Die Wege in die Zukunft haben überall faszinierende Perspektiven aufgezeigt, die wohl am stärksten im Bereich der Wirtschaft erkennbar und fruchtbar werden. Zugleich ist aber auch bei diesen neuen Wegen deutlich geworden, wie sehr die Entwicklung auch von zwiespältigen Momenten geprägt ist. Es gibt nicht nur die hellen, sondern auch dunklen Seiten.
Nun, so könnte man sagen, war das immer so. Die Vorderseite des Fortschritts war begleitet von der Rückseite der meist unbeabsichtigten Nebenwirkungen, die weniger glanzvoll waren. In den letzten Jahrzehnten war es nicht nur eine seichte und oberflächliche Zivilisations- und Technikkritik, die mit großer Skepsis die negativen Folgen betonten, sondern ernsthafte philosophische und sozialwissenschaftliche Studien sprachen von der Dialektik der Aufklärung und auch des zivilisatorischen Fortschritts.
In den letzten Jahren ist diese Erfahrung jedoch noch gesteigert worden. Man glaubte, dass die Moderne vielfach gescheitert sei, auch wenn vielfach gar nicht genügend gefragt worden ist, worin denn die Moderne besteht. Einige meinten, die Moderne habe sich eine unlösbare Aufgabe gestellt. Ihr Anspruch, die Welt durchschaubar zu machen sei von vornherein zum Scheitern verurteilt. Sie wollte Ordnung schaffen, eine Gesellschaft ohne Konflikte konstruieren, einen Staat gründen, der – zum Wohl der Allgemeinheit – alle Macht an sich zieht. Sie wollte ein Universum der Eindeutigkeit, einen Garten Eden. So sind viele Zielvorstellungen nicht erreicht worden: absolute Wahrheit, reine Kunst, Humanität als solche, Gewissheit, Harmonie. So hat der in England lehrende Soziologe Zygmund Bauman (Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Hamburg 1992, auch Fischer Taschenbuch 12688, Frankfurt 1995) die These vertreten, dieses Scheitern rühre hauptsächlich daher, weil der Anspruch der Moderne an der grundsätzlichen Ambivalenz der Welt und der Zufälligkeit unserer Existenz, unserer Gesellschaft und unserer Kultur gescheitert sei. Jeder Versuch, diese Tatsache aus der Welt zu schaffen, habe immer nur neue Ambivalenzen erzeugt, sodass ein Teufelskreis entstand, alles Ambivalente zu vernichten. Ein neues Denken sei notwendig, das ganz anders mit den Schattenseiten der Moderne umgehe. Erst die Postmoderne verabschiede sich von dem Versprechen, eine übersichtliche Welt zu schaffen. Sie erkennt, dass der Wille, die unabänderliche Zweideutigkeit menschlicher Existenz aufzuheben, gleichbedeutend ist mit dem Willen, den Menschen seiner Freiheit und Unergründlichkeit zu berauben. Der Mensch müsse lernen, mit dem Zwei- und Vieldeutigem zu leben, nur dann könne man auch tolerant sein und z.B. Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Nationalismus beherrschen.
Viele Titel von Untersuchungen zur Situation der Gegenwart setzen eine solche oder ähnliche Analyse voraus. Die Titel zeigen es schon an: "Das Ende der alten Gewissheiten", "Die schwierige Freiheit", "Abschied vom Prinzipiellen", "Eine Kultur ohne Zentrum". Dies hat auch dazu geführt, dass bestimmte Fragestellungen eher zurückgewiesen worden sind. Man will z.B. auf Letztbegründungen verzichten, strebt mehr nach vorläufigen Hypothesen. Deshalb wird rasch nach "Fundamentalismus" gefahndet. Das Ende der Eindeutigkeit bringe neue Denkstile hervor, die vor allem in der sogenannten Postmoderne erprobt worden sind.( Vgl. besonders zur Einführung W. Welsch. Unsere postmoderne Moderne, 3. durchgesehene Auflage, Weinheim 1991). Dazu gehört die Vorliebe für Brüche und Differenzen, Kontingenz und Vielheit, Auflösung des Ganzen, Unvergleichbarkeit und Widersprüchlichkeit. Grundbild für vieles ist die Pluralität und die Vorliebe für bleibende Widersprüchlichkeit: "Im individuellen Leben kann es zu Schlüsselsituationen kommen, wo ein Leben entweder zu Ende geht oder eine neue Form findet. Mancher musste von einem alten Schema, das ihn abwürgte, freikommen. Er wurde es durch einen andere Vision in der allein er fortan leben kann. Vergleichbares gibt es auch im kollektiven Leben. Auch hier kann es sein, dass überkommene Muster zunehmend nur noch Miseren erzeugen und zum Koma führen. Die Moderne hat eine solche Erfahrung mit sich gemacht. Als Postmoderne sucht sie sich davon zu befreien. Die Vision, der ihre Hoffnung gilt, ist die der Pluralität. Niemand kann für ihren Erfolg garantieren. Aber ihre Versprechen sind nicht grundlos. Es käme darauf an, sie beim Wort zu nehmen." (W. Welsch. Unsere postmoderne Moderne, 327f.)
Ich glaube nicht, dass es diesen Optimismus heute noch in dieser Form gibt und dass er berechtigt ist. Am Anfang wurden solche Positionen mit unbekümmerten Mut, aber auch mit Ironie vertreten. In der Zwischenzeit erleben wir, dass wir den Relativismus und Pluralismus der Werte nicht mehr genügend ausgleichen. So hieß ein Artikel des Bundesverfassungsrichters Prof. Dr. Udo Di Fabio "Die Suche nach dem Kompass. Wie kann Menschenwürde in einer fragmentierten Welt begründet werden?"( Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. Juni 2001, S. 10). Die Gesellschaft verständigt sich zwar in manchem, wie z.B. die zentrale Stellung des Begriffs Menschenwürde in vielen unserer Diskussionen beweist. Aber zugleich wird offenbar, dass wir das Zentrum verloren haben, das uns ein Verständnis wenigstens minimaler Gemeinsamkeit gewährt und stützt. Die bioethische Diskussion ist ein Musterbeispiel dafür. "Man spürt förmlich, wie die Menschen schwanken, ob sie weiter nach einem Letztgrund ihrer eigenen Revolution suchen wollen oder sich auf die Parzellierung der Vernunft in die Teilrationalitäten der Wirtschaft, der Wissenschaft und individuell utilitaristischer Präferenzen vollends einlassen sollen." (U. Di Fabio, ebd.) Das Heil wird oft in einem beinahe wieder absoluten Staat oder auch bei der Verfassungsrechtsprechung gesucht. Andere glauben, ein moralischer Diskurs nach philosophischen Prämissen wäre ein Lösungsweg. Die Entstehung eines nationalen Ethikrates hat gewiss damit zu tun. Aber Gremienentscheidungen behalten immer auch viele Probleme und Anfragen.
Ich möchte an dieser Stelle innehalten und fragen, wie in einer solchen Situation Wege in die Zukunft gefunden werden können. Wie kann man den Kompass finden in einer Gesellschaft ohne Zentrum? Kann man so einfach auf Gewissheiten verzichten oder schleichen sich darunter unkontrollierte Vorstellungen viel leichter ein? Ich möchte nicht aufgeben, auch hier nach verlässlichen Wegen in die Zukunft zu fragen, auch wenn die Antwort nicht einfach ist.
Es ist öfter so im Leben: je besser eine Sache im Alltag gelingt, um so weniger fragen wir nach ihr. Sie verbirgt sich gleichsam in dem, was sie leistet. Freilich, die Wissenschaften müssen gerade solchen selbstverständlichen Erscheinungen nachgehen und in gewisser Weise hinterfragen. Es ist gerade Aufgabe der Wissenschaft, nach diesen Gründen zu suchen und Rechenschaft zu verlangen, warum etwas so ist und nicht anders. Auf ihre Weise ist dies Aufgabe aller Wissenschaften, im Bereich des menschlichen Zusammenlebens besonders der Philosophie und der Sozialwissenschaften sowie der Theologie und der Religionswissenschaft.
Zu diesen Strukturen unseres menschlichen Zusammenlebens gehört die Sinnfrage. Oft stoßen wir auf sie erst voll, wenn wir einen Orientierungsverlust bemerken und Sinndefizite erfahren. Dies gilt nicht nur für den einzelnen Menschen, besonders wenn er in Lebenskrisen kommt, sondern dieses Phänomen zeigt sich auch im Leben der Gesellschaft. Hier ist es vor allem die Frage, was eine Gesellschaft zusammenhält. Dabei lässt sich dieses Problem nur beantworten, wenn man nicht nur zufällige und beliebige Faktoren des Zusammenlebens aufzählt, sondern wenn man auf die tragenden Bindungen der Menschen untereinander schaut. Der Soziologe Rolf Dahrendorf hat dies "Ligaturen" genannt. Diese Frage wird um so schwieriger, je mehr Sinnangebote und Weltanschauungen zur Beantwortung existieren, die nicht selten miteinander in Konkurrenz stehen. In den letzten Jahrzehnten hat man in diesem Zusammenhang auch von "Grundwerten" gesprochen (Zu den damit angesprochenen Grundfragen vgl. H.J. Meyer (Hg.), Dialog und Solidarität. Christen in der pluralistischen Gesellschaft: Kritische Zeitgenossenschaft und solidarisches Zeugnis der Hoffnung = Schriften des Instituts für Christliche Sozialwissenschaften 41, Münster 1999; Gegenwärtiges. Das Handbuch zur Diskussion um Grundwerte heute, hrsg. von E. Vanderheiden im Auftrag der Katholischen Erwachsenenbildung Rheinland-Pfalz, Mainz 1998).
Was sind Werte? Jeder Mensch strebt nach Werten. Der eine ist wichtiger als der andere Wert. Oberste Werte sind für die meisten Menschen Glücklichsein, Gesundheit, die Familie, ein gutes Einkommen und entsprechender Lebensstandard. Elementare Fragen stecken hinter den Werten als Aspekten zur Ordnung des Lebens: "Was ist richtig, was darf man, was darf man nicht tun? Wofür soll man sich Mühe geben? Wozu soll man Kinder erziehen? Was ist der Sinn des Lebens? Und gibt es etwas, wofür es sich lohnt, sein Leben einzusetzen?" (E. Noelle-Neumann/R. Köcher, Die verletzte Nation, Stuttgart 1987, 11) Viele Orientierungen sind uns als Antwort auf solche Fragen vertraut: Erfüllung in der Arbeit, Zufriedenheit durch Dienst für andere, Freude an vollbrachten Leistungen, Streben nach Selbständigkeit. Werte dieser Art beziehen sich auf das gesellschaftlich-politische, das kulturelle und das sittliche Leben des einzelnen Menschen und der Gemeinschaft. Sind dies auch Werte, die das Ganze einer Gesellschaft zusammenhalten?
Die Antwort geht dahin, dass die Gesellschaften durch gemeinsame Wertüberzeugungen und Normen zusammengehalten werden. Damit ist eine verpflichtende Rechts- und Sozialordnung gemeint, die sich auf Normen wie Menschenwürde, Freiheit und Gerechtigkeit bezieht, die bei aller Bedingtheit jedoch letztlich der gesellschaftlichen Verfügbarkeit entzogen sind. Die Moderne gibt die Antwort auf die Frage, was die Gesellschaft zusammenhält, jedoch nicht primär mit dem Hinweis auf die Verwurzelung dieser Werte in der Transzendenz, sondern in der Interessenlage des einzelnen und der menschlichen Gesellschaft. Besonders die Sozialwissenschaften fragen nach der Integration dieser vielfältigen Interessen in einer Gesellschaft. Sie verweisen uns besonders auf die wechselseitige Abhängigkeit der verschiedenen Funktionssysteme, wie Wirtschaft, Politik, Religion und Familie. Der gesellschaftlichen Arbeitsteilung entspricht die funktionale Abhängigkeit. Dies ist ein wichtiger Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt. Eine solche Integrationsleistung schafft auch das positive Recht, wie es uns in Abmachungen und Verträgen auf vielen Ebenen begegnet. Unsere sozialen Verhältnisse erhalten dadurch Festigkeit und Beweglichkeit zugleich. Denn dieses Recht wird nicht mehr als ewige Ordnung, sondern als ein mit den Umständen wandelbares Beziehungsgefüge verstanden. Ein weiteres wichtiges Element besteht in der Verknüpfung vieler Informationen und Meinungen in einer immer umfassender werdender Kommunikation. Die Kommunikationsnetze wachsen immer stärker zusammen. Auch dies stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Dabei setzt jedes menschliche Zusammenleben, das nicht auf Zwang begründet ist, die Anerkennung des Mitmenschen voraus. Dies zeigt sich ganz besonders in der Forderung nach Dialogbereitschaft und Dialog. Trotz anderer Überzeugungen und trotz anderer Interessen gibt es eine wechselseitige Anerkennung und darum auch eine grundlegende Solidarität der Menschen untereinander. Fragt man weiter nach einer tragfähigen Basis für diese Anerkennung und wechselseitige Achtung, so stößt man irgendwann auf die Menschenwürde.
Man kann hier innehalten und sich mit diesen Antworten begnügen. Die unvermeidliche Frage nach einem letzten Grund dieser Menschenwürde treibt uns jedoch weiter. Wo ist das Wurzelreich für so etwas wie "Grundwerte"? Kann man sich mit den innerweltlichen, kulturellen Überzeugungen begnügen? Gibt es überhaupt eine Letztbegründung, die dem Menschen bei weltanschaulicher und religiöser Freiheit wirklich gemeinsam sein kann?
Unter Voraussetzung der religiösen und weltanschaulichen Neutralität des modernen Staates, der unsere gesellschaftliche Lebensweise seit gut 200 Jahren bestimmt, wird unsere Frage dringlicher und schwieriger. Eine stärkere Organisationskraft in Richtung größerer Einheit allein reicht nicht. Die eingangs gestellte Frage radikalisiert sich, was denn die Gesellschaft im Innersten zusammenhält. Denn die konkrete Religionsausübung wird der Wahl des Einzelnen und der Gemeinschaften, die sich frei zusammenschließen können, anheimgestellt. Aus dieser Neutralität des Staates darf man jedoch keine falschen oder zumindest voreiligen Schlüsse ziehen. Wenn der Staat keine näher bestimmbare positive Beziehung zu dem von ihm freigegebenen Glaubens- und Gewissensbereich hat, so heißt dies nicht, dass die Verfassung und ihre Grundlagen wertneutral seien. Die Verfassung beschränkt sich nicht auf bloße Verfahrensregeln, wie man leicht schon an den sogenannten Grundrechten des Menschen sehen kann, wie z.B. Unversehrtheit des Lebens und Freiheit der Meinungsäußerung.
Es wird schon viel schwieriger, wenn man versucht, die inhaltlichen Konturen solcher gemeinsamer Grundlagen näher zu umschreiben, die einerseits nicht identisch sein dürfen mit den Aussagen einzelner Weltanschauungen und Religionen, andererseits doch genügend Motivationskraft in sich tragen müssen, um ein Staatswesen auch von innen her zusammenzuhalten. Wenn der Satz wahr ist, den Ernst-Wolfgang Böckenförde vor Jahren formuliert hat, nämlich: "Der freiheitliche säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann" (Staat - Gesellschaft - Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt 1976, 60), dann ist die Frage unvermeidlich, wie die vielen einzelnen Menschen, die sich jeweils ihre eigene Lebensorientierung und ihr religiöses Bekenntnis wählen, zu einer - wenigstens minimalen - Gemeinsamkeit kommen, die für den Staat als einheitsstiftende Kraft wirkt.
Ist die Gewährleistung der Freiheit des Einzelnen auf die Dauer für den Staat möglich, ohne dass es ein einigendes Band gibt? Dafür gab es verschiedene Antworten. Im 19. Jahrhundert hat man versucht, dieses Problem einer inneren Bindungskraft, die für eine gewisse Homogenität sorgt, mit der Idee der Nation zu lösen, verdeckte es dadurch aber auch für einige Zeit. Nachdem Nationalstaat und Nationalitätsbewusstsein in vielen Staaten ihre Bindungskraft eingebüßt hatten (Vgl. dazu besonders Th.Schieder, Nationalismus und Nationalstaat. Studien zum nationalen Problem im modernen Europa, hrsg. v. O.Damm und H.-U.Wehler, Göttingen 1991), mussten neue Fundamente gesucht werden. In der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, dem Grundgesetz, sind mit Absicht ein Katalog der Grundrechte und an ihrer Spitze die Menschenwürde an den Anfang gestellt. "Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen", lautet ein berühmter Satz bei der Vorbereitung des Grundgesetzes (Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10.-23.August 1948, München o.J., 61) vor 50 Jahren. So bestimmen heute in der Tat weithin die Menschenrechte den inhaltlichen Zusammenhalt und das tragfähige Fundament der Verfassung. Im Grunde ist dies eine Revolution in der Geschichte der Verfassung: Am Anfang stehen nicht die Staatsziele, sondern das Menschenbild.
Freilich gibt es hier auch von Anfang an Bedenken. Man wendet ein, dass konsequenterweise bei einem solchen Ansatz zwar eine Vielzahl von Angeboten im Hinblick auf Religion, Bildung und Lebensführung ermöglicht sei, dass der Mensch jedoch von der öffentlichen Lebensordnung her keine Vorgabe an Verbindlichkeit und Orientierung mehr erhalte. Alle Möglichkeiten des Lebensentwurfes, der Weltanschauung und der Religion erschienen nur noch in Form von konkurrierenden Angeboten, unter denen man frei auswählen könne.
Dies gilt dann auch für den Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens: Nur für den, der diesen Glauben schon angenommen hat, wird er auch verbindlich. Man sieht hier, dass das Wort von der "Freigabe" von Weltanschauung und Religion bei aller formalen Richtigkeit eine aufschlussreiche dialektische Zweideutigkeit erhält. "Freigabe", die mit dem Schutz der Glaubens- und Religionsfreiheit sowie des Gewissens des Einzelnen einhergeht, bedeutet auf der einen Seite eine elementare Gewährleistung menschlicher Freiheit. Jeder kann nun auf seine Facon selig werden. Sie schützt im übrigen auch die Freiheit der sogenannten Religionsgesellschaften und darin der Kirchen innerhalb eines Gemeinwesens. Auf der anderen Seite bringt diese Freigabe auch eine Verbannung aus der öffentlichen Bedeutungssphäre mit sich, denn im Grunde ist der Weg von hier aus nicht mehr weit bis zur Erklärung, Religion sei reine "Privatsache". Die solchermaßen freigegebene Religion kommt in Gefahr, in ihrer öffentlichen Relevanz schwächer zu werden oder gar zu zerfallen, sich auf die verbleibenden Nischen der Gesellschaft zurückzuziehen oder sich selbst ziemlich individualistisch zu gebärden. Die Folge kann auch eine Form offener oder heimlicher Distanzierung von den Aufgaben des Gemeinwesens sein, so dass mindestens der Anschein von Gleichgültigkeit entsteht. Für den Staat und die Gesellschaft kann dies selbst wiederum schädlich sein. Wenn diese selbst keinen Gesprächspartner unter den freien Gruppen in der Öffentlichkeit haben, der immer wieder auf bleibende Grundsätze und Grundhaltungen aufmerksam macht, können sie sich noch mehr in einem nicht selten kurzsichtigen pragmatischen Zweckdenken verfangen oder sogar für säkulare Heilslehren anfällig werden.
Die Kirchen müssen darum ihren Ort, der durch eine solche vieldeutige "Freigabe" entstanden ist, in ihrer positiven Bedeutung nützen. Sie haben damit nämlich die Freiheit und die Unabhängigkeit zum öffentlichen gemeinschaftlichen Bekenntnis des Glaubens, die Möglichkeit des Zeugnisses inmitten der säkularen Welt und die Freiheit des Andersseins gegenüber dem Druck gesellschaftlicher Konventionen. Und damit protestieren sie auch - schon durch ihre Existenz und ihre Stimme - gegen das Verschweigen der öffentlichen Bedeutung von Glauben und Religion.
Gewöhnlich wird die Frage nach der Struktur der modernen Gesellschaft und die damit zusammenhängende Schwierigkeit gemeinsamer Maßstäbe menschlichen Zusammenlebens mit dem Stichwort "Pluralismus" gekennzeichnet. Oft wird jedoch die wirkliche Problematik des Pluralismus nicht ausreichend erläutert. Pluralismus ist nicht bloß Vielfarbigkeit, Vielstimmigkeit und reiche Ausformung, sondern bedeutet ein gleichberechtigtes Neben- und so auch mögliches Gegeneinander verschiedener Lebens- und Weltanschauungen. Wir sprechen dabei z.B. von einem religiösen Pluralismus und meinen die Vielfalt von Bekenntnissen und Religionen, von einem Wertepluralismus mit der Verschiedenheit von Wertsystemen, von einem sozialen oder auch politischen Pluralismus, der die Vielfalt und Spannung gesellschaftlicher Gruppen und politisch einwirkender Kräfte zum Ausdruck bringt. Der Pluralismus besonders der Weltanschauungen, Bekenntnisse und Werte bekommt seine Zuspitzung dadurch, dass ihm oft weitgehend jede Einheit als übergeordnetes Prinzip fehlt. An diesem Punkt setzt auch die Kritik an.
Dem Wertepluralismus werden seine schier unbegrenzte Offenheit und damit auch Unsicherheit angelastet. Weil keine gemeinsamen Grundwerte herausgestellt und für verbindlich erklärt werden, sei dieser Pluralismus schuld an den Sinn- und Orientierungskrisen. Eine mehr konservative Spielart dieser Kritik hebt dabei die Schwächung der Führungs- und Entscheidungskraft des Staates hervor - die Rede von der "Unregierbarkeit" liegt nahe -, während eine mehr links orientierte Kritik beklagt, dass die an sich gute Grundidee einer Gleichberechtigung aller Gruppen mehr Postulat als soziale Realität sei; in Wirklichkeit sei diese Gleichberechtigung gerade für die Unterprivilegierten nicht realisierbar.
Spätestens hier wird erkennbar, dass das Stichwort "Pluralismus" zwar ein Strukturelement der freiheitlich-rechtstaatlichen Demokratie umschreibt, aber zur Erfassung des Ganzen allein unzureichend ist. Der Begriff des Pluralismus stellt die Vielfalt und den Wettbewerb, die Verschiedenheit und die reiche Auswahlmöglichkeit heraus, leistet aber von sich aus nicht die Vermittlung hin auch zu Gemeinsamkeit und Einheit, die komplementär dazugehören. Vielfach ist auch das Bewusstsein für die Aufgabe der Integration, die zu jeder Politik gehört, geschwunden. Gerade die Verfassung dient bei aller Gewährleistung pluraler Freiheiten auch der Integration in Konsens und Kompromiss.
Solange diese Aufgabe der Integration noch deutlich vor Augen ist, bleibt die Dialektik von Pluralität und Einheit erhalten. Aber dies ist nicht selbstverständlich. Pluralismus verlangt nämlich von sich aus nicht bloß die Wahrnehmung eines gleichberechtigten Nebeneinanders verschiedener Interessen, sondern fordert auch über alle empirische Feststellung hinaus normativ, dass die Vielheit anerkannt und gutgeheißen wird. Der Begriff Pluralismus kommt so immer stärker und ganz undialektisch in einen Gegensatz zu Einheit, Kooperation und Suche nach einem Konsens.
Diese Struktur ist in der Entwicklung der modernen Gesellschaft noch manifester geworden. Es geht nämlich nicht nur um einen Pluralismus, der sich der Aufgabe, ja der Not der - vielleicht sogar sehr schmerzlichen - Vermittlung und Integration bewusst bleibt, sondern um einen Pluralismus, dem die Ergänzungsbedürftigkeit durch die Vermittlung zur Einheit gar nicht mehr bewusst ist und der so in der Gefahr steht, zur Beliebigkeit zu werden. Man muss dabei nicht gleich an eine gewiss naheliegende bequeme Beliebigkeit denken, die allen Ansprüchen unterschiedslos Gehör und Geltung verschafft. In der gegenwärtigen Diskussion um die "Postmoderne" steht der Pluralismus-Begriff hoch im Kurs, weil er die Fragmentierung und den Szenenwechsel des modernen Lebens in der Kunst, in der Wirtschaft, im Privatleben und auch im Denken auf einen Nenner bringt (Vgl. dazu W.Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 19913; ders. (Hg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte zur Postmoderne-Diskussion, Weinheim 1988). Zunächst soll die Erfahrung radikaler Pluralität in Bezug auf Wissensformen, Lebensentwürfe und Handlungsmuster festgehalten werden. Der wahre Postmodernismus zelebriert dabei nicht die unverbindliche Beliebigkeit, sondern sucht selbst nach neuen Verbindlichkeiten, die freilich nicht abstrakt-universal sein können, sondern eine Vielfalt präziser Verbindlichkeiten darstellen, die lebbar, sehr real und irgendwie zwischen Singularität und Universalität angesiedelt sind. (Vgl. auch kritisch H.-L.Ollig SJ, Philosophische Zeitdiagnose im Zeichen des Postmodernismus. Überlegungen zur jüngsten deutschen Postmoderne-Diskussion, in: Theologie und Philosophie 66 (1991), 338 - 374.)
Es ist jetzt noch offenkundiger geworden, wie schwierig für viele zeitgenössische Mentalitäten die Suche nach letzten gemeinsamen Maßstäben geworden ist. Nur allzu leicht gewinnen auch hier Ablehnung und Aversion gegenüber der Idee von Einheit - trotz gegenteiliger Beteuerung - die Oberhand, zumal wenn mit jeder Vision einer normativen Einheit gedanklich und affektiv weitgehend Repression und Gewalt verbunden werden. Aus ähnlichen Gründen möchten viele von vornherein auf jede Letztbegründung von Werten verzichten.
Bei aller Anerkennung des faktisch vorhandenen Wertepluralismus in den modernen Gesellschaften, der auch und gerade in den Verfassungen Rücksicht erfordert, ist die Frage nach gemeinsamen Maßstäben des menschlichen Zusammenlebens jedoch unverzichtbar. Aber es ist schwerer geworden, die Berechtigung dieser Fragestellung zu verteidigen. Es gibt aber auch zusätzliche Argumente dafür, dass die großen sozialen und globalen ökologischen Herausforderungen nur in menschheitlich-universalen ethischen Kategorien bewältigt werden können und nicht innerhalb von partikularen Sinnprovinzen.
In der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik Deutschlands haben wir bis zu einem gewissen Grad diesen Streit schon einmal ausgetragen. In den Jahren 1976/77 (Vgl. zusammenfassend mit Literaturangaben K.Lehmann, Grundwerte, in: Staatslexikon, II.Band, Freiburg i.Br. 19867, 1131-1137 = Karl Lehmann, Glauben bezeugen, Gesellschaft gestalten, Freiburg i.Br. 1993, 101 - 108; vgl. zum Umfeld: Gesellschaftlicher Wertewandel und christlicher Glaube, in: ebd., 128 - 136.) wurde die sogenannte Grundwerte-Debatte geführt. Es ging dabei um jene Normen, die das sittliche Fundament aller individuellen und sozialen Maßstäbe des menschlichen Verhaltens und des gelungenen Zusammenlebens darstellen. Es hat wenig Sinn, von philosophischer oder juristischer Seite aus zu erklären, der Begriff "Grundwerte" sei zu unbestimmt und wolkig. Fachwissenschaftlich gesehen mag dies sogar zutreffen, aber der Begriff ist ja auch mehr als eine Art von Problemanzeige dafür gedacht, wo denn jene Fundamentalüberzeugungen zu finden seien, die auf Dauer die Normen des menschlichen Zusammenlebens bilden. Wenn die Homogenität einer Gesellschaft sich auflöst, der innere Pluralismus sich immer mehr steigert und die Grundwerte als reine "Privatsache" erscheinen, wird es evident, dass der Konsens über die Grundnormen des menschlichen Lebens abbröckelt. Es erhebt sich das Problem, wie der Staat und die Gesellschaft z.B. eine Sittlichkeit aufbauen, bewahren und fördern können, wenn sie sich von den Fragen des konkret gelebten Ethos und der Religion immer mehr zurückziehen.
Man darf diese Frage nicht zu gering einstufen. Der "Preis" der Freiheit und des Pluralismus ist hoch. Er verlangt auch die Hinnahme einer wesenhaften Schwäche, einer konstitutiven Verletzlichkeit und Instabilität der modernen Gesellschaften. Die darin lebenden Menschen werden zunächst aus ihren geschichtlichen und kulturellen Beziehungen herausgelöst. Die für das eigene Dasein des Menschen entscheidenden Ordnungen mit ihren Wirkungen in der konkreten Lebenswelt, also Herkunft und Familie, Kultur und Religion, gehen nicht in die Gesellschaft ein. "Gesellschaft" ist so auf weite Strecken etwas Abstraktes, Asphalt und Boulevard. Gerade der künstliche Boden dieser Gesellschaft, der ja nicht die "feste Erde" gewachsener Lebensüberzeugungen darstellt, ist in besonderem Maße instabil, so "wie ein Funke auf einen Pulverhaufen geworfen eine ganz andere Gefährlichkeit hat, als auf fester Erde, wo er spurlos vergeht" (G.W.F.Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Hamburg 19554, § 319, 277. Ausführlicher dazu K.Lehmann, Gegenwart des Glaubens, Mainz 1974, 11-34; ders., Die Funktion von Glaube und Kirche angesichts der Sinnproblematik in Gesellschaft und Staat heute, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, hrsg. von J.Krautscheidt und H.Marré, Münster 1977, 9-56, auch in: K. Lehmann, Glauben bezeugen, Gesellschaft gestalten, Freiburg i.Br. 1993, 15 - 39.). Diese Worte Hegels kennzeichnen die wesenhafte Labilität moderner Gesellschaften.
Auch wenn die öffentliche Meinung in der Annahme verbindlicher Maßstäbe des Zusammenlebens der Menschen schwankt und unsicher ist, muss der Staat für die Anerkennung der "Grundwerte", wie sie vor allem in der Verfassung dokumentiert sind, eintreten. Der Staat ist nicht nur ein Notar der faktischen öffentlichen Meinung, so sehr der Meinungsbildungsprozess auch ins Gewicht fallen mag. Er muss sich für die Anerkennung besonders gefährdeter Grundwerte, zum Beispiel Leben als höchstes Rechtsgut, einsetzen und darf die sittlichen Grundüberzeugungen nicht schlechterdings dem Einzelnen überlassen, so wenig er über das konkrete Ethos der Bürger befinden kann. Der Staat muss einen Willen zur Förderung und zum Schutz, zur Pflege und zur Stützung der Grundwerte bezeugen. Bestimmte Grundwertentscheidungen sind dem Wechsel der Tageswertungen entzogen. In einer Zeit der Krise der Maßstäbe werden die Sorge für die ethische Kultur der Politik und die Pflege der Grundwerte um so notwendiger. Nicht zuletzt darum ist auch die Rolle des Bundesverfassungsgerichtes in unserem Land wichtig, aber es ist nicht der einzige Hüter der Werte.
Die Pflege des ethischen Konsenses in der Gesellschaft ist nicht die ausschließliche, ja auch nicht die vorrangige Aufgabe des Staates. Er teilt sie mit allen Kräften der freien Gesellschaft, wie zum Beispiel Medien, Verbänden, Parteien, Wirtschaft, Gewerkschaften und Kirchen. Die Kirchen haben dabei keine Monopol-Verpflichtung für die Sorge um die Grundwerte. Sie dürfen sich auch nicht in die Rolle des einzigen Garanten der Moralität in der säkularisierten Gesellschaft drängen lassen. Der Auftrag und die Möglichkeit der Kirchen, geistige und moralische Orientierung zu leisten, darf von den anderen gesellschaftlichen Gruppen und vom Staat nicht dazu benutzt werden, sich selbst der Förderung der Grundwerte zu entziehen und die Kirchen zu ethischen Stabilisatoren der Gesellschaft oder gar zu Handlangern des Staates zu degradieren. Sie haben ihren eigenen Auftrag. Die Kirchen dürfen freilich auch nicht gettohaft in ihr eigenes Inneres flüchten, gleichsam in die Nestwärme der Gemeinde. Sie dürfen die säkulare Welt nicht einfach fremden Mächten überlassen. Sie müssen vielmehr eine größere "innere" Nähe gerade auch zur sensiblen und verletzlichen Eigenstruktur des modernen Staates gewinnen. Sie müssen die bleibende Sorge um das "Leben" und "Funktionieren" der Grundwerte mittragen. Wer im Herzen wirklich ja sagt zur Demokratie und zu einer freiheitlich-rechtstaatlichen Struktur, darf gerade hier keine vornehme oder stille "Distanzierung" walten lassen, sondern muss aufmerksam die Konsensbildungen und die Auseinandersetzungen in Staat und Gesellschaft beobachten und verfolgen, mitzugestalten und zu bestimmen suchen.
Daraus ergibt sich keineswegs eine zu große Nähe der Kirchen zu Staat und Gesellschaft. Denn die Kirchen sind gerade auch so kritische Begleiter und Wächter, damit die sittlichen Maßstäbe und die Grundwerte des menschlichen Zusammenlebens nicht unter die Räder kommen. In diesem Sinne wird die Kirche immer wieder die Programme der Parteien und ihr konkretes Verhalten, aber auch die Regierungserklärungen und die Gesetzgebungsvorhaben unter die Lupe nehmen. Maßstäbe dafür sind in besonderer Weise und auch an erster Stelle die Menschenrechte (Vgl. dazu L.Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte. Studien zur ideen-geschichtlichen Bestimmung eines politischen Schlüsselbegriffs, München 1987; K.Hilpert, Die Menschenrechte. Geschichte - Theologie - Aktualität, Düsseldorf 1991; O.Höffe, Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat, Frankfurt 1987, E. Schockenhoff, Naturrecht und Menschenwürde. Universale Ethik in einer geschichtlichen Welt, Mainz 1996.). Ihre Anwendung wird vor allem auch durch die Katholische Soziallehre vermittelt, die auf ihre Weise das wichtigste Vehikel ist, um grundlegende Aussagen über den Menschen und die Strukturen des menschlichen Zusammenlebens von den Kirchen her in das öffentliche Gespräch zu bringen. In der gegenwärtigen Situation ist diese Funktion der katholischen Soziallehre - wie sie Papst Johannes Paul II. auch in der Enzyklika "Centesimus annus" vom 01.05.1991 betont - gar nicht zu überschätzen. Dies gilt nicht zuletzt auch für die Begegnung und das Gespräch mit den Gesellschaften Mittel- und Ost-Europas, die vom Kommunismus befreit sind und von denen viele noch nach neuen Wegen ihres staatlichen und gesellschaftlichen Lebens suchen.
Inmitten der gesellschaftlichen Segmentierung der Lebensbereiche, der sozialen Differenzierung und einer hochgradigen Pluralisierung der Werthaltungen muss der christliche Glaube sich zuerst selbst treu bleiben. Wenn er sich an die vielen Moden und Wellen besonders begünstigter Trends anpasst, verliert er sich selbst. Die Chance, dass der Einzelne für sich allein das christliche Ethos in einer überzeugenden Form leben kann, lässt sich nur verwirklichen, wenn die Widerstandskraft und die Fähigkeit zur Selbständigkeit gut entwickelt sind. Vieles wird also auf die Stärkung personaler Entscheidungsfähigkeit ankommen.
Dennoch kann nicht der Einzelkämpfer das Ideal sein. In einer solchen Situation kommt es noch viel mehr als bisher auf das gemeinsam getragene und gelebte Ethos an. In einer wachsend säkularen Welt und angesichts einer hohen Pluralisierung kann nur die innere Festigkeit einer Gemeinschaft auf die Dauer das Überleben von Glaubensüberzeugungen und Lebensanschauungen gewährleisten, besonders wenn diese nichtkonformistischen Charakter haben. Die Sozialform des christlichen Glaubens - Gruppe, Gemeinschaft, Gemeinde, Verbände, Bistum, Zusammenschlüsse auf der Überdiözesanen Ebene je nach Sprache und Kultur, Weltkirche - wird gewiss eine noch größere Bedeutung erhalten. Sie darf jedoch nicht bloß an der strukturellen Organisationsdichte der Institutionen gemessen werden, sondern erhält ihre Qualität durch die Lebendigkeit vielfältiger konkreter Beziehungen, die personal orientiert sind. In dem, was in einem gesunden Sinne "Basisgemeinschaften" genannt werden kann, und in den neueren geistlichen Gemeinschaften, aber auch in den Orden und in wirklich erneuerten Gemeindeformen stehen dafür Hilfen und Anregungen zur Verfügung. In diesen Rahmen lassen sich auch ökumenische Bestrebungen einordnen, die gerade in diesem Zusammenhang eine hohe Bedeutung behalten. In diesem Sinne muss auch eine vertiefte Gestalt "neuer Kirchlichkeit" gefunden werden, die von einem intensiven Zusammenstehen aller lebt.
Einheit der Kirche ist immer Einheit in der Vielfalt und in der Fülle der Gaben. Die Kirche kann der zunehmenden Pluralisierung der Lebensstile nur dann die rechte Antwort entgegenhalten, wenn sie in sich selbst einen großen Reichtum geistlicher Lebensformen und Lebensstile schafft und zulässt, wie es sich heute in der Eigenart vieler Gemeinden mit ihrem je eigenen Gesicht und auch angesichts vieler geistlicher Gemeinschaften bereits abzeichnet. Das Jesuswort im Johannes-Evangelium "Im Hause meines Vaters sind viele Wohnungen" hat auch hier seinen guten Sinn. Allerdings wird dadurch die Sorge um die wirkliche Einheit der Kirche nicht nebensächlicher, sondern viel radikaler und auch schwieriger.
Die Kirche ist von Hause aus die Stätte eines aufrichtigen Dialogs. Dies gilt für die Familie als "Kirche im kleinen", für Gruppen, Verbände, geistliche Gemeinschaften, Gemeinden und alle Ebenen. Dies scheint mir gerade bei der Findung eines neuen Konsenses im Blick auf Wertentscheidungen lebensnotwendig zu sein, wenn diese Zellen kirchlicher Vergemeinschaftung wirklich nicht bloß überleben, sondern ihrem Auftrag gerecht werden wollen. Hier muss auch der Ort sein, wo verschiedene Wertorientierungen einander begegnen, die einzelnen Generationen mit ihren Optionen miteinander im Gespräch bleiben und Menschen unterschiedlicher Wertentscheidung, z.B. im Blick auf Parteien, letzte Gemeinsamkeiten nicht preisgeben. Je abstrakter unsere Gesellschaft wird und solche Auseinandersetzungen kaum mehr leisten kann, um so mehr müssen die lebendigen Substrukturen der Gesellschaft von unten her, regenerativ abgerissene Fäden eines solchen Dialogs knüpfen. Dieses Feld reicht von der Familie bis zu den Akademien. Das Wertbewusstsein ist ja immer wieder im Wandel begriffen. Stets gibt es Akzentverschiebungen und Neuorientierungen, die nicht zuletzt dem ausgleichenden Gespräch zwischen den verschiedenen Generationen und den vielen anderen Gruppierungen des Lebens entstammen und entsprechen. Die Kirche als ein geschichtlich erfahrener Lebensraum, in dem sich immer wieder Altes und Bewährtes mit Neuem und Fremdem verband, hat hier zweifellos eine besondere Chance.
Innerhalb einer solchen Gesamtsicht hat die Kirche gewiss auch die Funktion eines Korrektivs. Wenn in einer Gesellschaft Wertorientierungen radikal in einseitige Richtungen umschlagen, muss sie - auch in Form des Protests und des Streits - um die Integration mit Werten kämpfen, die viele für überholt betrachten. Wir sind heute in vielen Lebensfragen des Einzelnen und der menschlichen Gemeinschaft vor einer solchen Aufgabe. Man denke nur an den Schutz des Lebens, vor allem des ungeborenen Kindes, an die Ordnung der Sexualität innerhalb und außerhalb der Ehe, an Werte wie eheliche Treue, Mut zum Kind, Stärkung von Solidarität und Subsidiarität. Hier geht es nicht um das Verharren auf entgegengesetzten Problemlösungen, sondern um die Verteidigung und die Propagierung echter Werte, die auch künftig dem Menschen das Leben nicht erschweren, sondern erleichtern helfen. Wenn Erklärungen und Stellungnahmen weitgehend sich wie bloße Kritik dessen, was ist, ausnehmen oder so erscheinen mögen, darf die positiv-integrierende Funktion solcher Zwischenrufe nicht verkannt werden. Dies ist jeweils ein langer Weg, zumal oft zuerst das Bewusstsein geweckt werden muss für die Würde und die Bedeutung vergessener oder verdrängter Werte.
Die Kirchen pflegen Grundwerte auf verschiedene Weise. Dabei spielt der unbestimmte und vielfältige Begriff "Grundwerte" zunächst keine Rolle. Es kommt auf die Sache an. Die Kirchen haben ihren eigenen Auftrag. Die Kirchen sind nicht an erster Stelle Lieferanten gesellschaftlich notwendiger Grundwerte. Das tägliche Gebet um den Frieden in allen Eucharistiefeiern rund um die Welt ist mehr als alle abstrakten Grundwerte, aber sie werden natürlich durch so etwas konkret realisiert. Darum haben die Kirchen auch ihre eigenen Erfahrungen und ihre eigene Sprache, die sie nicht verleugnen dürfen.
Der Dekalog (Zehn Gebote), aus langer menschlicher Erfahrung und wachsender Glaubenseinsicht geboren, ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie aus der Mitte der Bibel heraus gerade die Religionen, die sich auf sie stützen, auf ihre Weise wirksame "Grundwerte" verkündigt haben (Vgl. dazu K.Lehmann, Grundwerte und Zehn Gebote, in: Lebendige Seelsorge 30 (1979), 167-171.- Wie weit sich die in diesem Beitrag behandelte Problematik auch in der Thematik der sogenannten "civil religion" findet, kann hier nicht näher behandelt werden, vgl. zur Information R.Schieder, Civil Religion. Die religiöse Dimension der politischen Kultur, Gütersloh 1987 (Lit.); T. Rendtorff, "Civil Religion", in: G. Mertens - W. Kluxen - P. Mikat (Hrsg.), Markierungen der Humanität, Paderborn 1992, 265-279; W. Pannenberg, Grundlagen der Ethik, Göttingen 1996, 15ff., 23ff., 95ff., 131ff. Dasselbe gilt für das Wiederaufleben unseres Themas im Kommunitarismus. Statt vieler vgl. W. Kymlicka, Politische Philosophie heute, Frankfurt 1996, 169 - 199.). Im übrigen kann man unter Zuhilfenahme der heutigen exegetischen Erkenntnisse der Dekalog-Forschung in den Zehn Geboten tatsächlich überzeugend die fundamentalen ethischen Maßstäbe des menschlichen Zusammenlebens neu finden. Gerade auch ökumenische Anstrengung lohnt sich hier, wie ein gemeinsamer Text, nämlich "Grundwerte und Gottes Gebot" (1979), der in unserem Land erarbeitet worden ist, zeigen kann. In diesem Licht kann man auch die schöpferische Wiederbelebung der Katechismus-Tradition sehen, die sich z.B. einer Neu-Interpretation des Dekalogs bedient und dabei auch ohne Zwang gegenwärtige Fragestellungen in sich aufnehmen kann (Vgl. z.B. Katholischer Erwachsenenkatechismus. Zweiter Band: Leben aus dem Glauben, hrsg. von der Deutschen Bischofskonferenz, Freiburg i.Br. 1995).
Die Botschaft des Evangeliums ist notwendigerweise tiefer und reicher als die immer relativ abstrakt bleibenden "Grundwerte" einer Verfassung. Wenn der Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann, dann nährt sich der Fundamentalkonsens einer Gesellschaft letztlich von der Konvergenz und dem Gespräch vieler konkreter ethischer Lebensentwürfe. Diese müssen durch ein glaubwürdiges, argumentatives und beredtes Zeugnis in das öffentliche Gespräch und die gesellschaftliche Konsensbildung eingebracht werden.
Darum leisten die Kirchen ihren Dienst für die sogenannten "Grundwerte" des freiheitlich-demokratischen Staates am besten, wenn sie ihre spezifische Eigenart und ihre ureigene Sendung mit Entschiedenheit ausüben. Eine Beschränkung auf die Ebene der "Grundwerte" allein käme nicht zum Kern des christlichen Glaubens als Botschaft von der Erlösung und vom Heil. Überall jedoch, wo der Glaube an Gott und die Liebe zum Nächsten verkündigt werden, sittliche Weisung für den Alltag des Lebens geschieht und die Gemeinschaft der Kirche gelebt wird, werden - mindestens indirekt - auch "Grundwerte" gefördert und gepflegt. Die innersten christlichen Wahrheiten, wie sie nicht zuletzt auch in der Bergpredigt zur Aussage kommen, sind zwar ausstrahlungsfähig, in mancher Hinsicht universalisierbar und geben zum Beispiel der Friedenserziehung wichtige Impulse, sie sind selbst aber keineswegs "Grundwerte" im strengen Sinn des Wortes, da sie - dies gilt etwa besonders für das Gebot der Feindesliebe und für das Ideal der Demut - sehr eng an die Annahme und den Vollzug des Glaubens gebunden sind. Je überzeugender das konkrete christliche Ethos in seiner Bestimmtheit und mit all seinen Verschiedenheiten im gesellschaftlichen Raum gelebt und bezeugt wird, um so mehr dient die Kirche dem Erhalt lebenswichtiger Grundwerte in der Gesellschaft. Aber sie erschöpft sich nicht in einer Art Zivil-Religion.
Dieses konkrete christliche Ethos wird dabei auf sehr verschiedene Weise vermittelt: direkt und indirekt, im Zeugnis des Wortes und in der Tat des Lebens, im Symbol und in der Diakonie bzw. Caritas, in der Kirche und in der Gesellschaft. Auch sind Menschen allen Alters und in allen Situationen angesprochen. Dabei darf die argumentative Vermittlung und die Kommunikation in die verschiedenen Lebensräume hinein nicht vergessen werden. Schließlich sind lebendige Vorbilder, die anstecken, unentbehrlich.
Wirkliche "Grundwerte" dürfen nicht direkt und bloß einem partikulären Gruppenethos angehören, sondern müssen der allgemeinen menschlichen Einsicht zugänglich sein und - wie immer ihr letzter Kern begründet ist - eine universal vermittelbare und mit der menschlichen Vernunft vollziehbare Einladung bzw. Verpflichtung für alle darstellen. Insofern eignet dem biblischen und christlichen Ethos trotz aller konkreten Beheimatung im Glauben eine Durchsichtigkeit, in der eine universale Geltung dieses Zeugnisses deutlich wird. In diesem Sinne gibt es gerade auch in der Kirche eine Fülle fließender Übergänge von der Einzigartigkeit des konkret gelebten Ethos über die Spiritualität und das Engagement von Gruppen bis zu ethischen Antworten auf globale Herausforderungen der Menschheit. Das christliche Ethos ist also nicht uniformistisch und abstrakt, wie heute mancher Verfechter des "Pluralismus" argwöhnt. Nochmals muss besonders aufmerksam gemacht werden, wie wichtig die Vermittlungsstufen von innen nach außen sind, also vom Leben der Kirche in die Gesellschaft hinein. Diese Abstufungen werden nicht zuletzt auch durch die Katholische Soziallehre und überhaupt die Sozialethik, aber auch durch die Menschenrechtstraditionen und das Friedensethos sichtbar. Dafür gibt es wiederum als Vorstufen eine Reihe von notwendigen Voraussetzungen des Verständnisses. So haben die Philosophie und darin besonders die Anthropologie eine wichtige Funktion in der Eröffnung der Wege zu zentralen Aussagen. Die Bestimmung des Menschen ist nicht zuletzt auch darum wichtig, weil elementare menschliche Grunderfahrungen heute vielen Menschen fremd geworden sind oder verschüttet wurden. Man denke an das Leiden und das Teilen, an das Dienen und das Danken, aber auch an die Erfahrung des Sterbens.
Hier schließt sich wieder der Kreis. Ich habe versucht zu zeigen, wie die Kirche bei der Suche nach gemeinsamen sittlichen Maßstäben des menschlichen Zusammenlebens in den gegenwärtigen Gesellschaften hilfreich sein kann, wobei sie immer im Dialog und im Wettbewerb steht mit anderen Konfessionen und Religionen, Weltanschauungen und Lebensentwürfen. Vieles mag dabei spannungsvoll und widersprüchlich erscheinen. Es gibt in einem solchen Diskurs gewiss auch mit dem Evangelium und der Glaubensüberzeugung unvereinbare Aussagen und Haltungen. Dazu braucht es Auseinandersetzung und Streit Was aber wahr ist und der Liebe dient, kann für niemand auf die Dauer fremd und ohne Interesse sein. Aus einem solchen Bemühen entstehen und leben Grundwerte.
Es ist mir dabei bewusst, dass die gesellschaftlichen Entscheidungen nicht einfach nach diesen Mustern gefunden werden. Aber wir können nicht auf jede Einheit verzichten, weil wir sonst auch nicht für alle verbindlich entscheiden können. Dies gilt auch für die Politik. "Wir müssen uns entscheiden, ob wir um Einheit in der vermutlich unwiderruflich fragmentierten Welt ringen und in den aufgeklärten Wettbewerb um Einheitsideen eintreten wollen. Die gesellschaftliche Einheit in kulturellen Mustern, in Grundwerten und Fundamentalüberzeugungen ist keine Selbstverständlichkeit, nichts Vorgegebenes, womöglich auch nichts evolutionär noch Notwendiges mehr, sie will heute in bewusster Setzung errungen und verteidigt werden. In einer offenen Welt kann das Menschenbild einer politischen Gemeinschaft nur behutsam und umsichtig in ebendiese Welt getragen werden. Schicksalsergebene Resignation angesichts überlegener Gewalten ist ebenso wenig angebracht wie provenzielle Selbstgenügsamkeit." (U. Di Fabio, ebd.)
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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