Die Muslime – unsere Nachbarn

Gastkommentar für die Mainzer Allgemeine Zeitung vom 29. September 2001

Datum:
Samstag, 29. September 2001

Gastkommentar für die Mainzer Allgemeine Zeitung vom 29. September 2001

In diesen Tagen wird notwendigerweise viel über den Islam gesprochen. Es ist in der Tat notwendig, vieles in dieser großen Religion besser kennen zu lernen. Die Aufklärung über die Wurzeln, Vollzüge und Verschiedenheiten können manche Vorurteile überwinden helfen. Hier droht aber auch manchmal eine Gefahr, dass wir nämlich im Islam ein unveränderliches und starres "Religionssystem" sehen.

Dabei muss man bedenken, dass die Pluralität im Islam fast selbstverständlich ist. 55 Länder auf unserer Erde sind islamisch geprägt. Unter den etwa 3 Millionen Mitbürgerinnen und Mitbürgern bei uns gibt es viele Glaubensrichtungen, die auch oft in Spannung zueinander stehen. Es gibt den Islam nicht im Sinne eines monolithischen, also einförmigen Blocks.

Umso wichtiger ist es, den Islam nicht nur in den verschiedenen Erscheinungsformen und Traditionen zu kennen, sondern den lebendigen Menschen zu begegnen, die sich zum Islam bekennen. Sie wohnen unter uns. Einige, besonders Frauen in ihrer Bekleidung, sind in der Öffentlichkeit unseres Lebens leicht auszumachen. Einige mussten sich in den letzten 14 Tagen auf den Straßen beleidigende Zurufe gefallen lassen. Aber viele arbeiten mit uns und für uns, sie sind unsere Nachbarn. Die älteren Generationen unter ihnen tun sich etwas schwerer mit unserer Sprache. Ihre Kinder, die oft hier geboren, jedenfalls aufgewachsen sind, sprechen sehr oft ein sehr korrektes Deutsch und haben durch ihr Interesse und ihren Fleiß gute Positionen in unserem Arbeitsleben erworben. Fast ganz selbstverständlich gehören sie zu uns: die Müllmänner und die Leute auf dem Bau, aber auch die Friseuse und die Assistentin beim Zahnarzt. Mittlerweile haben auch viele an unseren Hochschulen studiert und nehmen in fast allen Bereichen unseres Lebens wichtige Aufgaben wahr. Sie gehören auch in diesem Sinne zu uns.

Viele Muslime leben mit ihren Angehörigen und Verwandten bei uns. Sie bilden oft große Familien. So können sie auch in der vertrauten Gemeinschaft ihre Bräuche und ihre Religion leben. Umso mehr ist es notwendig, die Begegnung im Alltag zu suchen: in der Nachbarschaft Tür an Tür, im Kindergarten, im Zusammenhang der Schule, bei vielfältigen Festen, beim Sport oder beim Einkauf. Eine gute Gelegenheit des gegenseitigen Kennenlernens kann auch der Tag der offenen Moschee sein, der am 3. Oktober bundesweit durchgeführt wird. Es gibt viele Nahtstellen und Anlaufstellen für eine unkomplizierte Begegnung.

Natürlich gibt es hier auch Ängste und Hemmungen auf beiden Seiten zu überwinden. Man muss auch gelegentlich mit Zurückweisung rechnen. Es gibt einzelne Ausprägungen des Islam, die eine stärkere Isolierung der Muslime zum Ziel haben. Die Männer sollen am Arbeitsplatz mit niemand sprechen, die Frauen sollen nicht alleine ausgehen, Mädchen gehören nicht in die Schule, Kinder dürfen nicht miteinander spielen. Es darf uns nicht erschrecken, dass es solche einzelnen Ghettos gibt. Sie sind in der Minderheit. Man braucht viel Geduld, schon um erste Kontakte zu bekommen.

Gott sei Dank, dass viele Deutsche in diesen Wochen den Muslimen bei uns, und zwar einzelnen wie auch im Blick auf Institutionen, in spontanen Anrufen zugesichert haben: Ihr gehört zu uns, ihr lebt schon lange mit uns, ihr arbeitet mit uns und für uns, ihr braucht keine Angst zu haben.

Der Islam hat konkrete Gesichter. Es sind unsere Nachbarn. Darum darf auch der Islam nicht zu einem Feindbild werden. Unsere Gegner sind Terroristen. Wir haben jetzt eine gute Gelegenheit, unsere Nachbarn besser kennen zu lernen. Dann sind wir am besten gegen die Macht der Vorurteile geschützt.

(c) Karl Kardinal Lehmann

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz