Wort des Bischofs im Südwestrundfunk am Sonntag, 12. Juni 2005
Auch wenn schlechte Nachrichten besser laufen sollen, darf man gute Nachrichten nicht verschweigen. Heute möchte ich von einer solchen guten Botschaft sprechen.
In jedem Jahr geht es in dieser Zeit um die Ausbildungszahlen für die jungen Leute in unserer Gesellschaft. Natürlich fehlen jetzt noch viele Ausbildungsplätze. Die Gewerkschaften sprechen von 200.000. Aber hier muss man gerecht bleiben. Denn in jedem Jahr ist Ende Mai die Lücke am größten. Sie baut sich wieder ab, im letzten Jahr schließlich auf 30.000. Dies sind immer noch viel zu viel. Es gibt keinen Grund zum Jubeln. Aber man muss korrekt und fair sein, denn die Statistik zeigt seit zehn Jahren den tiefsten Punkt für Ende Mai. In dieser Hinsicht besteht also kein Grund für die Verunsicherung der Öffentlichkeit, als ob wir insgesamt in einer Ausbildungskatastrophe lebten.
Wir haben nämlich auch einige Pluspunkte. Es wurden bisher mehr Ausbildungsverträge abgeschlossen als im Vorjahr. 9000 Betriebe konnten sogar neu für die Berufsausbildung gewonnen werden. Im Osten haben wir fast sechs Prozent mehr abgeschlossene Verträge als im letzten Jahr. Die Industrie- und Handelskammern haben ihren Pakt mit der Regierung in einem hohen Maß erfüllt. Es wurden gezielt Betriebe angesprochen, die bisher noch nicht ausgebildet haben. Es hat sich gezeigt, dass diese Einzelansprache ganz besonders wichtig ist. Mehr als die Hälfte aller Unternehmen hat im Übrigen auch Kontakte mit Schulen und stellt z.B. Schülerpraktika bereit.
Ich glaube, dass diese und andere Zahlen angesichts einer immer noch angespannten wirtschaftlichen Lage sich sehen lassen können. Wenn nicht alles trügt, dann lassen sich sogar die Zahlen bis zum Herbst im Vergleich zu bisher wesentlich verbessern. Es wäre einfach unseriös und fatal, wenn man dieses gute Ergebnis nicht sehen möchte und begrüßen würde. Es zeigt nämlich auch, dass man in unserer Gesellschaft bei beiderseitigem Bemühen in sogar erstaunlich guter Zeit wirklich etwas erreichen kann. Vor nicht langer Zeit gab es noch Pläne für eine Ausbildungsplatzabgabe. Viele lehnten sie ab. Das entsprechende Gesetz wurde auf Eis gelegt. Aber es hat wahrscheinlich – dies wird man auch sagen dürfen – seine Wirkung getan und dadurch indirekt mit zur verbesserten Situation beigetragen.
Noch fehlen Plätze. Aber dies könnte für manche ein Ansporn sein, um noch weitere Ausbildungsmöglichkeiten bereit zu stellen. Es ist wahr, dass 70 Prozent der Unternehmen nicht ausbilden. Aber dazu muss man auch sofort hinzufügen, dass 87 Prozent von diesen Firmen weniger als zehn Beschäftigte haben und darum für eine Ausbildung auch nicht in Frage kommen. Dennoch möchte ich mit den Industrie- und Handelskammern sowie den Arbeitsagenturen dazu aufrufen, nochmals die letzten Reserven zu mobilisieren, damit auch die 30.000 noch fehlenden Plätze wenigstens zu einem größeren Teil gefunden werden können.
Dies hat auch etwas mit dem Menschenbild und mit der Sinnsuche bzw. Sinnerfüllung des Menschen zu tun, mehr als wir vielleicht denken. Wenn wir von der Bibel her überzeugt sind, dass jeder Mensch Ebenbild Gottes ist, letzter Zweck in sich selbst und dass darum auch viele, vielleicht bisher unentdeckte Möglichkeiten in wirklich jedem Menschen schlummern, dann müsste unsere Gesellschaft auch in der Lage sein, jeden jungen Menschen mit seinen Chancen zu entdecken und ihm eine Möglichkeit zur Bewährung anzubieten. Im Maß unserer Anstrengungen, für die wir allen Beteiligten danken sollten, zeigt sich auch die Hoffnung, die wir für den Menschen, für jeden Menschen, haben. Gerade den kommenden Generationen dürfen wir sie nicht verweigern.
© Karl Kardinal Lehmann
Es gilt das gesprochene Wort
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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