Präsentation des Handbuchs der Katholischen Soziallehre im Auftrag der Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft und der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle, herausgegeben von A. Rauscher in Verbindung mit J. Althammer, W. Bergsdorf, O. Depenheuer, Berlin 2008 (Verlag Duncker&Humblot, XXIV+1129 Seiten) am 4. Dezember 2008 in der Akademie der Konrad Adenauer-Stiftung in Berlin
Es gibt eine eigentümliche Spannung in der schon länger gegebenen, aber auch in unsere Gegenwart hineinreichenden Rezeption der Katholischen Soziallehre. Auf der einen Seite wird sie seit längerer Zeit als „Dritter Weg" zwischen Liberalismus und Sozialismus/Marxismus gesucht und findet viel Interesse auch außerhalb der Kirche. Dies gilt nicht zuletzt auch für die grundlegenden Prinzipien, z.B. der Subsidiarität, die überraschend auch Eingang gefunden hat in das grundlegende Vertragsrecht der Europäischen Union und ursprünglich zweifellos aus dem Bereich der Katholischen Soziallehre stammt. Auf der anderen Seite aber gibt es besonders auch im Bereich des kirchlichen Lebens und Lehrens zunehmend eine geringere Kenntnis der Katholischen Soziallehre. Es gibt aus methodischen und inhaltlichen Perspektiven gerade innerhalb der Kirche eine oft heftige Kritik der Soziallehre, nicht zuletzt aufgrund der Stütze, die sie im „Naturrecht" findet. Es ist aber auch zu vermerken, dass die Katholische Soziallehre in offiziellen Verlautbarungen, besonders den Enzykliken und entsprechenden Schreiben, und als wissenschaftliche Disziplin die Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Situation aufgenommen und fortgeführt hat. Das Erscheinen des „Handbuchs" ist dafür ein bemerkenswertes Signal und ein wichtiger Einschnitt. Ich darf aber auch das „Kompendium der Soziallehre der Kirche" nennen, herausgegeben vom Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Vatikan 2004, Freiburg i. Br. 2006 - eine gute Synthese.
Natürlich hat es vom Alten und Neuen Testament über die Kirchenväter und die klassische Theologie immer eine Befassung mit dem sozialen und besonders auch unternehmerischen verantwortlichen Handeln gegeben. Dies erfolgte weitgehend in der philosophischen und theologischen Ethik. Das 19. Jahrhundert brachte hier jedoch durch die Industrialisierung und die Verelendung vieler Bevölkerungsschichten eine viel stärkere Dringlichkeit, auf die „soziale Frage" einzugehen. Das Jahr 1848 und die unmittelbare Folgezeit bedeuten einen herausragenden Aufbruch des deutschen Sozialkatholizismus. Bischof von Kettelers Wende hin zur Sozialpolitik (vgl. die Forschungen vor allem von E. Iserloh) bedeutet hier einen wichtigen Einschnitt. Die Bedeutung reicht weit, wenn ich z.B. an die erste Auflage des Staatslexikon der Görres-Gesellschaft (1889-1897), an die Zentrumspartei mit ihrem Sozialprogramm, aber auch noch an die Gründung von CDU/CSU mit den verschiedenen Programmansätzen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs denke. Es ist nicht zufällig, dass in dieser frühen Zeit auch der Begriff der „Sozialen Gerechtigkeit" geprägt wird und eine immer größere Verbreitung erlangt. Dies ist auch die Geburtsstunde der ersten Sozialenzyklika von Papst Leo XIII. „Rerum novarum" (1891), wobei der Papst Bischof Ketteler ganz bewusst einen Vorläufer nannte. Die Suche nach einer neuen, angemessenen wissenschaftlichen Disziplin, nämlich die Katholische Soziallehre, fand einen ersten Höhepunkt in dem umfassenden Lebenswerk des Jesuiten Heinrich Pesch, das um die Jahrhundertwende erschien und im Programm des „Solidarismus" gipfelte.
Das neue „Handbuch der Katholischen Soziallehre" stellt sich schon durch seinen Titel ganz eindeutig in diese Tradition. Diskutiert wurden ja auch Alternativen wie Handbuch der Christlichen Soziallehre, der Christlichen Sozialethik usw. „Wenn als Titel ‚Handbuch der Katholischen Soziallehre' bevorzugt wurde, so war dafür der Wunsch nach einem unterscheidbaren Profil und klarer Positionierung maßgebend." (VIII) Dies ist auch der Grund, warum die Evangelische und die Orthodoxe Sozialethik zwar zur Sprache kommen, aber eben als „Exkurse" (233 ff., 249 ff.).
In diesem Konzept muss man gewiss auch eine Gegenwehr sehen gegenüber einem Zerfall der Katholischen Soziallehre, und zwar durch die inneren Auseinandersetzungen in ihr selbst und durch eine zwar notwendige Partikularisierung und Spezialisierung, die aber die Grundaufgaben zu vernachlässigen in Gefahr waren. Dies scheint mir die erste Kennzeichnung des Handbuches zu sein, dass es sich diesem Trend entgegenstellt und ganz bewusst grundsätzliche Fragestellungen, vor allem des christlichen Menschenbildes, aufnimmt und hier fundamentale, anthropologische und ethische Orientierung zu vermitteln versucht: „Zwar sind vonseiten der katholischen Sozialwissenschaft und von christlichen Wissenschaftlern in den zurückliegenden Jahren zahlreiche Werke und Publikationen erschienen, bei denen jedoch die fachspezifischen Fragestellungen und Methoden dominieren, wohingegen Grundsatzfragen und die Probleme der Wertorientierung in den verschiedenen gesellschaftlichen Lebensbereichen nicht hinreichend reflektiert werden und zur Sprache kommen." (VIII) Dies war nun aber der ausdrückliche Wille vor allem auch der Wissenschaftlichen Kommission bei der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle. Man darf wohl sagen, dass diese Absicht dem „Handbuch" in einer eindrucksvollen Weise gelungen ist, besonders im ersten Kapitel „Das personale Fundament der Katholischen Soziallehre" (3 ff.) und im zweiten Kapitel mit den „Grundlinien" (93 ff.). Aber auch die Realisierung der einzelnen Bereiche ist durch diese grundsätzliche Ausrichtung geprägt, nicht zuletzt durch die Auswahl der Mitarbeiter: Ehe und Familie, Lebensschutz, Schöpfung und Umwelt, Arbeit, Eigentum, Wirtschaftsordnung, soziale Sicherung, politische Ordnung, Demokratie, Kirche und Staat, Internationale Ordnung und Entwicklungszusammenarbeit. Hier wird leicht erkennbar, dass nicht nur heutige Fragestellungen intensiv aufgenommen werden (z.B. Familienpolitik, würdevolles Sterben und Hospizbewegung, Nachhaltigkeit, Tierschutz, Arbeitsmarktordnung usw.), sondern dass auch viele grundsätzliche Fragestellungen ausführlicher aufgenommen werden, als dies bisher in der Soziallehre der Fall war (z.B. Fragen der sozialen Sicherung, der Menschenrechte, der Demokratie, der Internationalen Arbeit, der weltweiten Gerechtigkeit usw.).
Es ist also nicht so, dass das „Handbuch" wegen der sehr prinzipiellen Anlage in unverbindlichen Allgemeinheiten endigt oder gar flüchtet. Dafür sorgen von den 81 Beiträgen ungefähr 65 Artikel, die den einzelnen konkreten Problemfeldern gewidmet sind. Sie sind sehr interdisziplinär - dies scheint mir ein weiteres Kennzeichen zu sein - angelegt. Zwei Dutzend Sozialethiker und Experten aus dem kirchlichen Bereich stehen mehr als jeweils ein Dutzend Volkswirte, Politikwissenschaftler und Juristen gegenüber. Historiker und Philosophen, Soziologen, Pädagogen und Journalisten ergänzen sie. Sie bringen auch nochmals auf ihre Weise philosophische Klärungen und historische Aufhellungen ins Spiel. Die drei Mitherausgeber, die Professoren Jörg Althammer, Wolfgang Bergsdorf und Otto Depenheuer, ergänzen auch in der Verantwortung für das Ganze durch ihre Kompetenzen in Ökonomie, Politikwissenschaft und Jurisprudenz die vielen Facetten, übrigens zusammen mit der Wissenschaftlichen Kommission, aus der ich zunächst nur Prof. Dr. Rudolf Morsey und Prof. Dr. Paul Mikat, langjähriger Präsident der Görres-Gesellschaft, nennen möchte. Damit zeigt das „Handbuch" - und auch dies scheint mir ein wichtiges Kennzeichen zu sein -, zu welcher Expansivität und Pluralität, Interdisziplinarität und Differenzierung eine heutige Katholische Soziallehre fähig ist, ohne dass sie deswegen ihre innere Einheit und eine methodische Strenge verlieren muss. Ja, viele Probleme, wie etwa eine Neufassung und Vertiefung des Naturrechtsgedankens, erhalten davon wertvolle Anstöße.
So besteht kein Zweifel, dass dieses „Handbuch" eine große Bedeutung haben wird für die Kirche und die Gesellschaft. Ich bin überzeugt, dass sein Ercheinen auch zu einem wichtigen Zeitpunkt erfolgt. Es besteht dafür ein unübersehbarer Kairos. Wir erleben nicht zuletzt in der Orientierungskrise, die sich auch in der weltweiten Finanzkrise spiegelt, einen hohen Verlust von stabilen, kontinuierlichen und verlässlichen Grundlagen und Wertmaßstäben. Diese betreffen nicht zuletzt auch das Menschenbild und darin ganz besonders die Rangordnung der Grundüberzeugungen, die Achtung der Menschenwürde in der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation und den wahren Umgang mit der Freiheit. Die Krise kommt von weit her. Wir können in diesem Dilemma der Orientierung wichtige Anregungen empfangen, die durch die Natur des Menschen und seine Geschichte bewährt sind und zugleich weltweite Geltung beanspruchen dürfen.
Angesichts der konkreten Situation in Kirche und Gesellschaft, aber auch der inneren Lage der Katholischen Soziallehre war es ein hohes Wagnis der Wissenschaftlichen Kommission bei der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle, ein solches „Handbuch" zu planen und zu veröffentlichen. Nach einer gründlichen Befassung mit dem Text möchte ich zum Ausdruck bringen, dass mir dieses Wagnis gelungen zu sein scheint. Mit dem „Handbuch" liegt ein sehr wertvolles Studienbuch und Nachschlagewerk vor, das es vergleichsweise sonst nicht gibt, auch nicht in den mir bekannten Sprachen. Mit der Charakterisierung als „Handbuch der Katholischen Sozialehre" ist freilich auch gegeben, dass absichtlich vor allem Beiträge aufgenommen worden sind, „die thematisch und methodisch in einem mehr mittelbaren Bezug zur Katholischen Soziallehre stehen" (VIII).
Es ist damit ganz gewiss auch ein Buch, das durch die Vielzahl der Autoren und der Themen, damit natürlich auch mancher Ausrichtungen und Tendenzen, zur Auseinandersetzung einlädt. Viele Themen werden uns in den nächsten Jahren gewiss noch intensiver fordern, so z.B. die Folgeprobleme der demografischen Entwicklung. Probleme der Wirtschaftsethik und nicht zuletzt Gerechtigkeit in globaler Perspektive. Die Ambivalenz des „Marktes" lässt sich nicht mehr so einfach umgehen wie in einer Atmosphäre, die dem Neoliberalismus sehr günstig zugewandt war. Das „Handbuch" weiß darum. Wirkliche Soziale Marktwirtschaft ist angesichts unserer Entwicklung immer wieder auch eine neue Herausforderung. Die ökumenische Zusammenarbeit im Bereich der Sozialethik, die schon durch den Titel nicht Gegenstand des „Handbuches" ist, wird uns künftig intensiver beanspruchen. Die Probleme um die Werte, vor allem die Grundwerte und eine „Leitkultur", bedürfen besonders in der pluralistischen Gesellschaft, die freilich ihre Unschuld längst verloren hat, der Vertiefung. Schließlich ist auch noch zu fragen, was z.B. eine Bischofskonferenz auf ihrer Ebene für die Soziallehre leisten kann. Gewiss möchte man auch mit dem einen oder anderen Autor über die Wertung geistiger und gesellschaftlicher Prozesse streiten. Aber dies kann nicht Aufgabe dieser ersten kleinen Hinführung sein. Ich möchte keinen Zweifel daran lassen, dass ich das „Handbuch" in diesem Sinne für einen gelungenen Wurf halte, dazu noch in einer im Ganzen erstaunlichen, einfachen und verständlichen Sprache geschrieben.
Ich wünsche mir auch, dass die katholischen Sozialethiker in unserem Land im Gespräch und vielleicht auch im Streit über dieses „Handbuch" wieder näher zueinander finden, auch wenn man sich darunter keinen einfachen Uniformismus vorstellen darf. Wir brauchen aber über die Sache das intensive Gespräch, das in den letzten Jahren und wohl auch Jahrzehnten zum Teil schwer gelitten hat.
Es ist nicht unmittelbar meine Aufgabe, den vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an diesem „Handbuch" zu danken. Ich bin aber froh, dass sich so viele zu einem Beitrag entschlossen haben. Dies ist keine gering zu schätzende Leistung, und darin scheint mir auch ein gutes Signal zu liegen. In Ergänzung zu meiner Laudatio, die ich am 25. Oktober zum 80. Geburtstag von Prof. P. Dr. Anton Rauscher SJ in Mönchengladbach vorgetragen habe, gehört auch der ganz besondere Dank aller an ihn als den Hauptherausgeber dieses Werkes. Ich habe dort auf die heutige Präsentation verwiesen und hinzugefügt, dass mit diesem „Handbuch", das auch seine Kompetenz und Fähigkeit als Herausgeber sowie als Vertreter der Katholischen Soziallehre spiegelt, so etwas wie eine Krönung und Vollendung seines Lebenswerkes gegeben ist. Darum möchte ich Ihnen, gewiss auch im Namen der deutschen Bischöfe, ein herzliches Vergelt´s Gott sagen für diese große Leistung. Ich danke ganz besonders auch der Görres-Gesellschaft, namentlich den beiden Präsidenten, Herrn Prof. Dr. Paul Mikat und Herrn Prof. Dr. Wolfgang Bergsdorf, der Wissenschaftlichen Kommission und den beiden anderen Mitherausgebern, den Professoren Dr. Jörg Althammer und Dr. Otto Depenheuer, für ihre wichtige Mitverantwortung. Schließlich ist es mir ein Anliegen, auch dem Verleger, Herrn Prof. Dr. h.c. Norbert Simon, große Anerkennung auszusprechen. Sie bemühen sich mit Ihrem Verlag seit Jahrzehnten um eine Förderung der Sozial-, Politik- und Rechtswissenschaft, besonders auch katholischer Herkunft ein für das „Handbuch" besonders geeigneter Verlag, dazu noch in der Bundeshauptstadt Berlin! Ich danke allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Mönchengladbach und hier im Duncker&Humblot-Verlag. Schließlich und endlich darf ich mich bei dem Vorsitzenden der Konrad Adenauer-Stiftung bedanken, dass er uns in die Akademie eingeladen hat, Ihnen Herrn Ministerpräsident Prof. Dr. Bernhard Vogel. Wir haben einen guten Anlass, uns zu freuen und dankbar zu sein. Gerne bin ich von Mainz aus mit Ihnen im Geist eng verbunden.
Es gilt das gesprochene Wort
(c) Karl Kardinal Lehmann
vorgetragen von Prälat Karl Jüsten, Kath. Büro Berlin
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz