Statement beim Symposion "Zukunftsfragen der Gesellschaft" der Akademie der Wissenschaften und der Literaturam in Mainz
Gewiss kann man die Grundausrichtung unserer gegenwärtigen Gesellschaft mit verschiedenen Kennzeichnungen umschreiben. Schlagworte sind und bleiben dabei freilich gefährlich, denn sie können wahre Erkenntnis eher trüben oder gar verhindern. Aber in ihnen verbirgt sich manchmal auch ein Potential an Erkenntnischancen, wenn man sich die Mühe macht, den oberflächlichen Flitterglanz abzutragen. Solche Begriffe sind z.B. Säkularisierung und Pluralisierung, Globalisierung und Individualisierung. Es gibt jedoch auch Strukturen, die keinen eindeutigen Begriff dieser Art haben und dennoch relativ spezifische Erkenntnisse zur Sprache bringen können. Ich möchte eine solche Chiffre im Begriff der beschleunigten Gesellschaft erblicken und ihr ein wenig nachgehen.
I.
Der Umgang mit der Zeit ist ein zentrales Problem aller Gesellschaften. An der Zeitorganisation lassen sich, so ist zu vermuten, besser Mentalitäten ablesen als durch andere Dinge. Jedenfalls scheint die Zeit das am meisten traktierte Thema des modernen Menschen zu sein. Der eklatante Mangel an Zeit steht dabei im Mittelpunkt. Wer etwas auf sich hält, kann es sich nicht leisten, Zeit in Hülle und Fülle zu haben. Nur geschäftige Eile verrät scheinbar etwas von der Bedeutsamkeit des anderen. Die Schnelligkeit als Kriterium für Rang und Erfolg frisst sich immer mehr in unsere Lebensbereiche hinein, selbst etwa in den der Erholung. Man hat nicht so viel Zeit für die Bräunung, zehn Minuten für den Saunagang sind schon zu lang. Die Zeitknappheit enthält freilich geradezu widersprüchliche Elemente. Weil nicht viel Zeit zur Ausführung einer Sache gegeben ist, stimuliert sie in gesteigerter Weise Erfindungsgeist, Planung und Produktion. Die Innovationen überschlagen sich, gerade wenn die Zeit knapp ist. Vieles bleibt aber eben auch wegen der Zeitnot brach liegen, es wird nicht ausgeführt.
Nun hat dies offenbar auch grundlegend etwas mit dem Doppelgesicht der Zeit und der menschlichen Zeiterfahrung zu tun. Die Zeit bringt Heil und Unheil, sie ist segensreich und vernichtend, wohltuend und unerbittlich. Die Sprichwörter der Völker haben diese Erfahrung zur Sprache gebracht. Die Zeit frisst alles und ist ein Tyrann. Sie ist ein Räuber und ein Dieb. Dabei erschreckt vor allem die unheimliche Flüchtigkeit, die eng mit der eigenen Vergänglichkeit erfahren wird. Was über die flüchtige Zeit gesagt wird, gilt auch für das verrinnende Leben. Die Zeit ist Leben, und Leben ist Zeit. Nicht zufällig wird sie von alters her auch mit dem fließenden Wasser verglichen. Sie fließt weg wie Wasser. Aber es gibt auch die heilende Erfahrung der Zeit. "Die Zeit heilt alle Wunden", sie ist "der beste Arzt". "Kommt Zeit, kommt Rat."
Die Zeit ist so zwar weitgehend dem menschlichen Zugriff entzogen, der Mensch ist ihr in seiner Vergänglichkeit ausgeliefert. Es bleibt dem Menschen aber doch möglich, verantwortlich zu handeln. Mit Klugheit muss er die Zeichen der Zeit beachten, seine Ungeduld bändigen und sich bewusst bleiben, dass alle Dinge ihre Zeit haben. Man kommt am besten mit der Zeit aus, wenn man die rechten Dinge zur rechten Zeit tut ("Kairos"). Die Zeit richtet sich nicht nach uns. Genau dies aber ist besonders für den heutigen Menschen ärgerlich. Er möchte nicht hinnehmen, dass die Zeit über ihn herrscht. Sie stört in ihrer eigenen Souveränität die Sicherheit und Berechenbarkeit unserer Welt. Darum soll sich die Zeit menschlichen Absichten fügen. Sie kann ja ohnehin immer schon gespart, gewonnen und verloren werden. Die Zeit ist nicht nur messbar, sondern auch planbar, teilbar und kalkulierbar geworden. Man kann sie optimal nutzen. "Zeit ist Geld." Einem solchen Verständnis erscheint die Zeit nur als zuverlässig, wenn der Mensch sie fest im Griff hat. Vieles ist schon durch eine Form der Zeit bestimmt, die ihm zugebilligt oder vorgeschrieben wird. Es gibt z.B. die Vorherbestimmung des Eintreffens und Wiederverschwindens von Dingen.
II.
Eine gewisse Beschleunigung kultureller und gesellschaftlicher Ereignisse hat es wohl immer gegeben. Man wollte die Dinge nicht einfach treiben lassen. Naturwüchsigkeit allein war kein Kriterium. So gab es immer Antriebe und Schübe zu einer größeren Geschwindigkeit der kulturellen und wohl auch gesellschaftlichen Entwicklung. Manches deutet nun darauf hin, dass sich dies vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch einmal entscheidend ändert. Das Phänomen der Revolution bezeugt in besonderer Weise eine gewollte Beschleunigung, die alle bisherigen Formen von Geschwindigkeit übertrifft und "überholt". "Alt" und "Neu" verschieben sich mit einer unglaublichen Schnelligkeit. Beides wird unter den Perspektiven von Effizienz und Gebrauchsfähigkeit gesehen. Das Neue setzt sich durch als Folge einer größeren Leistungsfähigkeit. In dieser Perspektive kann alles ersetzt werden, wenn die Funktionstauglichkeit gleich groß oder noch größer ist. In diesem Sinne zerbricht auch das relativ ausgeglichene oder ausgleichende Netz, das sich zwischen Vergangenheit als gewesener Geschichte, Gegenwart und Zukunft spannt. Hermann Lübbe spricht in diesem Zusammenhang von der "Gegenwartsschrumpfung", weil das jeweils Gültige immer rascher abgelöst wird. Man kann der Geschichte kaum mehr folgen. Dem Menschen werden immer kleinere Zeitspannen aufgenötigt, sodass er kaum mehr Erfahrungen machen kann. So etwas wie Gegenwart wird immer schneller und vorläufiger erlebt. Ein ungeheurer Geschwindigkeitsimpuls geht besonders von der Informationswirtschaft aus. Es gibt geradezu ein rauschhaftes Behagen an Geschwindigkeit. Die angeblichen oder wirklichen Innovationen übertreffen sich so schnell, dass sie kaum mehr sorgfältige Auswertungen erlauben. Entsprechend anfällig und verletzlich ist der Markt, und dies von der Nachfrage über den Absatz bis zur Börse.
Wer mitten im Fluss der Zeit steht, tut sich im Urteil schwerer. Uns beschäftigt mit Recht die Sorge, dass bei uns eine Zweidrittelgesellschaft entsteht, in der ein Drittel der Menschen bei diesem Tempo einfach nicht mehr mitkommt und womöglich abgehängt wird. Dies könnte insgesamt böse Folgen haben. Freilich, vielleicht unterschätzen wir auch frühere Veränderungen. So ist wahrscheinlich der Schock, den die Menschen im Zusammenhang der frühen Industrialisierung erlitten haben, nicht kleiner als die von uns erfahrene Verschärfung des Tempos aller wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozesse.
Was kann man hier an Eingriffen empfehlen, soweit man die Entwicklung überhaupt steuern und beeinflussen kann? Es hat keinen Sinn, Einstellungen zu empfehlen, die von Ignoranz, naivem Utopismus oder abgrundtiefer Skepsis bestimmt sind. Sicher darf keine Gesellschaft entstehen, die in eine Elite gespalten ist, die das hohe Tempo der Beschleunigung mehr oder minder bereitwillig, jedenfalls grundsätzlich befähigt mitmacht, und in eine neue Unterschicht, die sich in einem hohen Maß dem Aussteigen oder Sichverweigern ausliefert. Es gibt jedoch zweifellos auch Gefährdungen, die alle betreffen. Eine solche sehe ich im Zwang, sich immer stärker den schneller provozierten Veränderungen, vor allem im Kontext der Technik, anzupassen und sich dabei letztlich zu unterwerfen. Dies mag zwar in erster Linie unsere technische Lebenswelt betreffen, aber durch ihre Verflechtung mit der Kultur und fast allen Sachbereichen unseres Daseins wird von dieser Gefährdung sehr vieles affiziert und mitbestimmt. Die Beschleunigung unserer Zeit, die uns immer schneller davonläuft, verkürzt die Erfahrungsräume. Damit werden aber auch Kontrolle, Überprüfung und Revision erschwert. Man muss kein notorischer Kulturpessimist sein, wenn man am Ende angesichts dieser subjektlosen Prozesse Sorge wegen des Erhalts unserer individuellen und politischen Freiheit hat.
III.
Angesichts dieser Gefahren möchte ich im Rahmen und in den Grenzen dieses Beitrags auf einige Perspektiven aufmerksam machen, die sich als richtungsbestimmende Tendenzen zur Balance und Korrektur verstehen:
Auch wenn die beschleunigte Zeit im beschriebenen Sinne alle Lebensbereiche betrifft, so darf dieses Zeitverständnis nicht alle menschlichen Tätigkeiten und Beziehungen bestimmen. Die alte Weisheit bleibt richtig, dass die verschiedenen Dinge jeweils ihre Zeit haben. Die Eigengesetzlichkeit der menschlichen Lebensbereiche, wie z.B. Kunst und Wissenschaft, Menschlichkeit und Religion, Solidarität und Liebe, muss geschützt und offensiv verteidigt werden. Nur so kann man angesichts bestimmter Gefährdungen überhaupt gegensteuern. Dies ist nicht hoffnungslos. Man braucht dafür nicht auszusteigen. Im Gegenteil, durch die immer größer werdende Freizeit gibt es "Zeit-Räume", die mehr als bisher für alternative menschliche Verwirklichungsformen und Sinnfindungen zur Verfügung stehen. Aber man darf sich hier nicht einfach von der Freizeitindustrie ("wir amüsieren uns zu Tode") beherrschen lassen, sondern man muss diese Freizeit-Räume diesem Trend entreißen und sie selbst gestalten.
Diese Fähigkeit zur Gestaltung der Zeit-Räume des Menschen, besonders der Freizeit, ist nur möglich, wenn sie der schöpferischen Selbstbestimmung entspringt. Wenn der Mensch nicht mehr nur den Notwendigkeiten der Natur und der Produktivität unterworfen ist, muss er freilich in ganz neuer Weise Herr seiner selbst werden und entsprechend seine Freiheit gebrauchen. Wenn dies nicht möglich ist, dann kann das Individuum sich nicht entfalten und wird sich selbst zu einer schwer erträglichen Last und zum größten Problem. Der Mensch würde so ein Opfer der Zeit und der jeweiligen Verhältnisse. Um zu dieser neuen Form der Selbstbestimmung zu gelangen, bedarf es freilich einer elementaren Erneuerung von Erziehung und Bildung. Dies ist auch der tiefere Sinn der immer wieder versandenden öffentlichen Diskussion.
Zur Gewinnung der menschlichen Selbstbestimmung kommt man letztlich nur durch das rechte Verhältnis der Zeitdimensionen. Wir sind weder bloß von gestern, auch nicht nur heutig und gewiss nicht nur von morgen. Es gibt für den Menschen eine innere "Erstreckung" (distentio) der Zeit, die sich als Erinnerung ("memoria") in die Vergangenheit, als Anschauung ("contuitus") in die Gegenwart und als Erwartung ("expectatio") in die Zukunft bezieht. Nur in diesem Spannungsbogen kann der Mensch die Zeit als Gegenwart erfahren, die so trotz aller Flüchtigkeit eine gewisse Stetigkeit gewährt. Sonst gibt es auch keine Offenheit in die wahre Zukunft hinein. Geschichte, Kunst und Literatur sind schöpferische Kräfte bei dieser Vergegenwärtigung.
Diese Form der schöpferischen Selbstbestimmung mitten in der Zeit braucht, wenn sie in ihrem Fluss nicht einfach mitgerissen werden will, die Bereitschaft zur Reflexion, zur Nachdenklichkeit, zur Disziplin, zu den Tugenden im klassischen Sinn, zu einem Leben jenseits der Ökonomie. Daraus kann auch eine neue Kultur der Verantwortung entstehen. Diese muss sich von einem Wahn der Omnipotenz und Machbarkeit von allem befreien. Hier könnte es auch einen wichtigen neuen Zugang zu Religion und Glaube geben. Nur wenn wir die Zeitlichen bleiben und uns nicht zum einzigen Herrn der Zeit aufwerfen, können wir auch die Gelassenheit und die Heiterkeit wiedergewinnen, die zum rechten Umgang mit der Zeit gehören. Wenn wir uns im Leben auf ein Ziel hin bewegen, das wir nicht geschaffen haben, wenn wir alles so einem letzten Vorbehalt unterstellen ("eschatologischer Vorbehalt"), bei dem Sein und Schein erst in einer letzten Krisis geklärt werden, kann ein neues Zeitgefühl entstehen, das wir gerade in dieser Spannung gebrauchen. Das Leitwort für das Jahr 2000 und die Jahrtausendwende ist darum nicht nur gut biblisch, sondern lässt auch tiefer in die Gegenwart und Zukunft hinein blicken: "Sein ist die Zeit."
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copyright: Bischof Karl Lehmann, Mainz
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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