„Die Moderne in der Archaik - Das Archaische in der Moderne"

Vernissage der Ausstellung „Artefakte der Hoffnung" zum 93. Deutschen Katholikentag im Landesmuseum Mainz

Datum:
Freitag, 22. Mai 1998

Vernissage der Ausstellung „Artefakte der Hoffnung" zum 93. Deutschen Katholikentag im Landesmuseum Mainz

Hinführung zur Thematik

Was wird in der Spannung „Die Moderne in der Archaik - Das Archaische in der Moderne" ausgetragen? Gibt es dazu einen roten Faden? Oder sind es nur zufällig nebeneinander gereihte Bildwerke? Es gibt hier gewiß keinen verordneten Zwang, sondern viele Wege durch die aufregende Vielfalt der Exponate. Ich möchte dennoch versuchen, hier eine mögliche Schneise sichtbar zu machen.

 

Das Archaische ist hier gewiß nicht das zeitlich Früheste, wie z.B. in der griechischen Plastik das 7. und 6. Jahrhundert v.Chr. Es ist mit Sicherheit aber auch nicht das Primitive im Sinne einer evolutionistischen Deutung der Geschichte, so daß es nur das noch Ungekonnte, Unbeholfene und Schwache wäre. Es hat schon eher etwas mit der Wucht des elementaren Anfangs zu tun, der sich nicht bloß im Sinne geschichtlichen Beginnens erschöpft. Hier kommen einem die Dinge vor wie am ersten Tag. Bei aller Vielgestaltigkeit sind es jedesmal so etwas wie Urphänomene. Und das Erstaunliche ist, daß dies nicht nur in die frühesten Zeitalter zurückreicht, sondern sich auch heute immer wieder ereignet. Man weiß manchmal nicht, wo mehr archaische Ursprünglichkeit ist.

 

Das Archaische in diesem Sinne bringt die Dinge erst zu ihrem Rang. Aus dem Streit zwischen Erde und Mensch werden die Dinge erst geboren. Sie sind nicht „fertig", sondern sie offenbaren in diesen Werken die Wahrheit über Mensch und Welt. Darum ist es auch nicht einfach nur Produktion; hier drängt das Ungeheuerliche des Menschseins an den Tag, und zwar in einer Radikalität, die wir längst nicht mehr kennen. Für uns ist alles vertraut oder gar gewöhnlich und schal.

 

Hier geht es auch zuerst nicht um die Kunst allein oder das Religiöse oder eine verborgene Philosophie. Hier ist das elementar Menschliche in seinen unheimlichen Möglichkeiten, gleichsam zwischen Terror und Spiel, eröffnet. Hier wird auf radikale Weise Transzendenz gestreift, ja erst entdeckt.

 

Schiffe sind nicht selbstverständlich, sondern sie zeigen, wie man auf den verschlingenden Meeren getragen werden kann, wie es zwischen verschiedenen Welten Überfahrt gibt und wie es zwischen Ruderern, seien es Galeerensträflinge oder heutige Rennbootfahrer, eine untergründige Schicksalsgemeinschaft, eben ganz grundlegend Solidarität untereinander gibt.

 

Ein Schrein versetzt uns immer etwas in Angst, hat er doch seine eigene Nähe zum Sarg. Nicht ganz zufällig sagen die heutigen Ethnologen, die Menschwerdung beginne mit dem Begräbnis oder auch mit dem Sarg, der zum Schrein werden kann. Die Ängste vor dem Tod werden gebannt, wenn der Schrein das Heilige birgt, seien es kostbare Erinnerungen an Heilige oder Medien des Göttlichen wie die Torah. Da fängt der Schrein, ob silbern oder golden, zu leuchten, bewahrt jedoch darin auch seine ehrfurchtgebietende Aura.

 

Manches gibt seinen Ursprung nicht preis und erweitert damit unsere Welt, wie die abgekappten rettenden Arme in Jean Ipoustéguys „Tal der Gnade". Hier lebt in extremer Verfremdung unerwartetes Erbarmen.

 

Es scheint mir nicht zufällig, daß Frau Dr. Krimmel ihrer Deutung das berühmte, erste Chorlied aus Sophokles’ „Antigone" in der Übersetzung von Friedrich Hölderlin vorausstellt. Ich zitiere es in der Übersetzung Martin Heideggers:


 

„Vielfältig das Unheimliche, nichts doch
über den Menschen hinaus Unheimlicheres ragend sich regt.

Der fährt aus auf die schäumende Flut
beim Südsturm des Winters
und kreuzt im Gebirg
der wütiggeklüfteten Wogen. (...)

Überall hinausfahrend unterwegs, erfahrungslos ohne Ausweg
kommt er zum Nichts.

Dem einzigen Andrang vermag er, dem Tod,
durch keine Flucht je zu wehren,
sei ihm geglückt auch vor notvollem Siechtum
geschicktes Entweichen."

(Einführung in die Metaphysik, Tübingen 19582, S. 112 f)

 

Die Ausstellung, die wir in ihrer Konzeption Herrn Prof. Thomas Duttenhoefer verdanken, möchte dem Betrachter anhand von bewußt wenigen, jedoch erlesenen Stücken zur Wiederentdeckung dieser menschlichen Urphänomene führen, zu denen zum Beispiel auch Verletzungen gehören, wie an einigen der Stelen deutlich wird.

 

Wir danken den Künstlern, Künstlerinnen und Leihgebern. Besonders stolz sind wir auf die Anwesenheit von Monsieur Jean Ipoustéguy aus Paris, in dessen monumentalem Werk am Eingang dieser Ausstellung sich ihre Absicht besonders verdichtet. Von großem Wert für die Erschließung der „Artefakte" ist auch der Katalog, deren Autoren und Autorinnen wir herzlich danken, vor allem den beiden Herausgeberinnen Frau Dr. Elisabeth Krimmel und Frau Dr. Barbara Nichtweiß sowie Frau Johanna Krimmel, von der das Layout stammt, der Druckerei Dieter Hoffmann aus Mainz sowie allen anderen an der Ausstellungsarchitektur beteiligten Firmen für ihre zuverlässige und entgegenkommende Arbeit. Frau Elisabeth Geurts bildete das unerläßliche organistorische Rückgrat bei der Vorbereitung dieser Ausstellung von seiten des Katholikentags. Kunst braucht Raum: Deshalb danken wir Frau Direktorin Dr. Gisela Fiedler-Bender für das großzügige Entgegenkommen, uns den Pavillon des Landesmuseums sowie Räume für die begleitenden Veranstaltungen zur Verfügung zu stellen. Schließlich wäre die Ausstellung nicht zustande gekommen ohne die große Unterstützung der Landesbank Rheinland-Pfalz, näherhin Herrn Vorstandsvorsitzenden Adam und Herrn Direktor Issel.

 

Wir beklagen den Verlust von Menschlichkeit - hier ist sie in den „Artefakten der Hoffnung", die die Ängste nicht unterschlägt, elementar wiederzuentdecken. Auch der Glaube braucht solche handwerklich-künstlerischen Zeugnisse. Wie soll einer Eucharstie feiern, der von Teilen nichts mehr versteht? Wie soll einer danken, der nicht mehr denkt? Im Archaischen der Artefakte finden sich genügend Anstöße auch über den Katholikentag hinaus, denn „im Verstehen des Geheimnischarakters dieses Anfangs liegt die Echtheit und Größe geschichtlichen Erkennens" (Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, S. 119).

 

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz