Im Zeitverständnis des Menschen gibt es große Unterschiede. Manche Kulturen und auch Religionen bevorzugen ein Denken in sich wiederholenden Kreisen. Hier denkt man rasch an Frühling und Herbst. Man spricht gerne von der ewigen Wiederkehr aller Dinge. Sicher gibt es dort auch eine fortschreitende Bewegung im Selben. Man sieht die Eigenart des biblischen Denkens hingegen im linearen Zeitverständnis, das also einmalig fortschreitet und nie mehr einfach wieder an den Ausgangspunkt zurückkehrt. Damit sei, so sagt man öfter, auch der Gedanke des Fortschrittes mitgegeben.
Gewiss gibt es auch differenziertere Vorstellungen und wohl auch Überschneidungen. Aber mit dieser Charakteristik ist durchaus ein Unterschied getroffen. Manchmal gibt es auch im europäischen Kulturkreis heute die Flucht in ein kreisförmiges, am Auf und Ab, am Stirb und Werde des Kosmos orientiertes Denken, das an der Unruhe und oft auch vermeintlichen Sinnlosigkeit der Geschichte verzweifelt. Natürlich geht es dabei auch um mehr als nur um die Zeitrechnung: die Zielgerichtetheit und Unumkehrbarkeit der Zeit, die Einmaligkeit gerade auch des Menschseins und der Person.
Manchmal verbinden sich jedoch verschiedene Zeitvorstellungen ineins. Es werden damit nicht immer weltanschaulichen Ansprüche gestellt oder geradezu Weltmodelle entworfen. Es spielt sich auf einer einfacheren Ebene ab.
Ich denke, dass so etwas im Verständnis des Kirchenjahres, vielleicht überhaupt des Jahres geschieht. Wir wissen, dass die Zeit unseres Lebens nicht einfach wiederkommt. Vieles im Zusammenhang des menschlichen Lebens hat etwas Einmaliges an sich: unser Name, die Personenwürde, die Verantwortung, die Liebe.
Aber manches erfassen wir nicht immer sofort, schon gar nicht auf einmal. Es ist dann für den Menschen auch gnädig, dass es Wiederholungen gibt. Sie sind nicht einfach das ewig Gleiche und müssen deshalb auch nicht fade sein. Sie sind aber auch nicht nur öde Routine. Wiederholungen geben uns die Chance, etwas besser kennenzulernen als bisher, neue Zugänge zu erschließen und auch das bisherige Verhalten zu ändern. In diesem Sinne kann Wiederholung wirklich entgegen allem Anschein etwas Neues in unser Leben bringen.
Dies zeigt sich, so bin ich überzeugt, auch im Verständnis des Glaubens und des Geheimnisses des Heiles. Jesus Christus ist zu einer bestimmten Zeit in unsere Welt gekommen. Wir zählen unsere Zeit nach seiner Geburt und können historisch genauer angeben, wann dies sich ereignete. Er hat auch ein für allemal sein Leben im Tod für die Menschen hingegeben. Es wäre ein Irrtum, diese Geheimnisse des Lebens Jesu wiederholen zu wollen, wie es mancher Mythos versucht. Mancher Streit unter den christlichen Kirchen geht auch auf die Frage zurück, ob wir der Einmaligkeit der Lebensereignisse Jesu immer gerecht werden (z.B. im Verständnis des Todes Jesu als Opfer). Daran ist ganz gewiss festzuhalten.
Dennoch gibt es auch hier, gerade eben durch das Kirchenjahr, die Chance der Wiederholung. Wir können immer wieder im Gedenken an das, was einmalig geschehen ist, neu anfangen: mit dem Warten auf Weihnachten im Advent, mit der Feier der Geburt Jesu usw. Wenn wir bisher manches übergangen oder gar verschlafen haben, können wir es nachholen. Man kann auch in den verschiedenen Lebensaltern jeweils die großen Feste neu entdecken: in der Jugend, im Erwachsenenleben, im Alter.
Das Geheimnis Gottes und seiner Geschichte mit den Menschen ist abgründig tief. Man kann es nicht einfach ausschöpfen. Auch deswegen ist es nicht einfach pure Wiederholung, wenn wir diese Feste öfter feiern.
So sollten wir uns mit dem Beginn eines neuen Kirchenjahres, ja auch eines neuen bürgerlichen Jahres die Chance nicht entgehen lassen, den Weg des Glaubens auf den wichtigsten Stationen neu mitzugehen und ihre Bedeutung für uns wieder zu erkennen. Fangen wir mit der Adventszeit an. Dann wird Weihnachten noch mehr leuchten.
(c) Karl Kardinal Lehmann
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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