (Hg.), Karl Rahner-Lesebuch, Freiburg i.Br. 2004. 13*-56* (dort auch umfangreiche Literaturangaben), erstmals 1982 unter dem Titel „Rechenschaft des Glaubens". )

 

II.

Im Folgenden sollen nun einige grundlegende und charakteristische Züge der Theologie Karl Rahners hervorgehoben werden, welche wie ein roter Faden alle seine Werke durchziehen.

1. Karl Rahners Theologie hat nicht zuletzt darum soviel Aufnahme und Anerkennung gefunden, weil sie radikal und unbestechlich aus einer großen Glaubenserfahrung lebt. Am Ursprung dieses theologischen Denkens steht bei aller - manchmal von ihm ironisch apostrophierten - „Gelehrsamkeit" und einer ganz ungewöhnlichen philosophischen Begabung eine tiefe Gläubigkeit, die mit einer seltenen Leidenschaft für den unbegreiflichen Gott und einer zwar verhaltenen, aber dafür umso treueren menschlichen Nähe und Güte einhergeht. Aus diesem lebendigen Quellgrund der Erfahrung des immer größeren Gottes schöpft Rahners Theologie stets wieder ihre ganze Dynamik, zerbricht sie immer neu die Käfige unserer Begriffe und findet wieder zurück in eine sie verjüngende Unerschöpflichkeit des Denkens, der Meditation und oft auch der Sprache. Fruchtbar ergänzt sich die philosophische Erfahrung des in den Fernen schweigenden und unnahbaren Gottes mit der christlichen Erfahrung der unsagbaren Nähe seines Geheimnisses in der vergebenden und bergenden Gnade Jesu Christi.

Hier ist so etwas wie die verborgene Mitte von Rahners theologischem Denken. Obgleich diese Theologie zutiefst vom Schicksal menschlicher Endlichkeit, vom Scheitern in dieser Welt und von der Not des Kreuzes weiß, ist sie niemals weltflüchtig geworden. Überall, in allen Situationen des Lebens und auch noch in der Stunde des Todes, ist ein Ort, wo man der unverbrüchlich gültigen Heilszusage Gottes begegnen und sie annehmen kann. Am Grunde dieser Theologie steht die fast unbesiegbare Hoffnung, der Mensch werde und könne sich dieser Einladung Gottes kaum versagen; der bittere Ernst ewigen Heilsverlusts braucht deshalb nicht geleugnet zu werden, sondern unterstreicht nur die Dringlichkeit und Kraft dieser Heilshoffnung. Aus diesem Grunde hat Karl Rahner, ohne je die radikale Mitte entschiedenen Christentums zu verkennen, ein neues Verhältnis zu den Menschen außerhalb der Kirche gewonnen, ja auch zu denen gesucht, die man „Atheisten" nennt. Gerade durch seine Offenheit und Aufrichtigkeit im Glauben ist Rahner ein so zuverlässiger, brüderlich-geschwisterlicher Zeuge und für viele ein unaufdringlicher Begleiter zur Erfüllung ihres Lebenssinnes in Gott geworden. Für unzählige Menschen spricht in seinen Gebeten und Meditationen einer, dem man deshalb Glauben schenken darf, weil er das, wovon er spricht, wirklich erfahren hat und mit seiner eigenen Existenz verbürgt. Unverkrampft und ohne irgendeinen Anflug von Ideologie wird überzeugend dargetan, dass man Gott in allen Dingen finden kann. Dieser Glaube erweist sich darum als im besten Sinne brüderlich-geschwisterlich, weil er alle Fragen des Menschen mutig aufzugreifen bereit ist, sie aufrichtig teilt, wie ein Anwalt vertritt, geduldig durchträgt und keiner wirklichen Not durch Ausflüchte aus dem Weg geht.

2. Diese Brüderlichkeit des Glaubens beschränkt sich nicht auf die Nestwärme derer, die sich immer schon kennen. Sie ist das Gegenteil irgendeiner introvertierten oder exklusiven Frömmigkeit, weil zu ihr im selben Ausmaß das leidenschaftliche Fragen als ein Grundakt dieser Theologie gehört. Weil die Antwort Gottes unser Fragenkönnen stets übersteigt und das harte, nüchterne Bohren den geistig wachen Christen und dem Menschen als solchem eigen sein muss, darum gibt es auch keine Frageverbote und keinen falschen Stolz auf irgendeinen unantastbaren und endgültigen „Besitz" an Erkenntnissen. Dabei geht es freilich nie um ein Denken, das sich am Ende bloß selber sucht oder in sich kreist, um die Attitüde eines leeren „Hinterfragens" oder um eitle Besserwisserei. Rahners Denken ist nie in sich versponnen, sondern öffnet sich immer wieder auf Erfahrung und Verbindlichkeit der Erkenntnis. Keine Frage ist zu „dumm". Alles wird nach möglichen freien Ausblicken abgetastet. Keine Abhandlung entlässt zwar den Leser bei beruhigten Antworten, aber es gibt wohl auch keine, die sich am Ende nur in hohlen, blasierten Fragen erschöpfte. Auch wenn bei manchen Anläufen viel Geröll im Bergwerk der Theologie und ihrer Geschichte in Bewegung gebracht werden muss, immer sind - oft in wenigen kraftvollen Sätzen formuliert - einige Goldkörner an bleibender Einsicht und spiritueller Kraft zu finden. Manchmal muss eine Erkenntnis mühsam erst noch den harten Boden durchstoßen und sich eine Bahn brechen, was sich in langen, verzwickten und immer wieder differenzierenden Sätzen niederschlägt. Nur durch die Leidenschaft dieses substanziellen Fragens lässt sich bei einem Denken von dieser inneren Kraft die Gefahr einer vorschnellen Systematisierung verhüten. „Er ist kühn, indem er stets gemessen und vorsichtig bleibt. Jede Aussage wird geschützt, abgeschirmt, eingegrenzt: Um zu zeigen, dass er den Einwand schon kennt, alles vorgesehen hat, und um in diesen Eingrenzungen zu zeigen, wie vieles andere außerdem noch zu bedenken wäre, wo das jetzt zu Bedenkende dem Leser schon so viel Mühe macht. Und so blitzt es dauernd auch von verborgenem Humor: Er kennt seine Pappenheimer, er ist über ihre Faulheit empört [gemeint sind die Vertreter der Schultheologie] und dann doch wieder nachsichtig mit ihrer Unfähigkeit. Aber keinen Augenblick wird seine Haltung überheblich; sie ist vielmehr von der Unerheblichkeit des Gebotenen überzeugt." (H. U. v. Balthasar, Größe und Last der Theologie heute. Einige grundsätzliche Gedanken zu zwei Aufsatzbänden Karl Rahners, in: Wort und Wahrheit 10 (1955) 531-533, hier 533. Die alte Rechtschreibung wurde wegen des Zitatcharakters erhalten.) Man kann und soll keine Vergleiche wagen, wie z.B. ein „zweiter Paulus", sagt der Heilige Ignatius, aber wird man nicht immer wieder an die umfassende schöpferische Vermittlungskraft eines Augustinus, des Thomas von Aquin und nicht zuletzt auch Hegels erinnert?

3. Eine solche Kühnheit grenzenlosen Fragens kann sich nur leisten, wer zugleich weiß, dass er nicht die Wahrheit hervorbringt, sondern diese bei allem schöpferischen Suchen ihm geschenkt wird. Theologie kann nur das immer neu fragende Bedenken des Wortes sein, das als Bekenntnis und Entscheidung in der Kirche gegeben ist. Insofern ist das, was die Theologie immer neu sucht, immer auch das schon Gefundene, weil die Wahrheit des Menschen als Ganze - im Unterschied zu Teilfragen und partikulären Antworten - immer schon gegeben sein muss. Andernfalls würde sie immer neu in Frage gestellt und müsste immer neu gefunden werden. Gerade wo die Wahrheit ganz und umfassend ist, kann sie am allerwenigsten bloß subjektiv sein. Solche Wahrheit des Glaubens ist damit bei aller personaler Grundstruktur im Letzten der Sphäre des rein Privaten und Beliebigen entzogen und braucht die gemeinschaftliche Kommunikation. Sie braucht darum lebensnotwendig den Dialog. Aber sie bleibt gerade als so verstandene Wahrheit an so etwas wie Institutionalität gebunden. Karl Rahner fürchtet nicht diese enge Zusammengehörigkeit von Wahrheit und Institution, weil er einerseits nicht die wahre Freiheit des Einzelnen scheut, wohl aber der Beliebigkeit der Subjektivität wehrt, anderseits um das Wohltuende der Andersheit und das Rettende der Fremdheit der Wahrheit weiß, welche jedoch nicht bare Unverständlichkeit und reine Faktizität werden dürfen, auf die man sich bloß autoritativ beruft. Dieser unaufhebbare Streit zwischen Wahrheit und Institution hat es Karl Rahner angetan, und dieses Ringen macht zutiefst die neue Kirchlichkeit des Theologen Karl Rahners aus. Hier ist viel Zukunfsträchtiges aufbewahrt und aufgegeben.

4. Karl Rahner scheint für manche ein freischwebender Spekulant zu sein, der sich leicht in unnachvollziehbaren Reflexionsspiralen versteigt. So aber kann nur urteilen, wer nicht den biblischen Wurzelboden, die bleibende Nähe der Menschenwelt und die geschichtsgesättigte Erfahrung Karl Rahners kennt. Er weiß von den Quellen des christlichen Glaubens unendlich viel, aber er blendet nicht in eitler Wissensprahlerei mit einem stets prallen Sack von Gelehrsamkeit. Über 20 Jahre - was oft vergessen wird - hat er unermüdlich über den großen Meistern der christlichen Überlieferung gesessen und gearbeitet. Vieles ist ihm aus der großen Überlieferung des Glaubens zu einem festen Fundus und zu einer beinahe „selbstverständlichen" theologischen Erfahrungssumme geworden. Aber diese oft tief verborgenen, dennoch rasch abrufbaren Erfahrungen und Kenntnisse werden nie zu bloßer Demonstration herangezogen. Dennoch bleibt ihm stets lichthell gegenwärtig, was die theologische Reflexion vor unserer Zeit bereits an gedanklichen Einsichten gefunden hat, die man nicht ungestraft übergeht. Manches ist wie auf dem ruhigeren Meeresgrund dieses Wissens abgelagert und wartet dort, aber blitzschnell ist es bereit, wenn es von irgendwelchen Fragen aufgeweckt, abgerufen und zur Bewährung gestellt wird. Dann tauchen sie auf: Irenaeus, Origenes, die Kappadozier, Augustinus, Thomas von Aquin, Bonaventura, Suarez und nicht zuletzt die großen Mystiker. „Einer der sehr viel historisch und systematisch weiß, aber dem das Wissen höchstens als Wünschelrute dient, um nach den Quellen zu spüren. Oft ist es ein langer, langsam umkreisender Gang, scheinbar unfruchtbar; aber plötzlich zuckt sie, die Rute und sie zuckt unfehlbar. Rahner redet nur, wenn er etwas entdeckt hat." (H. U. v. Balthasar, Größe und Last der Theologie heute. Einige grundsätzliche Gedanken zu zwei Aufsatzbänden Karl Rahners, in: Wort und Wahrheit 10 (1955) 531-533, hier 533. Die alte Rechtschreibung wurde wegen des Zitatcharakters erhalten.)

5. Wer die Theologie auf unbegrenzte Brüderlichkeit bzw. Geschwisterlichkeit im Glauben und konkrete Universalität des Denkens baut, mag eine wahre Einsicht auch nicht für sich und einen elitären Kreis bloß von „Gelehrten" behalten. Das pastorale und praktische Element gehört nicht zu den sekundären Konsequenzen oder „nur" zur nachfolgenden „Anwendung" dieser Theologie, sondern zu ihren elementaren Triebkräften. Sie will auch noch der schlichtesten Gemeinde am Rand des Dschungels und dem einsamen Missionar helfen. Wohl nicht zuletzt darum hat Karl Rahner auf seine Pläne und Möglichkeiten verzichtet, mit seiner enormen Schaffenskraft eine große systematische theologische Summe - vielleicht vergleichbar Karl Barths „Kirchlicher Dogmatik" - zu schreiben, sondern sich der schrecklichen Kärrner-Arbeit gestellt, das theologische Wissen der Zeit für eine größere Öffentlichkeit aufzubereiten. Deswegen steigt Karl Rahner immer wieder gleichsam vom theologischen Olymp herunter, schreibt Briefe an junge Menschen, auch wenn er nicht ihren Jargon spricht, und stellt sich jeder Herausforderung. Auch wenn manches begrifflich schwierig erscheint, so ist es doch eine ganz unelitäre, freilich durchaus anspruchsvolle Theologie des Volkes Gottes. Karl Rahner spürte als Theologe eine hohe soziale Verpflichtung, andere an der Kraft des Glaubens teilnehmen zu lassen.

6. Karl Rahner hatte schon früh, wie bereits erwähnt, ein grundlegendes Interesse für Fragen der Praktischen Theologie. Fundamentale Bedingung für das Gelingen jeder theologischen Anstrengung ist eine sorgfältige Analyse der geschichtlichen Situation von Kirche und Theologie im Rahmen des gegenwärtigen gesellschaftlichen Lebens. So wurden Lebenserfahrung und Glaubensaussage inspirierend, sich gegenseitig befruchtend und kritisch in Beziehung gesetzt. Zwischen Gottes- und Nächstenliebe erblickte Rahner eine zwar unterscheidbare, aber dennoch unauflösliche Interdependenz. In die Mitte von Rahners Denken traten mehr und mehr die Reflexionen und die Verteidigung konkreter menschlicher Freiheit, die er stets auch mit ihren individuell und kollektiv gegebenen Bedrohungen erfasste. Ein Hauptzweck des gesellschaftlichen Dialogs und der Kooperation mit Andersdenkenden sollte die Verständigung über einen gemeinsamen „Humanismus" sein. Dabei hat Karl Rahner die Absolutheit und Einzigartigkeit sowie die universale Bedeutung des Christentums stets aufrechterhalten, wenn es auch - mitbedingt durch eine gelegentlich übersteigerte Form der sogenannten Transzendentaltheologie - einzelne Missverständnisse in Spitzenaussagen geben mag. Letztes Ziel aller Bemühungen war eine radikale Neuorientierung des gesamten menschlichen Verhaltens, die explizit oder implizit („anonym") von der Gnade Gottes angeregt, getragen und vollendet wird. Diese ganzheitliche Umkehr des Menschen erweist sich auch als unverzichtbare Quelle für jede Änderung unmenschlicher Strukturen.

 

III.

Um die Mitte der 60er Jahre hat sich Karl Rahner mit wachsender Intensität den politischen und gesellschaftskritischen Implikationen des Glaubens zugewandt. Dies ist einerseits in seiner eigenen Denkstruktur begründet, die schon im Erstlingswerk „Geist in Welt" um die geschichtlich-gesellschaftliche Verflechtung des Menschen weiß, wurde aber anderseits durch die Auseinandersetzung mit theologischen Entwürfen nach dem Konzil gefördert. Dies gilt z.B. für die Theologie der Befreiung. In Münster hat er sich jedoch noch intensiver mit der „politischen Theologie" seines Schülers und Freundes Johann B. Metz auseinandergesetzt. So kam es - auch angeregt durch die säkularen Ereignisse der späten 60er und der frühen 70er Jahre - zur vertieften und wiederholten Beschäftigung u. a. mit folgenden Themen: Dialog und Toleranz in der pluralistischen Gesellschaft, Ideologie und gesellschaftskritische Funktionen der Kirche, Auseinandersetzung mit dem Atheismus/Marxismus. Viele Ansätze zur Förderung der politischen Kultur stecken in zahlreichen Beiträgen und Interviews der späten Jahre. Rahner scheute sich nicht vor herausfordernden „Einmischungen" in grundlegende Probleme im Zwischenfeld von Kirche und Gesellschaft, wie z.B. Kirche-Judentum-Nationalsozialismus, „Verjährungsfristen", Friedensauftrag, Atomwaffen oder Theologie der Revolution. Politik und Religion zeigten sich für Karl Rahner bei aller grundlegenden Andersartigkeit immer mehr in ihrer schwer auflösbaren Einheit und gegenseitigen Abhängigkeit. Immer wieder forderte Rahner Freiräume, in denen Menschen fähig werden und fähig bleiben zu wirklich freier Entscheidung, und zwar nicht nur im Blick auf Eliten und Privilegierte, sondern für alle. Mit der Konkretisierung dieser Postulate erscheinen auch einzelne alternative Modelle und Aufrufe im Sinne eines „Mutes zum Experiment", wie sie für die kirchliche Dimension z.B. in „Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance" (Freiburg i. Br. 1972.) formuliert wurde.

Karl Rahner hat auf fast allen Gebieten seiner Kirche und der Theologie sehr große Dienste geleistet. Für viele Bereiche ist dies noch nicht ausreichend bearbeitet worden, z.B. für die Ökumene (Vgl. die gesammelten Texte in „Einheit in Vielfalt" (= SW 27), Freiburg i.Br. 2002.), für das Gespräch mit den Naturwissenschaften (Dazu wenig bekannte Zeugnisse in „Verantwortung der Theologie. Im Dialog mit Naturwissenschaften und Gesellschaftstheorie" (= SW 15), Freiburg i.Br. 2001.), für die Theologie der nichtchristlichen Religionen (Zu dem gesamten Komplex vgl. D. Ziebritzki, „Legitime Heilswege" (=Innsbrucker theologische Studien 61), Innsbruck 2002.) und vieles mehr. Wir werden noch lange davon großen Nutzen haben.

Die schon genannte, mit zunehmendem Alter deutlicher werdende Dimension des „Politischen" im weiteren Sinne in Rahners Denken geht einher mit einer zuweilen radikalen Kritik der „bürgerlichen" Gesellschaft und erst recht einer „verbürgerlichten" Religion sowie der „etablierten Parteien". Karl Rahner hat sich dabei jedoch bewusst nie einer politischen Gruppierung verschrieben, so dass auch jede prinzipielle Einordnung seiner Gedanken in Richtung der politischen „Linken" voreilig ist. Eine punktuelle Nähe zu ihr in einzelnen Fragen kann man deswegen selbstverständlich nicht ausschließen. Eine genauere Verhältnisbestimmung dieser Äußerungen ist bis jetzt noch nicht in Angriff genommen, wie überhaupt die Erforschung und Bewertung der sozialethischen, gesellschaftstheoretischen und politischen Dimension von Rahners Denken mit seinen Quellen und seiner Wirkungsgeschichte noch nicht einmal begonnen hat. Es ist selbstverständlich, dass diese Optionen sich etwas mehr von der Mitte der Rahnerschen Theologie entfernen, auch wenn durchaus Verbindungslinien gegeben sind. Ihre Konsequenz ist in der vorgelegten Ausprägung nicht immer zwingend. Karl Rahner wusste auch immer, dass es hier legitime Alternativen gibt. Er hat im übrigen in den letzten Lebensjahren durch solche Äußerungen gewiss neue, vor allem auch junge Freunde gewonnen, aber auch alte verloren.

Karl Rahner ist und bleibt unbeschadet solcher Entwicklungen ein Mann der Kirche. Dies war für ihn auch als Angehöriger der Gesellschaft Jesu nie fraglich, auch wenn er Anfechtungen ausgesetzt war und selbst das kritische Wort in der Kirche ergriff. Ich habe mehrfach dazu Stellung genommen (Vgl. K. Lehmann, Karl Rahner und die Kirche, in: Ders. (Hg.), Vor dem Geheimnis Gottes den Menschen verstehen (Anm. 5), 120-135; ders., Das gelebte Zeugnis: Karl Rahner, in: Dein Reich komme. 89. Deutscher Katholikentag Aachen 10.-14. September 1986. Dokumentation Teil I, Paderborn 1987, 832-842.). Man muss mit Karl Rahners „Zwischenrufen" zur Situation der Kirche nicht immer einverstanden sein, aber niemand kann ihm eine tiefe Liebe zur Kirche absprechen. Überhaupt ist es manchmal beschämend, wie einem der größten Theologen unseres Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet gelegentlich schon der gute Wille abgesprochen wird. Man kann und muss über solche unqualifizierten Äußerungen zur Tagesordnung übergehen. Am meisten widerlegt werden sie durch das Zeugnis vieler Menschen, ja mehrerer Generationen, die auch heute noch Karl Rahner für all das, was er geleistet hat, ein herzliches Vergelt's Gott zurufen. Ich möchte nur ein Zeugnis anführen, nämlich das von Albert Görres: „Karl Rahner hat für unzählige strapazierte Köpfe und wunde Herzen, für Legionen von Kirchengeschädigten und Gottesenttäuschten die helfenden Worte gefunden, die ihnen den verschütteten Zugang zu dem verlorenen Gott, zu seiner Schöpfung voller Fürchterlichkeiten, zur blutigen Geschichte und zu seinem quälenden Evangelium, zu seiner lastenden Kirche wieder geöffnet und liebgemacht haben. Er hat Traurige getröstet, Unwissende belehrt, Irrende zurechtgewiesen und Zweifelnden geraten. Er hat Friedlose auch versöhnt und in alledem das Höchste erreicht, was Psychotherapie nach Freuds Lehre überhaupt erreichen kann: Aussöhnung mit einer unerträglich scheinenden Wirklichkeit, Zustimmung zu allem, was der Zustimmung würdig ist; Auflehnung gegen alles, was nicht hingenommen werden darf." (A. Görres, Wer ist Karl Rahner für mich? - Antwort eines Psychotherapeuten, in: P. Imhof - H. Biallowons, Karl Rahner. Bilder eines Lebens, Freiburg i. Br. - Zürich 1985, 80.)

Es gibt ein tiefes Geheimnis der Fruchtbarkeit eines geistig-schöpferisch wirkenden Menschen nach seinem Tod. Eine Weile mag es so aussehen, als ob das meiste einer vergangenen Zeit angehörte. Aber vielleicht ist dieser Rückzug vom bloß Aktuellen, das Karl Rahner nie gefangen nehmen konnte, der Anfang einer Verwandlung, die den wahren Rang sichtbar macht, dass nämlich das Werk eines Mannes weit über die Gegenwart hinaus denkwürdig bleibt und mitten in aller Endlichkeit etwas vom Glanz der Wahrheit aufleuchten lässt. Ich bin überzeugt, dass Karl Rahner dieses Licht der Wahrheit, das er ein Leben lang für andere und so auch für sich suchte, in Gott gefunden hat (Vgl. neuere Versuche einer Einführung von B.J. Hilberath, Karl Rahner, Gottgeheimnis Mensch = Theologische Profile, Mainz 1995; A. Raffelt/Hj. Verweyen, Karl Rahner (=Beck´sche Reihe 541), München 1997; M. Schulz, Karl Rahner begegnen, Augsburg 1999; R.A. Siebenrock (Hg.), Karl Rahner in der Diskussion (= Innsbrucker theologische Studien 56), Innsbruck 2001; H. Vorgrimler, Karl Rahner verstehen, Neuausgabe Mainz 2002 (=Toposplus 416); A. R. Batlogg u.a., Der Denkweg Karl Rahners. Quellen – Entwicklungen – Perspektiven, Mainz 2003; H. Vorgrimler, Karl Rahner. Gotteserfahrung in Leben und Denken, Darmstadt 2004.).

Wir haben im Zusammenhang seines hundertsten Geburtstages eine ausgezeichnete Gelegenheit, ihm in Staat und Gesellschaft, in der Weltkirche und in der Erzdiözese Freiburg, in der Gesellschaft Jesu und im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz, hier in Freiburg und an allen Wirkungsstätten über seinen Tod hinaus durch unser Mitdenken und unser Lebenszeugnis aus dem Glauben zu danken. (Eigens sei hingewiesen auf ein Sonderheft der „Stimmen der Zeit", Spezial 1/2004 „Karl Rahner – 100 Jahre". Der Text dieses Vortrages, der leicht erweitert und aktualisiert worden ist, findet sich in diesem Heft, 3-15.)

Es gilt das gesprochene Wort

(c) Karl Kardinal Lehmann

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz