Die Welt im Spiegel der Kunst als Herausforderung für Kirche und Theologie

Datum:
Freitag, 25. Juni 2004

Festvortrag anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster an Professor Arnulf Rainer am 25.06.2004 in Münster

I.

Vor einigen Jahren hatte ich im Bonner Gästehaus der Deutschen Bischofskonferenz eine unverhoffte Evidenzerfahrung. Ich war Teilnehmer eines Diskussionsforums – kein bischöfliches Gremium, sondern irgend eine andere Arbeitsgruppe. Nach mehreren Stunden stellte sich eine gewisse Redundanz ein, und mein Interesse verflüchtigte sich bzw. es wurde unversehens in eine andere Richtung gelenkt: Damals war für die Dauer eines Jahres das Würzburger Dommuseum mit einer kleinen zeitgenössischen Werkauswahl in unseren Räumen zu Gast. Mein Blick war von einem Bild gefesselt, das mir gegenüber an der Wand hing. Mit impulsiven Pinselstrichen waren da die Schemen eines Kopfes gemalt. Je länger ich hinsah, desto mehr erkannte ich die differenzierten Tiefenschichten des Bildes: Um das Haupt bildete sich ein Band von leichtem Gelb, unter dem vorherrschendes Schwarz wie eine Aura, ja Gloriole hervorquoll. Einige wenige Lichter von gelber Wasserfarbe bekränzten dieses Haupt. Nach einiger Zeit intensiven Betrachtens kam mir die Assoziation einer Krone. Ja, die Strich-Struktur des Pinsels ließen den Eindruck einer Dornenkrone entstehen, zu der jedoch die gelben Glanzpunkte in einem beinahe bestürzenden Kontrast standen: Edelsteine in einer Dornenkrone. Und da geschah es. Plötzlich traten unter der pastosen Farb-Schichtung wie bei einem Vexierbild klar konturierte Gesichtszüge hervor. Einmal identifiziert, war es unverkennbar: Ein gotisches Christusbild schien durch die Übermalung hindurch, und in dieser künstlerischen Umformung entfaltete es eine nie gekannte Ausdrucksintensität.

„Was ist Wahrheit?“ (Joh 18,38) Die Tribunal-Szene der Passion Jesu Christi kam mir in den Sinn. Der Künstler entzieht das Christusbild der Sicherheit meiner festen Vorstellung von der historischen Person Jesu. „Was ist die Wirklichkeit hinter unserer oberflächlichen Schein-Wirklichkeit?“ schien das Bild zu fragen. Der leichtfertige Betrachter erkennt das Christusgesicht nicht, das sich hinter der Übermalung befindet. „Er kam in die Welt, aber die Welt erkannte ihn nicht“ (Joh 1,10) Erst dem wahrhaft Sehenden, der das Hintergründige hinter dem Vordergründigen zu schauen begehrt, blickt Jesus Christus entgegen. Nach dem Ende der Sitzung entzifferte ich die kleine handschriftliche Signatur auf dem Passepartout: Arnulf Rainer: Christus mit gelbem Gefunkel.

 

 

II.

Arnulf Rainer hat damals zur Vertiefung meiner persönlichen Kunsterfahrung beigetragen: Kunst kann zum Katalysator von Erkenntnisprozessen werden, indem sie das, was wir als „Welt“ chiffrieren, in den ihr unverwechselbar eigenen Brechungen widerspiegelt und unser vordergründiges Gefüge vermeintlich unverrückbarer Wirklichkeits-Definitionen immer wieder fundamental und oft überaus heilsam in Frage stellt.

Von dieser Grundüberlegung ausgehend, möchte ich im Folgenden einige Gedanken formulieren, die sich mit der Spiegelung der Welt in der Kunst als Herausforderung für Kirche und Theologie beschäftigen. Ich nehme mir dabei die Freiheit, nur einige kurze Schlaglichter dieses schier uferlosen Themenkomplexes ins Auge zu fassen, erhebe mithin keinesfalls den Anspruch einer erschöpfenden Abhandlung.

Die Welt im Spiegel der Kunst – Was heißt das? Der einfache physikalische Spiegel wirft die einfallenden Lichtwellen zurück, ohne ihre Frequenz zu ändern. Das erzeugte virtuelle Bild entspricht dem realen Urbild in absoluter Analogie. In der Tat war ja die Bestimmung der Kunst als Mimesis seit der griechisch-römischen Antike bis zur Schwelle der Neuzeit die beherrschende Konzeption geworden. Auch das von Aristoteles über die bloße Materialität hinaus transzendierte Mimesis-Ideal wird als rein abbildende Funktionalität des Kunstwerkes rezipiert: Die Kunst als Spiegel des göttlichen Urbildes der Schönheit.

Es ist hier weder Ort noch Zeit, die vielschichtigen Kunsttheorien der Geschichte auszubreiten. Wir ehren heute einen der bedeutendsten Exponenten der zeitgenössischen Bildenden Kunst. Deswegen möchte ich die vergangenen Kunstepochen überspringen und mich heute ausschließlich auf die Kunst der Gegenwart konzentrieren, zumal diese im theologisch-ästhetischen Gespräch sonst eher zu kurz kommt. Es ist klar, dass wir bei der Gegenwartskunst mit der klassischen, mimetisch verstandenen Spiegel-Metapher nicht weit kommen. Zu fragen ist also: Welche neuen Formen der Welt-Spiegelung und der Welt-Bespiegelung begegnen uns in der zeitgenössischen Kunst und welche Implikationen ergeben sich daraus. Ist die heutige Kunst ein Zerrspiegel? Ist sie ein Spiegel mit blinden Flecken, der die Welt willkürlich und selektiv widerspiegelt? Oder ist sie gar ein in Scherben zerbrochener Spiegel, der sich der Welt verweigert? In der jüngeren Kunstgeschichte finden wir alle diese Formen in mannigfacher Varianz und Verflechtung. Der ehedem kulturpolitisch motivierte Siegeszug der Abstraktion führte die Kunst in die Extremformen totaler Aussagelosigkeit – so etwa die konkrete Kunst – oder aber absoluter Transzendentalität – so etwa die unstrukturiert flächige Monochromie. Das aber ist schon wieder überholt. Welches Spiegelbild der Welt erblicken wir in der aktuellen, post-postmodernen Kunst?

Auch wenn man – wie ich – aus terminlichen Gründen die visuelle Gegenwartskunst häufiger in Form von Ausstellungskatalogen als in unmittelbarer Anschauung zu sehen bekommt, entgeht einem doch als aufmerksamem Kunstrezipienten nicht der sich zunehmend verdichtende „iconic turn“ , der das Bild und die Bildlichkeit als erkenntniskritische Größe einer allgemeinen Selbstverständigung der Kultur neu etabliert. Die neue Gegenständlichkeit, die in der post-postmodernen Kunst um sich greift, ist in der Tat Spiegel von Welt und Wirklichkeit und zwar mehr, als dem einen oder der anderen lieb ist.

Nehmen wir zum Beispiel die letzte Biennale für Bildende Kunst in Venedig, die zu ihrem 50jährigen Jubiläum unter dem Titel „Träume und Konflikte – Die Diktatur des Betrachters“ recht eigenwillige künstlerische Zeitzeugnisse präsentierte. Die hier dargebotene Kunst zeigte auf beklemmende Weise, wie es mit der post-postmodernen Welt und den sie bewohnenden und gestaltenden Menschen bestellt ist: Gewalt, Unterdrückung, soziale Missstände, Vereinsamung, Kommunikationsstörung – das waren die Fixpunkte, um die ein Großteil der dargebotenen Werke und Aktionen kreiste. Mir scheint – und das bestätigen mir auch ausgewiesene Kenner der Gegenwartskunst –, dass sich die zeitgenössische Kunst zumindest in einigen ihrer Hauptströmungen nicht mehr so sehr an künstlerischen, sondern an brisanten sozialen Phänomenen orientiert. Das entspricht so gar nicht dem, was wir, insbesondere im kirchlichen Raum, aus der abendländischen Kunsttradition gewohnt sind.

Venedig steht hier natürlich ebenso wie die Documenta in Kassel, die einen ähnlichen Eindruck hinterließ, nur paradigmatisch für eine generelle Tendenz: Was die zeitgenössische Kunst von der Welt widerspiegelt, ist oft der Mensch in seiner Bedrohtheit. Es ist so, als wenn er aus dem Elend, dem Schrott, der Gewalt, die ihn umgeben, die Hand ausstreckt und nach Erlösung schreit. Damit korrespondiert eine zweite Strömung der Gegenwartskunst, die zu der ersteren nur in einem scheinbaren Widerspruch steht: Es gibt sie wieder, die bekennenden Ästheten unter den Künstlern, seien es nun Chris Ofili oder Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger, um nur ganz spontan einige aktuelle Namen zu nennen. Federleicht erobern sie das Herz. Sie vermitteln reine Schönheit, die offensichtlich dankbar angenommen wird. Dabei spielt es offenbar keine Rolle, dass überstrapazierte Muster gerne wieder verwendet werden, dass das vermeintlich Neue aus den Tiefkühlschränken der Kunstgeschichte stammt. Dieser Trend scheint mir großenteils nicht nur ein oberflächlicher Ästhetizismus zu sein. Er wird vielmehr genährt aus einer subkutanen Sehnsucht des heutigen Menschen nach Erlösung: Der Mensch will aus aller Hässlichkeit seines bedrohten Daseins ausbrechen in die Geborgenheit reiner Schönheit.

Der Mensch, so könnte man die letztlich konvergenten Thesen der visuellen Künste unserer Zeit lesen, ist ein soziales, politisches Wesen, das im Zuge der Globalisierung disloziert und ökonomistischen Verwertungszwängen unterworfen ist. Die Selbststilisierung des modernen Menschen als autonomer Gestalter seiner Lebenswirklichkeit wird mehr und mehr ad absurdum geführt. Er sieht sich auf ein abbildbares biochemisches Formelwerk zurückgeworfen, das jede seiner Eigenschaften, Tätigkeiten und Denkweisen naturwissenschaftlich erklären kann – bekanntlich ist auch der für die Religiosität zuständige Gehirnlappen bereits vermessen. Die fundamentale Infragestellung der menschlichen Autonomie durch die Zwänge der Welt führt dazu, dass auch die Kunst die Selbsttäuschung, nichts als sie selbst zu sein, weitgehend aufgegeben hat. Sie hat sich – um mit Hans Georg Gadamer zu sprechen – in eine „denkende Vermittlung mit dem gegenwärtigen Leben“ begeben und greift heute mehr denn je die existenziellen Fragen und Erfahrungen der Menschen mit der ihr eigenen Dynamik auf. Da die mediale Vermittlung sozialer und politischer Geschehnisse durch Bilder gerade in jüngster Zeit eine enorme Kraft aufgebaut hat, sind auch Kunst und Gesellschaft wieder in eine engere Wechselbeziehung getreten, ob man es will oder nicht. Dabei kann und will die Kunst keine verbindlichen Antworten geben auf die Fragen, die in der heutigen Welt gestellt werden; häufig tritt vielmehr sie selbst als Fragende auf. Das war es ja, was Sokrates uns lehrte: Den Denkfaulen, die eine bequem anwendbare Antwort einfordern, mit einer herausfordernden Gegenfrage zur Mobilisierung der eigenen, verschütteten Lösungskompetenz zu verhelfen.

Weil wir das existenzielle Staunen – „thaumázein“, wie die alten Griechen sagten – unserer Kindheit verlernt haben, haben wir auch verlernt, uns mit konstruktiver Beharrlichkeit den großen Existenzfragen unseres Daseins zu stellen. Weil wir in einem Zeitalter leben, das weitgehend vom Nutzenkalkül regiert wird, weil wir folglich nur Fragen stellen, die wir auch knapp und effizient beantworten können (nennen wir sie einmal die kleinen Fragen) und weil wir in einer Gesellschaft leben, die uns die großen Fragen ausreden will, sind Menschen wichtig, die uns lehren, an den großen Fragen festzuhalten: Und da rangieren die Künstler sicherlich an vorderer Stelle. Sie stellen unser oft eindimensional fest zementiertes Weltbild immer wieder heilsam in Frage.

Nach dem 11. September 2001 wurde mancherorts beklagt, man vermisse in den Sparten des seriösen Kunstschaffens eine wirklich weiter führende Aufarbeitung dieses Ereignisses. Mancher äußert sich enttäuscht, dass die Künste bei solch weltverändernden Geschehnissen nicht sofort wohlfeile Antworten parat haben. So seien etwa die Atombombendetonationen von der Malerei und Plastik nicht angemessen bewältigt worden, und die Belletristik habe die deutsche Teilung und das Ende des Kalten Krieges nicht hinreichend aufgearbeitet. Ich halte derartige Vorwürfe nicht nur für unzutreffend, sondern nachgerade für töricht. Die Kunst ist doch nicht gleichzusetzen mit dem Pressefeature, das wir postwendend zu jedem konjunkturellen Tagesgeschehen frei Haus geliefert bekommen. Hauptsache, unser verunsichertes Weltbild wird durch eine plausibel klingende, pseudo-offizielle und populärwissenschaftliche Erklärung wieder gerade gerückt. Ob solche als Schnellschüsse losgelassenen Analysen des Weltgeschehens der Wirklichkeit entsprechen oder nicht, ist hier zweitrangig, man denke nur an die Massenvernichtungswaffen-These im Irakkrieg, die so viele Menschen so lange eingelullt hat. Die Medien geben uns vor, wie „man“ das Weltgeschehen richtig zu interpretieren hat. Die Kunst aber wehrt sich gegen das „man“. Martin Heidegger hat darauf verwiesen, dass der Mensch im Umgang mit den Kunstwerken aus der Uneigentlichkeit seines Daseins, seiner Verfallenheit an das „man“ herausgerufen wird in eine neue Eigentlichkeit. Nach Heidegger wird in den Werken der Kunst der Ruf des Seins, das „Seinsgeschick“ vernehmbar, das in jeder geschichtlichen Epoche neu und auf neue Weise in seine Wahrheit führen will. Die An-Fragen der Kunst bewirken beim Rezipienten, dass dieser die Schein-Welt dessen, was „man“ sagt, was „man“ tut, was „man“ denkt, zu hinter-fragen lernt. Erst so kann sich das „Ins-Werk-Setzen der Wahrheit des Seienden“ – wie Heidegger es ausdrückt – in seiner ganzen befreienden Tragkraft ereignen.

Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Es geht am genuinen Wesen der Kunst vorbei, in ihr die Lieferantin gebrauchsfertiger Antworten für jede Lebenslage zu sehen. Sie wirkt dann am intensivsten, wenn sie uns durch ihre mäeutischen An-Fragen aus unserer Verfallenheit an das „man“ befreit und Mut verleiht, uns unseres eigenen kreativen Denkens und Fühlens zu bedienen, das häufig unter den Sedimenten unserer Trägheit verschüttet liegt. „Die Welt im Spiegel der Kunst“: Das soll mithin nicht die Jahrmarktattraktion eines Zerrspiegels sein, der uns durch seinen spektakulären Unterhaltungseffekt von der Wahrheit ablenkt und uns eine Schein-Wahrheit vorgaukelt. Sondern das soll ein Spiegel sein, der die Wirklichkeit – auf das Eigentliche und Wesentliche fokussiert – in den Spiegel unserer eigenen Augen zurückprojiziert, auf dass sich die Wahrheit in uns selbst ins Werk setze. Die An-Fragen der echten, großen, authentischen Kunst kommen zumeist nicht marktschreierisch, sondern eher leise daher. Sie sind in dieser lauten Welt leicht zu überhören. Lauschten wir doch nur öfter und inniger den leisen An-Fragen der Kunst, dann würden wir erkennen, dass Kunst etwas vermag, was den modernen Kommunikationsmedien nicht zu Gebote steht: Kunst kann zur Prophetie werden. Als Beispiel möchte ich eine kleine Arbeit von Joseph Beuys aus dem Jahr 1976 anführen. Es ist eine in drei Multiplexvarianten bearbeitete Postkarte mit dem Titel „Cosmos und Damian – World Trade Center“. Zu sehen sind aus halber Vogelperspektive die berühmten Twin-Towers, auf die der Künstler in vertikaler Richtung handschriftlich die Namen der arabischen Zwillingsbrüder „Cosmos“ und „Damian“ geschrieben hat, wobei in der amerikanischen Schreibweise aus „Kosmas“ das die Bedeutung der Globalisierung einschließende Cosmos wurde. Die besondere Pointe lag darin, dass die beiden antiken Heiligen die „Geldlosen“ genannt wurden, weil sie für ihre Taten keinen Lohn verlangten. Dass ein sozialpolitisch engagierter Künstler wie Beuys die Twin-Towers als Symbol eines offensiven globalen Kapitalismus gezielt mit den Namen eines gleichsam anti-kapitalistischen arabischen Märtyrer-Paares verknüpft, hätte in seiner explosiven Brisanz eigentlich eine öffentliche Diskussion auslösen müssen; damals ist diese kleine Arbeit jedoch kaum wahrgenommen worden. Erst aus der Relecture des 11. Septembers heraus schaut man sie als prophetisches Zeugnis an, das einem kalte Schauer über den Rücken jagt.

„Die Welt im Spiegel der Kunst“ – wir täten gut daran, öfter und intensiver in diesen Spiegel zu blicken. Nicht, als ob dieser Spiegel ein illustratives Orakel für das künftige Weltgeschick sei – so vordergründig will ich das Beuys-Beispiel keinesfalls verstanden wissen. Kunst ist vielmehr in dem Sinne prophetisch, als sie über eine rein diskursive Welterschließung hinausreicht und auf die je größere Wahrheit verweist, die alle Grenzen des Diskurses und der menschlichen Erkenntnis sprengt. Sie bietet einen eigenständigen, durch Wissenschaft, Philosophie und Theologie nicht ersetzbaren Beitrag zum Verständnis von Welt und Existenz. Sie kann helfen, die „Zeichen der Zeit“ zu erkennen und richtig zu deuten. Denn sie ist Überwindung der die Wirklichkeit von Welt und Leben verhüllenden Gewohnheit. Kunst ist gerade so Steigerung des Lebens, der Lebendigkeit in Freude und Leid, in Sympathie und Empathie, was nicht zuletzt den Gemeinschaftscharakter gelingenden menschlichen Lebens zur Geltung zu bringen vermag. Kunst wird darin immer wieder zur Miterschafferin einer wahrhaft humanen Welt, die ja nicht reine Natur, sondern wesensmäßig Kultur ist. Kunst weckt die Sehnsucht nach Lebensfülle, indem sie einerseits die Schattenseiten menschlichen Daseins einschließlich des Bösen und der Bosheit aufdeckt, andererseits die Bestimmung der menschlichen Seele zum Leben in Fülle immer wieder erfahrbar macht.

 

III.

Wenn die Kunst in der angedeuteten Weise das Leben, das Lebendigsein des Menschen zu fördern vermag, dann ist das auch theologisch bedeutsam. Ist damit die Kunst ein klassischer „locus theologicus“? Wenn wir hier als Kriterium nur den theologisch unmittelbar relevanten Begründungszusammenhang ansetzen, wenn wir mithin im engsten Sinne von einem Fundort sprechen, an dem für die theologische Problemerörterung geeignete Argumente aufgefunden werden können, so ist die Kunst sicherlich nicht in die traditionellen „loci theologici“ – Heilige Schrift, Kirchenväter, scholastische Theologen usw. – einzureihen. Dehnt man aber im Sinne der „anthropologischen Wende“ des Zweiten Vatikanischen Konzils den Begriff „locus theologicus“ auf den Entdeckungszusammenhang der Theologie aus, dann gerät unweigerlich auch die Kunst als wichtige Quelle in den Blick. Aber ist das nicht ein Verrat an der alten kirchlichen Tradition? Ist es statthaft, in der von Menschen hervorgebrachten Kunst nach Spuren der Offenbarung zu suchen? Ist es nicht die erste Bestimmung des Christen, in seinem irdischen Leben Gott zu ehren und so die ewige Seligkeit zu erlangen, wie es frühere Katechismen formulierten – sind mithin die „loci theologici“ nicht ausschließlich in den kanonisierten Quellen der jüdisch-christlichen Offenbarung zu suchen? Ein eindrucksvolles Wort des frühen Kirchenvaters Irenäus von Lyon aus dem zweiten Jahrhundert hilft hier weiter: „Gottes Ruhm ist der lebendige Mensch“. Irenäus sagt weiter, dass „schon die Offenbarung Gottes durch die Schöpfung allen, die auf Erden leben, das Leben verleiht.“ Wo, wenn nicht im Raum dieser lebensspendenden Schöpfungsoffenbarung ist die Kunst anzusiedeln! Im heutigen theologischen Verständnis sind „natürliche“ und „übernatürliche“ Offenbarung Gottes doch nicht mehr so scharf trennbar, wie das in manchen Spielarten neuzeitlicher Theologie geschehen ist. Und da der Geist Gottes überall wirken kann und wirkt, vermag nicht nur die im eigentlichen Sinn religiöse Kunst an der lebensspendenden Selbstoffenbarung Gottes Anteil zu geben, sondern die Kunst überhaupt. Die Kunst ist und schafft also Teilhabe am Leben in Fülle, d.h. sie macht die Menschen zu lebendigeren Menschen und weckt zugleich die Sehnsucht nach dem vollendeten Leben in Fülle. Sie ist, wie es Papst Johannes Paul II. in seinem berühmten Brief an die Künstler formuliert hat, eine „Stimme der universalen Erlösungserwartung“

Dass die heutige katholische Kirche die Kunst als potenziellen „locus theologicus“ begreift, ist freilich Ergebnis eines sehr wechselhaften Beziehungsdramas zwischen Kirche und Kunst, das unleugbar auch Verletzungen zeitigte. Bis ins 20. Jahrhundert hinein hatte die Kirche der Kunst eine geistige Autonomie weitgehend abgesprochen und sie somit als ebenbürtige Gesprächspartnerin abgelehnt. Noch im Jahr 1870 heißt es beispielsweise in dem Handbuch „Die Kunst im Dienste der Kirche“ des Regensburger Domvikars Georg Jakob: „Allein die Kunst, die der Kirche dienet ... ist die höchste Kunst, die vorzugsweise wahre Kunst“ Die Kunst als Dienerin, die Kirche als Herrin. Das war über Jahrhunderte die gängige Konstellation. Erst als die Magd – um es etwas plakativ auszudrücken – eines Tages kündigt und sich selbstständig macht, trat im Verhältnis Kirche-Kunst eine nachhaltige Änderung ein. Es war dies der Beginn eines neuen Kommunikationsstils zwischen Kirche und Kunst, der zunächst einer langen Einübungsphase bedurfte, die unleugbar immer wieder auch von beiderseitigen Rückschlägen gekennzeichnet war. Ein wichtiger Schritt zur Versöhnung war zweifellos die Aufsehen erregende Vergebungsbitte, die Papst Paul VI. in seiner berühmten Ansprache an die römischen Künstler am 7. Mai 1964 auf eindrucksvolle Weise formulierte. Er rief den Künstlern zu „Wir erkennen an, dass wir Euch Leid zugefügt haben [...] Wir haben Euch oft mit Lasten beschwert ... Verzeiht uns!“

Heute stellt das Autonomie-Thema im Dialog zwischen Kirche und Kunst zum Glück kein ernsthaftes Konfliktpotential mehr dar. Reibungsflächen ergeben sich wohl eher in der Vielfalt individueller künstlerischer Konzepte, die ihre eigene Wirklichkeit behaupten und das bildnerische Material zwar zwanglos fortschreiben, sich aber dessen komplexer theologischer und kunstgeschichtlicher Substanz oftmals gar nicht mehr vergewissern wollen. Das zeitgenössische Selbstverständnis der Künstler lässt keine Einvernehmlichkeit der Zeichen mehr gelten. Es besteht gerade darin, immer neue Abweichungen oder Umdeutungen zu schaffen und Bilder zu erfinden, die den Menschen als existenzielle Mitte verorten, von der aus dann das Diesseits und das Jenseits bestimmt werden können. Vor diesem Hintergrund muss sich im Verhältnis zur Kirche zwangsläufig eine Spannung ergeben: Denn das kirchliche Wirken gründet genuin auf einem fest gefügten Zeichenapparat, der ihr Wertesystem repräsentiert. Weil für die Kirche diese tradierten Zeichen unaufgebbar identitätsbildend sind, kann sie Abweichungen und Umdeutungen mit ihrem Kanon nur schwerlich vereinbaren. Mithin wird zwischen Kirche und Kunst immer ein bipolares Spannungsfeld bestehen bleiben. Es ist dies aber, soweit ich die jetzige Situation übersehe, durchaus keine lähmend-blockierende Spannung, sondern ein energetisches Spannungsfeld, das mobilisierende Dynamiken entfesselt und folglich große Chancen birgt.

Will man das Verhältnis von Kirche und Gegenwartskunst ohne jegliche Schönfärberei markieren, so kann man es am besten als ein verbundenes Getrenntsein oder ein getrenntes Verbundensein umschreiben. Die Unkenrufe, die eine irreversible Funkstille zwischen Kirche und aktueller Kunst konstatieren, haben genauso Unrecht wie jene, welche die Gegenwartskünstler hinterrücks taufen wollen, indem sie in jedem zeitgenössischen Kunstwerk sogleich Artikulationen des Religiösen wittern. George Steiner hat ja mit seinem viel diskutierten Essay „Real presences“ 1989 die steile Behauptung aufgestellt, alle Kunst, wenn sie denn diesen Namen verdient, sei religiös. Dem dürfte die Selbsteinschätzung vieler Gegenwartskünstler wiedersprechen, die schöpferisch den Gottesthron lieber selber besetzen und – wie vorläufig und endlich auch immer – es zumindest zum Genie, einem kleinen Gott also, bringen wollen. Obgleich also gewisse Spannungen zwischen Kirche und Gegenwartskunst nicht beschönigt werden sollen, ist nicht zu leugnen, dass Kunst und Theologie, Kunst und Kirche heute wieder ganz neu aufeinander verwiesen sind: Man kommt nicht umhin, sich darüber Gedanken zu machen, wie und warum die visuellen Künste heute religiöse Themen aufgreifen und ununterbrochen weitertransportieren in die Reflexion einer Gesellschaft, die sich als eine säkulare begreift, sich aber spätestens seit dem 11. September 2001 und in Europa seit dem Anschlag von Madrid intensiv mit den soziopolitischen Dimensionen von Religion auseinandersetzt und auch im Bereich der privaten Sinnsuche einer im Obskuranten diffundierenden Religiosität anhängt. Es gibt ein wachsendes Bedürfnis nach transzendentem Sinn, das die Kirchen in der so genannten „ersten Welt“ offenbar nicht mehr ausreichend befriedigen können. Ein Bedürfnis, das sich nunmehr auch in Venedig, Kassel und an anderen künstlerischen Ereignis-Orten auf unübersehbare Weise Bahn bricht. Es wäre nicht schwer, ähnliche Vorgänge auch in der Diskussion der bioethischen Grundprobleme zu entdecken.

Gemäß dem Sendungsbefehl ihres Stifters Jesus von Nazareth ist es der Kirche aufgetragen „in alle Welt, bis an die Grenzen der Erde“ zu gehen, d.h. – auf die heutige Situation übertragen – auch in die Kunstakademien, Künstlerateliers, Kunstausstellungen zu gehen, eben überall dorthin, wo sich die Welt ästhetisch artikuliert. „Die Kirche braucht die Kunst“ schreibt Papst Johannes Paul II. in seinem bereits zitierten Brief an die Künstler. Wenn die zeitgenössischen Künste heute immer wieder Sujets wie „Anfang und Tod“, „Schmerz und Erlösung“, „Hoffnung und Verzweiflung“, „Identität und Endlichkeit“ thematisieren, dann darf dies mithin nicht ausgerechnet bei den Kirchen, denen doch von ihrem ureigenen Auftrag her eine tiefe Affinität zu diesen Existenzfragen eignet, an einer Mauer des Desinteresses abprallen. Die Kirche muss vielmehr das in der Gegenwartskunst so eindringlich wiedergespiegelte Weltbild in seiner ganzen Struktur zwischen Verzweiflung und Hoffnung, ja auch in einer Sehnsucht nach so etwas wie Erlösung als Heraus-Forderung im eigentlichen Wortsinn begreifen: Als Forderung, aus der Begrenzung der Binnenorientierung heraus zu treten und sich den drängenden Sehnsüchten, Ängsten und Konflikten zu stellen, die sich jenseits des semantisch Auszudrückenden in der nonverbalen Sprache des Bildes artikuliert. Das kann nur gelingen, wenn die Theologie versucht, dem Kunstwerk in seiner ihm eigenen Dignität nachzukommen, seiner eigentümlichen Sinnspur zu folgen und sich darin selbst zu erweitern und zu erneuern, also sich einen Sprachgewinn durch das Bild hindurch zu erarbeiten. Das heißt nicht, dass der bildliche Bedeutungs-Überschuss vollends diskursiv eingelöst werden könnte, sondern dies definiert eine Bedingung – jenseits derer freilich ein Bild für die Theologie auf sich selbst beruhen muss. Diese Bedingung impliziert zugleich die Erwartung, dass ein Kunstwerk, indem man auf seine Bildlichkeit eingeht, theologisch zu denken, zu sprechen und vielleicht auch zu handeln aufgibt. Bei diesem Umsetzungsversuch darf die Theologie nicht auf das verzichten, was im Rahmen der Kunstwissenschaft zu einem vorliegenden Kunstwerk zu schreiben oder zu sagen ist. Sie braucht das schon als Widerstand gegen ihre Neigung, Neues auf längst Gesichertes und Bekanntes zu reduzieren.

Heutige wissenschaftliche Theologie erscheint überwiegend als Literatur- und Textwissenschaft, die Urtexte, Kommentare und Kommentare zu Kommentaren immer neu auslegt. Die wissenschaftliche Erfassung der visuellen Spuren religiösen Bewusstseins bleibt hierbei ein weitgehend unerfülltes Desiderat, und man muss leider feststellen, dass die wenigen, überaus erfreulichen Aufbrüche wie etwa die in Münster angesiedelte Arbeitsstelle für christliche Bildtheorie, theologische Ästhetik und Bilddidaktik oder die Bildtheologische Arbeitsstelle der Universität Köln im Kernbereich kirchlicher Pastoral, in der Ausbildung und im Denken hauptberuflicher Theologen sowie im intellektuellen Selbstbild der Kirche noch längst nicht so rezipiert sind, wie es ihnen zustünde. Dies bezeugt einen Mangel, der als fundamentales theologisches Defizit zu bezeichnen ist: Eine Bild- bzw. Kunst-Theologie als Disziplin des theologischen Fächerkanons konnte sich noch nicht allgemein etablieren. Dies erscheint gerade auch vor dem Hintergrund der wissenschaftstheoretischen Selbstverständigung in den Geisteswissenschaften als Defizit. Haben uns doch etwa die vergleichende Religionswissenschaft und die Ethnologie schon längst darüber belehrt, wie wichtig Bilder und Rituale für die religiöse Anthropologie sind. Künstlerisch-ästhetische Ausdrucksformen gehören eben schlechthin zum Menschen. Eine Theologie, die den ganzen Menschen umfasst, kann es sich nicht leisten, ihn auf seine kognitiven Möglichkeiten zu reduzieren und die expressiven und emotionalen Anteile des menschlichen Bewusstseins nur insofern zum Vorschein zu bringen, als sie eins-zu-eins in Sprache übersetzbar sind. Gerade weil die Kunstgeschichte eine wissenschaftstheoretische Wende zur Bildanthropologie zu vollziehen im Begriffe ist, wäre die Etablierung einer kompetenten Bildtheologie auch interdisziplinär anschlussfähig an diese kunstwissenschaftlichen Diskurse.

Ich erinnere in diesem Kontext an die Leitlinie der Deutschen Bischofskonferenz „Kunst und Kultur in der theologischen Aus- und Fortbildung“ von 1993, in der manches von dem gerade Gesagten bereits antizipiert ist. Es wäre wünschenswert, wenn diese Schrift, die bislang weitgehend ungehört verhallt ist, in ihrer bleibenden, ja steigenden Aktualität ernst genommen würde und ihre Impulse endlich umgesetzt würden. Es ist dringend erforderlich, dass das theologische Interesse an der Bildenden Kunst schrittweise über den Bereich der klassischen christlichen Ikonographie ausgedehnt wird und gerade auch die zeitgenössischen visuellen Künste als „loci theologici“ wahrgenommen werden. Das ist unleugbar mit Risken und Nebenwirkungen verbunden, zu denen ich mich auch gerne befragen lasse: Es ist nicht auszuschließen, dass es in der kirchlichen Auseinandersetzung mit der Gegenwartskunst zu neuen Wahrnehmungen und Einsichten kommt, die in den Diskurs der Theologie fundamental eingreifen, ihn also nicht nur ornamental umspielen, wie das bei der klassischen Ikonographie zumeist der Fall ist. Es bleibt mithin nicht aus, dass die Theologie mit dem Problem der Privatoffenbarung, mit dem Problem der wahren Lehre, ihrer Entwicklung in Säkularisierungen oder gar echten und vermeintlichen Blasphemien konfrontiert wird. Vor solchen Konfrontationen braucht derjenige keine Angst zu haben, der über Empathie und Phantasie verfügt. Er wird sich gerne heraus-fordern lassen und dies als ebenso spannend wie bereichernd empfinden. Denn zu den Entdeckungen, die sich mit Kunst machen lassen machen, gehört auch die Entdeckung neuer Weisen, mit ihren Problemimplikationen schöpferisch weiterzukommen.

Ein Werk von Prof. Arnulf Rainer hat mich verführt, zu einem sehr reizvollen Thema einige Überlegungen angestellt zu haben. Ich danke Ihnen, dass Sie mir dabei so aufmerksam zugehört haben. Vielleicht geht es dem einen oder anderen unter Ihnen genauso wie mir: Am liebsten würde ich mit dem hier versammelten Kreis illustrer Künstler, Kunstkenner und Wissenschaftler über das ja nur schlaglichtartig gestreifte Thema noch ausgiebig diskutieren. Indes: Die Zeit gehört nun dem eigentlichen Anlass dieses Festaktes. Ich freue mich außerordentlich, dass die Katholisch-Theologische Fakultät Münster den theologischen Ehrendoktor an Arnulf Rainer verleiht, der mit seinem bedeutenden Werk viele wichtige Impulse für Kirche und Theologie gegeben hat.

Ich glaube nicht, dass diese Feststellung einem Satz Arnulf Rainers widerspricht: „Kunst und Kirche kommen nicht mehr zusammen; es ist gut, wenn sie sich von ferne freundlich grüßen.“ Beide sind ohnehin schon öfter totgesagt worden. Aber offenbar leben gerade Totgesagte, wenn auch durch Verwandlungen hindurch, länger. Aus einer nachbarschaftlichen Nähe, die keine Identität vorgibt, dennoch bei aller Fremdheit wechselseitig inspiratorisch wirkt, gibt es vielleicht doch unverhoffte, aber gerade dadurch fruchtbare Begegnungen. So kann man lernen, einander zu achten, auch wenn man sich nicht völlig versteht.

„Die Welt im Spiegel der Kunst“ – uns ist eine Existenz zugesagt, in der alle unsere Erlösungssehnsüchte eingelöst sein werden, wo wir unsere Träume nicht mehr in einen Spiegel projizieren müssen, weder in den Spiegel der Kunst, noch in den Spiegel der Theologie. Diese Verheißung hat der Apostel Paulus im Korintherbrief ganz unvergleichlich ins Wort gebracht, und mit diesem Wort möchte ich schließen: „Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin.“ (1 Kor 13,12)

(c) Karl Kardinal Lehmann

Es gilt das gesprochene Wort.

Das Original beinhaltet noch eine Vielzahl von Fußnoten

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz