Wir sind manchmal so mit uns, mit der Gegenwart und ihren Herausforderungen beschäftigt, dass wir die Geschichte schnell hinter uns lassen. Es gibt zwar immer wieder einige Jubiläumsdaten, wie z.B. in diesem Jahr den 190. Geburtstag und den 125. Todestag von Bischof von Ketteler, aber die ganze Geschichte und ihre Bedeutung ist uns oft ferner gerückt. Viele fragen sich, warum sie sich mit etwas beschäftigen sollten, was abgeschlossen und unveränderbar vergangen ist.
Man muss jedoch dieses Bewusstsein immer wieder auch korrigieren. Wir kommen alle in unseren Familien und in der Gesellschaft von weiter her und tragen ein vielfaches Erbe in uns. Dies gilt besonders auch für die Kirche, die sich auf ein geschichtliches Ereignis, nämlich das Kommen Jesu Christi, gründet, nach dem wir unsere Zeit zählen. Wer nicht genau weiß, woher er kommt, versteht sich oft selbst nicht recht und weiß auch zu wenig, was ihn heute und morgen bestimmt.
Wir haben im Bistum Mainz zur Zeit eine gute Gelegenheit, über einzelne Daten der Erinnerung hinaus, die wir auch künftig immer wieder gerne feiern (2004 begehen wir den 1250. Todestag des hl. Bonifatius, 2003 den 100. Geburtstag von Kardinal Volk), das Werden und den Wandel der Geschichte am Beispiel eines sehr alten (Erz-)Bistums zu verfolgen. Mit bewundernswerter Zügigkeit hat Herr Prof. Dr. Friedhelm Jürgensmeier mit seiner Mitarbeiterin Regina Schwerdtfeger ein umfangreiches, fünfbändiges „Handbuch der Mainzer Kirchengeschichte" herausgegeben und nun mit dem Erscheinen der beiden letzten Bände, die bis an die Jahrtausendschwelle 2000 reichen, abgeschlossen (Echter-Verlag, Würzburg 1997-2002). Seit dem 19. Jahrhundert war dies immer wieder ein großer Wunschtraum, der nun nach der in einem Band gefassten Geschichte „Das Bistum Mainz", des selben Verfassers, 1988 erstmals erschienen, unter Mithilfe von sehr vielen Historikern in Erfüllung gegangen ist, worum nicht wenige Bistümer uns geradezu beneiden werden. Dabei ist die Geschichte des Bistums Worms, das heute dem Bistum Mainz eingegliedert ist, aber zu den ältesten Bistümern Deutschlands zählt, in einem eigenen Band dargestellt und nicht vergessen (Würzburg 1997). Es ist also eine einzigartige Gelegenheit gegeben, sich anhand dieser Hilfen nun intensiver mit der ganzen Geschichte des Bistums Mainz oder mit wichtigen Ausschnitten aus ihr zu beschäftigen.
In diesem Jahr begehen die Diözesen im Südwesten Deutschlands verschiedene Jubiläen. Sie sind in ihrer heutigen Gestalt weitgehend zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Folge des Umbruchs vor allem durch Napoleons mächtige Umgestaltung der Geschichte entstanden. Es war zunächst das Ende für das tausend Jahre alte Erzbistum, als Bistum noch ältere Mainz. Diesen Zerfall betrachten viele Historiker als einen einmaligen Abbruch und Umbruch in der großen Kirchengeschichte, wenigstens Mitteleuropas. Dass Napoleon vor 200 Jahren nach dem Ende des großen Erzbistums ein linksrheinisches, französisches Bistum Mainz schuf, ist vielen wenig bekannt. Die Festschrift zum 65. Geburtstag von Herrn Prof. Dr. Friedhelm Jürgensmeier „Zerfall und Wiederbeginn. Vom Erzbistum zum Bistum Mainz (1792/97 bis 1830). Ein Vergleich" (wie alle anderen Bände, Würzburg, Echter-Verlag) zeigt in fast 30 Studien diesen wichtigen Einschnitt, bis das heutige „hessische" Bistum Mainz voll entstand.
Geschichte wird auf vielfache Weise anschaulich. Quellen sind nicht nur die wichtigen schriftlich überlieferten Texte, sondern auch überkommene Bilder und Geräte, Ausstattungsgegenstände und Kleider. Deshalb ist es eine besondere Hilfe, dass zugleich vom 7. Mai bis zum 5. Juni 2002 unter dem Titel „Vom Kirchenfürsten zum Bettelbub" eine Ausstellung im „Haus am Dom" stattfindet, um nach der endgültigen Zerstückelung des alten Erzbistums Mainz das Entstehen des heutigen Bistums Mainz lebendig vor Augen zu stellen. Es ist Frau Dr. Barbara Nichtweiß gelungen, in einer eindrucksvollen Ausstellung diesen schmerzlichen Umbruch und seine schwierige Geschichte nachdrücklich und transparent zur Darstellung zu bringen.
Wir feiern am Ende dieses Monats Mai den Mainzer Katholikentag und schauen mit offenen Augen auf unsere Gegenwart und in die unmittelbare Zukunft. Wir haben zugleich eine dichte, einmalige Gelegenheit näher zu betrachten, auf welchen Fundamenten wir heute stehen. Dazu möchte ich herzlich einladen. Ein solcher Rückblick hilft uns am Ende auch, um unsere Gegenwart besser zu verstehen: von woher wir kommen, was uns immer noch bestimmt und auch künftig noch herumtreiben wird.
(c) Bischof Karl Kardinal Lehmann
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz