Die katholische Kirche und das Judentum – 40 Jahre nach Nostra Aetate

Datum:
Freitag, 28. Oktober 2005

Referat anlässlich der Jubiläumstagung „Nostra Aetate – Ein folgenreicher Konzilstext. Die Haltung der Kirche 40 Jahre danach“, am Freitag, 28. Oktober 2005, im August-Pieper-Haus in Aachen, veranstaltet von der Bischöflichen Akademie des Bistums Aachen in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe „Fragen des Judentums“ der Ökumene-Kommission der Deutschen Bischofskonferenz

I.

Unter den Texten des Zweiten Vatikanischen Konzils, auf die wir in diesem Jahr 40 Jahre nach seinem Abschluss (8. Dezember 1965) zurückblicken, hat die Konzilserklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen „Nostra Aetate“ geradezu Hochkonjunktur. Manchen anderen Texten, die durchaus eine hohe Qualität haben, würde ein ähnliches Interesse an der Rezeption gut tun. Ich denke z.B. an die Dogmatische Konstitution über die Göttliche Offenbarung „Dei Verbum“.

Dies ist umso erstaunlicher, weil „Nostra Aetate“ ja ein sehr kurzer Text ist, ja das kürzeste Dokument des Konzils. Zugleich kann man auch an der Bezeichnung „Erklärung“ erkennen, dass das Dokument in der Verbindlichkeitsstufe beachtlich ist, aber doch unterhalb der Autorität einer Konstitution angesiedelt werden muss. In der Zwischenzeit ist dieses Dokument wegen der Bedeutung des interreligiösen Dialogs, nicht zuletzt mit dem Judentum und in letzter Zeit auch mit dem Islam, viel stärker beachtet worden. Dies hängt gewiss auch damit zusammen, dass Papst Johannes Paul II. dem Gespräch mit den nichtchristlichen Religionen ein großes Gewicht gab. Es ist viel größer, als man durchschnittlich im deutschen Sprachbereich bisher wahrgenommen hat.

Es ist in diesem Zusammenhang nicht notwendig, die ganze Erklärung zu würdigen und darin besonders den Artikel 4 über die Beziehung zum Judentum genauer auszulegen. Die klassischen Kommentare, ganz besonders von Johannes M. Oesterreicher , aber auch von Augustin Kardinal Bea haben immer noch ihre Gültigkeit und sind auf ihre Weise gerade auch von der Ebene der Zeitzeugen her unersetzlich. Es ist aber ebenso notwendig, nach 40 Jahren den Text auszulegen, wie er heute unter Einschluss der weiteren historischen Erschließung und der Wirkungsgeschichte in diesen vier Jahrzehnten verstanden werden kann und muss. Dabei sehe ich von sehr nützlichen Zwischenbilanzen ab, die in diesen 40 Jahren zahlreich erschienen sind. In der Zwischenzeit konnte auch die konziliare Erarbeitung der „Erklärung“ durch die große Konzilsgeschichte unter der Herausgeberschaft von G. Alberigo abgeschlossen werden. Eine Reihe von historischen Untersuchungen hat die Wege bis zu Nostra Aetate besser erschließen helfen. Grundsätzliche Überlegungen zum historischen Ort dieses Konzils in der Neuzeit kommen hinzu. Es ist dabei auch ein großer Gewinn, dass sich Theologen verschiedener Seiten und Richtungen beteiligt haben.

Immer wieder wird von vielen Autoren darauf aufmerksam gemacht, dass der kürzeste Konzilstext die stärkste Debatte und vielleicht auch eine besondere Stärke in der Wirkungsgeschichte gezeigt habe. Nostra Aetate ist gewiss auch der Konzilstext, der am stärksten vom konziliaren Geschehen und allen seinen Hintergründen bestimmt und geprägt worden ist. Es gab keine entsprechenden Planungen vorher. Es ist daraus wirklich ein Text des Konzils geworden, als er vor genau 40 Jahren, am 28. Oktober 1965, in der feierlichen Schlussabstimmung mit 2221 Ja- gegen 88 Nein-Stimmen angenommen worden ist und noch am gleichen Tag feierlich verkündet wurde. Es gibt auch kein anderes Beispiel für einen Konzilstext des Zweiten Vatikanums, der in einem so hohen Maß von politischen Kräften umstellt wurde, so viele Hintergrundkämpfe auch in der Kirche und in der Kurie auslöste und unter den Konzilsvätern selbst außerordentliche Spannungen erzeugte. Dies macht die Geschichte dieser „Erklärung“ in besonderer Weise spannend, manchmal geradezu wie ein Kriminalroman.

Wenn jedoch immer wieder darauf hingewiesen wird, dass dieser Text eine so große Aufmerksamkeit gewonnen hat und leidenschaftliche Auseinandersetzungen auslöste, so hat dies gewiss auch damit zu tun, dass ein solcher Text mit einer grundsätzlichen Stellungnahme zu den nichtchristlichen Religionen und ganz besonders zum Judentum einmalig ist und wohl die bedeutendste kirchliche Verlautbarung über die christliche Haltung den Juden und dem Judentum gegenüber darstellt. Immer wieder haben recht unterschiedliche Autoren diesen Text als einen Höhepunkt des Zweiten Vatikanischen Konzils, als das am meisten vorwärts weisende Dokument in das 21. Jahrhundert hinein, als Wendepunkt in den Beziehungen zwischen Israel und der Kirche bezeichnet. Bei allen Einwänden kann man mit K. Rahner/H. Vorgrimler feststellen: „Über solchen und anderen möglichen Einwänden (wie etwa zu kurze Deskriptionen der anderen Religionen) darf nicht übersehen werden, dass die Erklärung nach ihrem heute vorliegenden Wortlaut und nach ihrer inneren Dynamik in der Geschichte der Kirche, ihrer Konzilien und ihrer Theologie einzigartig ist.“

Dabei darf man wie bei allen Durchbrüchen dieser Art die großen Pioniere auch dieser „Erklärung“ nicht vergessen: die Päpste Johannes XXIII., Paul VI., Johannes Paul II. und ganz besonders Augustin Kardinal Bea. Auch wenn sie in ihrer Bedeutung immer wieder beschrieben worden sind, so kann man ihren leidenschaftlichen Einsatz nicht überschätzen. Ohne sie wäre der Durchbruch, der auch einen großen kirchenpolitischen und spirituellen Mut erforderte, nicht gelungen.

II.

So gibt es viele gute Gründe, diese Entwicklung seit 1965 mit ihren vielen Facetten wieder genauer ins Auge zu fassen, auch wenn dies schon öfter geschehen ist. Der Rezeption dieses Textes stellen sich immer wieder Hindernisse entgegen. Sie liegen bei dem Ringen um diesen Text gewiss auch in Unzulänglichkeiten mancher Formulierungen. Inhalt und Form sind an einigen Stellen ungenügend oder unvollständig. Gerade die neueren Kommentare vermerken dies in aller Deutlichkeit. Aber angesichts des epochemachenden Charakters der Erklärung überhaupt und der Tatsache, dass sie wirklich einen Wendepunkt in den Beziehungen zwischen Kirche und Judentum darstellt, ist es auch wenig sinnvoll, sich auf einzelne Formulierungen zu fixieren oder pauschale Urteile über die nicht erfolgte Rezeption und die Unkenntnis von Nostra Aetate zu verbreiten. Es ist auch zu billig, wenn man die Erklärung hauptsächlich deshalb kritisiert, dass nicht gleichzeitig damals eine diplomatische Anerkennung Israels vollzogen wurde, oder keine Aussagen über eine Bewertung des Staates Israel gefunden werden. „In kaum fünfhundert Worten ein zweitausend Jahre altes Problem behandelt“ und dies bei 96 Prozent aller Stimmen im Konzil!

Nostra Aetate ist in diesem Sinne so etwas wie ein Startschuss, der nach vorne weist, und der nicht in sich selbst abschließend beurteilt werden sollte. Für diese prospektive Sicht sind folgende Gesichtspunkte wichtig:

1.Nostra Aetate ist eine amtliche Erklärung der höchsten Autorität in der Kirche, nämlich eines mit dem Papst verbundenen Konzils. Die Verbindlichkeit kann also in diesem Rahmen fast nicht mehr gesteigert werden.

2.Es ist nicht zu übersehen, dass die Erklärung inhaltlich eine fast totale Kehrtwendung im Blick auf die bisherigen Äußerungen darstellt, weswegen die Auseinandersetzungen während des Konzils und die Diskussion nach dem Konzil innerhalb und außerhalb der katholischen Kirche auch heftig waren.

3.Die Kernaussagen sind unschwer zu erkennen:

·Kirche und jüdisches Volk sind bis heute vielfältig miteinander verbunden. Die Kirche hat jüdische Wurzeln. Darum gibt es eine geistigen Verbundenheit der Kirche mit dem Judentum von der Wurzel her.

·Jede Form von Antisemitismus wird abgelehnt.

·Prediger und Katecheten werden ermahnt, sich vor jeglicher Verfälschung der christlichen Botschaft durch feindselige Ausfälle gegen die Juden der Zeit Jesu und der heutigen Zeit zu hüten. Es widerspreche der biblischen Wahrheit, wenn gesagt wird, die Juden seien „von Gott verworfen oder verflucht“. Im Gegenteil bekräftigt das Konzil unter Hinweis auf Röm 11,28, dass die Juden „weiterhin von Gott geliebt werden“, der sie mit einer „unwiderruflichen Berufung“ erwählt hat.

·Der Antijudaismus kann sich nun nicht mehr auf christliche Motive und kirchliche Argumente berufen.

·Nostra Aetate erweist sich als gute Grundlage für theologische, pastorale und katechetische Weiterführungen. Das Dokument hat vieles über sich selbst hinaus angestoßen und bleibt die entscheidende Richtschnur, so etwas wie eine Magna Charta des Verhältnisses zwischen Kirche und Judentum.

Es ist hier nicht möglich und angesichts vieler Veröffentlichungen auch nicht notwendig, ausführlicher zu zeigen, wie Nostra Aetate für unzählige Äußerungen weltweit eine große Signalwirkung gehabt hat. Besonders, aber nicht nur für das deutsche Sprachgebiet sind diese Bemühungen hervorragend gesammelt in zwei umfangreichen Bänden von mehr als 1800 Seiten. Die zahlreichen Dokumente des päpstlichen Lehramtes und der römischen Kongregationen wurden bereits genannt (vgl. Anm. 2).

In diesen nachkonziliaren Dokumenten wird deutlich, wie sehr zwei Anliegen sich wie ein roter Faden von Nostra Aetate an durchhalten: Der Antisemitismus sollte mit einem Schuldbekenntnis der Kirche bezüglich dessen christlicher Wurzeln verurteilt werden; eine positive Lehräußerung sollte die Israelvergessenheit der Kirche aufheben. Stichworte dafür waren und sind die bleibende Auserwählung Israels, die Schuld aller Sünder am Tod Jesu, Zurückweisung des Vorwurfes des Gottesmordes, endzeitliche Vereinigung Israels mit der Kirche gemäß Röm 11,26-29, Wurzeln der Kirche im Volk Israel.

In der Folgezeit kam es so zu vielen Erklärungen: Richtlinien und Hinweise für die Durchführung der Konzilserklärung Nostra Aetate, Artikel 4 vom 1. Dezember 1974 durch die vatikanische Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum; Hinweise für eine richtige Darstellung von Juden und Judentum in der Predigt und in der Katechese der Katholischen Kirche vom 24. Juni 1985 durch dieselbe Kommission. Hingewiesen sei vor allem auch auf drei Dokumente aus dem deutschen Sprachraum: Beschluss der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland „Unsere Hoffnung“ vom 22. November 1975 (Teil IV.2); Arbeitspapier des Gesprächskreises Juden und Christen beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken „Theologische Schwerpunkte des jüdisch-christlichen Gesprächs“ vom 8. Mai 1979; Erklärung der deutschen Bischöfe „Über das Verhältnis der Kirche zum Judentum“ vom 28. April 1980. In diesen und vielen folgenden Texten, zu denen vor allem auch eine Erklärung der französischen Bischöfe von 1973 gehört, werden die erwähnten Perspektiven wiederholt, bestätigt und verstärkt.

Die Kirche grenzt ihre eigene Existenz nicht mehr länger polemisch gegen Israel ab oder erhebt sich über sie. Sie erkennt die Anfänge ihres eigenen Glaubens und ihrer eigenen Erwählung bei den Patriarchen an, bei Abraham, Moses und den Propheten. Immer wieder wird das Bild vom Ölbaum (vgl. Röm 11) aufgegriffen. Das Bild vom Frieden Christi aus Eph 2, wonach Jesus Christus Juden und Heiden durch das Kreuz versöhnt und in sich vereinigt hat, spielt eine große Rolle. Es kann künftig keine religiöse oder theologische Selbstprofilierung der Kirche auf Kosten des Volkes Israel geben, sondern eigentlich nur noch die Anerkennung einer grundlegenden und bleibenden „spirituellen Verbundenheit“. Trotz der Ablehnung Jesu als des Messias sind die Juden immer noch von Gott geliebt. Aus der Tatsache, dass die Kirche sich als das „neue Volk Gottes“ versteht, darf man nicht ableiten, die Juden seien – wie schon einmal erwähnt – von Gott verworfen oder verflucht. Die vulgärtheologischen Irrtümer werden richtig gestellt. Die Kirche beklagt alle Hassausbrüche und Manifestationen des Antisemitismus. Die gegenseitige Kenntnis und Achtung muss durch theologische Studien und ein brüderliches Gespräch vertieft werden. Juden und Christen ist die Ausrichtung auf die Zukunft gemeinsam. Die Kirche erwartet mit den Propheten den Tag des Herrn, der nur Gott bekannt ist, und an dem alle Völker mit einer Stimme Gott anrufen und preisen. Immer stärker wird auch der Schuldanteil der katholischen Kirche selbst zur Sprache gebracht. Dabei geht es nicht nur um ein Bedauern, sondern um eine wirkliche Verurteilung.

Gerade die deutschen Bischöfe haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten diese oft als fehlend beklagten Akzente ergänzt. Ich zitiere vor allem das Wort der Bischöfe zum Verhältnis von Christen und Juden aus Anlass des 50. Jahrestages der Novemberpogrome 1938 vom 20. Oktober 1988 (gemeinsam herausgegeben von der Berliner Bischofskonferenz, der Deutschen Bischofskonferenz und der Österreichischen Bischofskonferenz am 20. Oktober 1988 ). Die Erinnerung an das Ende des Zweiten Weltkrieges vor 50 bzw. 60 Jahren im Jahre 1995/2005 bot mehrfach Gelegenheit, an die Vorurteile und Feindbilder zu erinnern, die zu der Katastrophe führten. Im Januar 1995 – ähnlich 2005 – wurde eine Erklärung zum 50. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau veröffentlicht, der gleichzeitig eine Erklärung der Polnischen Bischofskonferenz vom selben Datum entsprach. Hier wurde an der Mitschuld der Christen und der Kirche kein Zweifel gelassen. In einen breiteren Zusammenhang wurde das Verhältnis der Christen zu den Juden im Wort der deutschen Bischöfe zum Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkrieges vor 50 Jahren am 24. April 1995 gestellt. Einige Kernpunkte wurden in einer gemeinsamen Ökumenischen Erklärung mit der EKD zum 8. Mai 1995 bekräftigt und zusammengefasst. Ähnliches hat sich anlässlich des Gedenkens des Kriegsendes vor 60 Jahren im Blick auf den 8. Mai 1945 im Jahr 2005 wiederholt.

Gewiss gibt es noch offene Fragen, die noch keinen Fortschritt oder keine weitere Klärung erbrachten. Es ist jedoch nicht zu verkennen, dass in der Zwischenzeit vor allem die Religionspädagogik gewaltige Anstrengungen machte, um die grundlegenden Mängel in der Glaubensunterweisung zu beheben.

Zusammenfassend sei hier an die vielbändige Reihe „Lernprozess Christen Juden“ erinnert. Man darf diesen sehr umfangreichen Beitrag zum Problem und zum Prozess der Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse nicht übersehen. Diese katechetischen und pädagogischen Bemühungen können dabei helfen, die gewonnenen Erkenntnisse über den engen Kreis von Spezialisten hinaus einer größeren Öffentlichkeit innerhalb und außerhalb der Kirche zu vermitteln. Ich kann nicht erkennen, dass andere Disziplinen, wie z.B. die Homiletik, in gleicher Weise in ausdrücklicher Form neue Verstehensangebote gemacht haben. Es ist auch zu erkennen, dass viele Einsichten Eingang in die neueren Katechismen und Glaubensbücher gefunden haben, selbst wenn da und dort einige Ambivalenzen bleiben.

Im Übrigen lässt sich in vielen Bereichen der Theologie eine relativ umfangreiche Rezeption vieler Grundgedanken feststellen, die selbstverständlich noch nicht an ein Ende gekommen ist. Viele theologische Disziplinen sind positiv von dieser Rezeption mitbestimmt. Vor allem die exegetischen Überlegungen sind kaum zu erfassen.

Schließlich sind hier aber auch die zahlreichen institutionellen Kontakte zu erwähnen, die nicht nur in den verschiedenen Ländern, sondern auch schon einige Zeit auf der internationalen Ebene ziemlich regelmäßig stattfinden, wie z.B. das Vatikanische Büro für katholisch-jüdische Beziehungen, die Kommission des Hl. Stuhls für die religiösen Beziehungen zum Judentum, das internationale Verbindungskomitee zwischen der katholischen Kirche und dem Judentum, um nur diese Ebene zu nennen.

Die Bundesfrage spielt dabei eine große Rolle. Der Erste Bund ist durch den Neuen Bund nicht hinfällig geworden. Der Erste Bund ist die Wurzel und die Quelle des Neuen Bundes. Es gibt einen breiten ökumenischen Konsens über die Ungekündetheit des „Alten“ Bundes. „Exponent, ja Vorläufer und Vorantreiber dieses Konsenses ist Papst Johannes Paul II.“ Das Interesse ist dabei von theologischer Qualität. Es geht um Judentum und Christentum als heutige Glaubensgemeinschaften in ihrer je eigenen religiösen Identität. Es geht nicht um ein Treffen zweier antiker Religionen oder um die Ungleichzeitigkeit der Kirche von heute und dem Israel der Bibel oder der Zeit Jesu. Papst Johannes Paul II. hat sich trotz einiger römischer Irritationen von dieser theologischen Linie nicht abbringen lassen. Später hat Johannes Paul II. mit ähnlicher Konsequenz auch den Begriff „Volk des Bundes“ geprägt und daran fest gehalten. Die jüdische Religion ist für die Kirche nicht etwas „Äußerliches“, sondern gehört zum Inneren der christlichen Religionen selbst. Zu ihr haben die Kirche und die Christen Beziehungen wie zu keiner anderen Religion. Die Juden sind „unsere bevorzugten Brüder und, so könnte man gewissermaßen sagen, unsere älteren Brüder“. Der Antisemitismus ist eine Sünde gegen Gott und gegen die Menschheit. Es ist konsequent, dass Johannes Paul II. dies auch im Schuldbekenntnis von 2000 zum Ausdruck bringt.

Papst Johannes Paul II. hat seine Aussagen immer wieder durch Hinweise auf Röm 9-11 untermauert und gestützt. So war es durchaus zu erwarten, dass diese Akzentuierung eine ausführlichere exegetische Diskussion zur Folge hat, weil die Berufung auf Röm 9-11 natürlich in Spannung steht zu anderen Aussagen des Neuen Testamentes (vgl. nur 1 Thess 2). Ich will in diesem Zusammenhang auf diese Diskussion nur aufmerksam machen, die wohl noch nicht an ein Ende gelangt ist. Aber es bleibt dabei, dass der Bund Gottes mit Israel nicht gekündigt ist. Dies ist bei allen Anfragen ein unverlierbarer Ansatz.

So ist deutlich geworden, dass die Erklärung Nostra Aetate eine ungeheure Flut von Neubesinnungen, historischen Untersuchungen und systematischen Reflexionen ausgelöst hat. J. Kard. Ratzinger hat einmal formuliert: „Ein eher zufällig gewachsenes Dekret hat sich nachträglich als in besonderem Maß zukunftsweisend herausgestellt.“

III.

Die Verbesserung der Beziehungen der Kirche zum Judentum ist eine der großen Errungenschaften im Pontifikat von Johannes Paul II. Wir haben dies vielleicht noch zu wenig mit allen Konsequenzen wahrgenommen und realisiert. Dabei war dies auch sein persönliches, geradezu leidenschaftliches Anliegen, so sehr er schon auf gleichlaufenden Tendenzen seiner Vorgänger Johannes XXIII. und Paul VI. aufbauen konnte. Auch hier zeigt sich wiederum, dass die Doppelung „Johannes Paul“ seines eigenen Namens nicht zufällig ist oder sich einer Laune verdankt. Er hat wirklich auch in dieser Hinsicht das Erbe dieser beiden großen Vorgänger übernommen.

Aber auch seine persönlichen Erfahrungen in seiner polnischen Heimat haben ihn dabei tief geprägt. Vielleicht ist dafür auch eine kleine Anekdote bezeichnend, die ich vermutlich selbst einmal von ihm gehört habe: In seiner Heimat in Wadowice spielten die Jungen Fußball. Es war nicht immer leicht, die beiden Mannschaften aufzufüllen, da man sie z.B. auch nach Katholiken und Juden aufstellte. Immer wieder kam es vor, dass die jüdische Seite nicht genügend Spieler hatte. Da meldete sich Karol Wojtyla und spielte als Torhüter auf der jüdischen Seite. Da er auch sonst immer wieder mit jüdischen Mitschülern und Freunden zusammen war, hatte er eine für ihn fast selbstverständliche Toleranz und Solidarität. Hier ist wohl – mit vielen anderen Beispielen noch zu ergänzen – der „Sitz im Leben“ für das spätere lehramtliche und pastorale Engagement dieses Papstes.

Aber gerade vor diesem Hintergrund wird man sich fragen, ob ein Nachfolger diese Linie aufnehmen und fortsetzen wird. Die wählenden Kardinäle haben sich diese Frage ja in vielen Bereichen gestellt. Aber auch hier war Joseph Kardinal Ratzinger, Papst Benedikt XVI., ein würdiger Nachfolger. Er hat als Präfekt der Glaubenskongregation den hohen Einsatz von Johannes Paul II. für den interreligiösen Dialog gestützt, vielleicht ein wenig zögernder im Blick auf gemeinsame Gottesdienste und behutsamer in der theologischen Abwägung. Aber dies war eher eine Ergänzung, kein anderer Kurs. Dies zeigt schon ein früher Aufsatz Joseph Ratzingers „Der christliche Glaube und die Weltreligionen“, der schon vor der Verabschiedung von Nostra Aetate im Jahr 1964 in der Festschrift für Karl Rahner erschien. Joseph Ratzinger hatte sich bereits in seinen Vorlesungen in Freising und Bonn von 1955 bis 1963 der Religionsphilosophie und Religionsgeschichte zugewandt und dabei die Wichtigkeit des Themas der Beziehung des christlichen Glaubens zu den Weltreligionen entdeckt. Dies war damals nicht selbstverständlich: „Als der Beitrag 1964 erschien, stand das Konzil auf seinem Höhepunkt; die großen Debatten über die Kirche, über die Offenbarung, über Kirche und Welt beherrschten die theologische Literatur. Das Thema der Weltreligionen stand noch einigermaßen am Rand; in der Arbeit des Konzils hat es eher zufällig und vom äußeren Umfang her gesehen marginal Platz gefunden in dem am 28. Oktober 1965 verabschiedeten Dekret Nostra Aetate.“ So ist es auch nicht zufällig, dass dieses Thema den Theologen Joseph Ratzinger immer wieder angezogen hat.

Wenn Joseph Ratzinger als dem Präfekten der Glaubenskongregation in den Jahren, als die Zuwendung zu den Weltreligionen geradezu modisch wurde, eher die Aufgabe der Differenzierung und manchmal auch Mahnung zukommen musste, so hat ihn das Verhältnis der Kirche zum jüdischen Volk und zu Israel immer bestimmt. Ein gutes Beispiel dafür ist das umfangreichere Vorwort zu dem Dokument der Päpstlichen Bibelkommission „Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel“. Dort stellt der Präfekt der Glaubenskongregation vor allem zwei Fragen, nämlich: „Können die Christen nach allem Geschehenen noch ruhig Anspruch darauf erheben, rechtmäßige Erben der Bibel Israels zu sein ... Hat nicht die Darstellung der Juden und des jüdischen Volkes im Neuen Testament selbst dazu beigetragen, eine Feindseligkeit dem jüdischen Volk gegenüber zu schaffen, die der Ideologie derer Vorschub leistete, die Israel auslöschen wollten?“ Kardinal Ratzinger dankt der Bibelkommission dafür, dass sie beide Fragen gründlich behandelt hat. Im Blick auf die Antwort der zweiten Frage, nämlich eine gründliche Ausleuchtung der „antijüdischen“ Texte, hebt er hervor: „Das Dokument zeigt, dass die im Neuen Testament an die Juden gerichteten Vorwürfe nicht häufiger und nicht schärfer sind, als die Anklagen gegen Israel im Gesetz und bei den Propheten, also innerhalb des Alten Testaments selbst (Nr. 87). Sie gehören der prophetischen Sprache des Alten Testaments zu und sind daher wie die Prophetenworte zu interpretieren: Sie warnen vor gegenwärtigen Fehlwegen, aber sie sind ihrem Wesen nach immer temporär und setzen so auch immer neue Möglichkeiten des Heils voraus.“ Auf die verschiedenen anderen Arbeiten Kardinal Ratzingers zum Thema ist schon aufmerksam gemacht worden. Nicht zuletzt gesammelt in „Die Vielfalt der Religionen und der Eine Bund“. In kurzer Zeit erschien 2005 im Verlag Urfeld die 4. Auflage.

Es ist aufschlussreich, dass der Kardinal im Vorwort aus dem Jahr 1997 dazu schreibt: „Mich selber hatte das Thema des Verhältnisses der beiden Testamente, ihrer inneren Einheit und Verschiedenheit, erstmals in der Vorlesung getroffen, die Gottlieb Söhngen an der Münchener Theologischen Fakultät im Wintersemester 1947/48 über Offenbarung gehalten hat. Seitdem hat mich diese Frage immer begleitet. Aber erst die neueren Herausforderungen der letzten Jahre wurden mir Anlass, konkreter in den Dialog einzutreten, den die Theologie nun immer nachdrücklicher führt.“ Damit ist deutlich geworden, dass Papst Benedikt XVI. zu diesen Themen schon sehr früh aus eigener Einsicht vorbereitet war und darum auch in seinen eigenen Äußerungen leicht daran anknüpfen konnte. Deshalb taucht auch der Gedanke einer Bekräftigung der vom Zweiten Vatikanischen Konzil übernommenen Verpflichtungen in der Ökumene und auch im Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen immer wieder in den ersten Ansprachen auf.

So ist es auch ganz konsequent, dass bereits in den ersten Monaten des Wirkens von Benedikt XVI. gewichtige Aussagen zu finden sind. Dabei verweist er vor allem auf die Verabschiedung von Nostra Aetate vor 40 Jahren. Am 9. Juni 2005 empfing er die Vertreter der wichtigsten jüdischen Organisationen auf Weltebene (International Jewish Committee on Interreligious Consultations). Dabei sagte der Papst: „In den Jahren nach dem Konzil haben meine Vorgänger, Papst Paul VI. und insbesondere Papst Johannes Paul II., bedeutende Schritte unternommen, um das Verhältnis zum jüdischen Volk zu verbessern. Meine Absicht ist es, auf diesem Weg weiterzugehen. Die Geschichte der Beziehungen zwischen unseren beiden Gemeinschaften war komplex und nicht selten schmerzvoll, dennoch bin ich der Überzeugung, dass das von Christen und Juden bewahrte ‚geistliche Erbe’ Quelle jener Weisheit und Inspiration ist, die uns in eine dem Plan Gottes entsprechende ‚Zukunft der Hoffnung’ (Jer 29,11) führen kann. Gleichzeitig bleibt die Erinnerung an die Vergangenheit für beide Gemeinschaften eine moralische Notwendigkeit und eine Quelle der Läuterung in unserem Bemühen, für Versöhnung und Gerechtigkeit, für die Achtung der menschlichen Würde und jenen Frieden zu beten und zu arbeiten, der letzten Endes ein Geschenk Gottes ist. Ihrer besonderen Natur zur Folge muss diese Notwendigkeit eine ständige Reflexion über die tiefen historischen, moralischen und theologischen Fragen beinhalten, die die Erfahrung der Shoah aufwirft.“

Ich brauche hier nur kurz an die Ansprache von Papst Benedikt XVI. anlässlich seines Besuches in der Kölner Synagoge am Freitag, 19. August 2005, zu erinnern, gewiss einer der Höhepunkte im Rahmen des XX. Weltjugendtages in Köln. Hier heißt es bereits zu Beginn mit Verweis auf die eben genannte Ansprache: „Auch bei dieser Gelegenheit möchte ich versichern, dass ich beabsichtige, den Weg der Verbesserung der Beziehungen und der Freundschaft mit dem jüdischen Volk, auf dem Papst Johannes Paul II. entscheidende Schritte getan hat, mit voller Kraft weiterzuführen.“ Er erinnert an Nostra Aetate, das „neue Perspektiven in den jüdisch-christlichen Beziehungen eröffnet hat, die durch Dialog und Partnerschaft gekennzeichnet sind“. Er weist auf die gemeinsamen Wurzeln und an das äußerst reiche geistliche Erbe hin, das Juden und Christen miteinander teilen. Abraham ist der gemeinsame Vater im Glauben. Unter Hinweis auf die allen Menschen gemeinsame Würde beklagt der Papst mit dem Konzil „alle Hassausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und von wem auch immer gegen das Judentum gerichtet haben“ (NA 4). Wegen dieser allen gemeinsamen Menschenwürde „verwirft die Kirche jede Diskriminierung eines Menschen oder jeden Gewaltakt gegen ihn, um seiner Rasse oder Farbe, seines Standes oder seiner Religion willen“ (NA 5). Immer ist dies ein „Akt, der im Widerspruch zum Willen Christi steht“. Der Papst stellt immer wieder – in der Konsequenz der Äußerungen seiner Vorgänger, aber auch seiner eigenen Verlautbarungen – die Verpflichtung zur evangeliumsgemäßen Lehre, vor allem in der Katechese heraus. „Die katholische Kirche – das möchte ich auch bei dieser Gelegenheit wieder betonen – tritt ein für Toleranz, Respekt, Freundschaft und Frieden unter allen Völkern, Kulturen und Religionen.“ Der Papst ruft zu einem aufrichtigen Dialog auf: „Ehrlicherweise kann es in diesem Dialog nicht darum gehen, die bestehenden Unterschiede zu übergehen oder zu verharmlosen. Auch und gerade in dem, was uns aufgrund unserer tiefsten Glaubensüberzeugung voneinander unterscheidet, müssen wir uns gegenseitig respektieren und lieben.“

Schließlich hat der Papst in einer Ansprache anlässlich einer Privataudienz für die Oberrabbiner Israels am 15. September nochmals in aller Deutlichkeit die tiefere Beschäftigung mit Nostra Aetate betont und verlangt. „Ihren Besuch sehe ich als einen weiteren Schritt nach vorne in dem Prozess zum Aufbau tieferer religiöser Beziehungen zwischen Katholiken und Juden. Es ist ein Weg, der durch Nostra Aetate und jene zahlreichen Formen der Begegnung des Dialogs und der Zusammenarbeit neue Impulse und Kraft erhalten hat, die in den Prinzipien und im Geist dieses Dokumentes gründen ... Nostra Aetate hat sich als Meilenstein auf den Weg der Versöhnung zwischen den Christen und dem jüdischen Volk erwiesen. Sie (die Erklärung) betont, dass die Juden ... von Gott geliebt sind um der Väter willen; sind doch seine Gnadengaben und seine Berufung unwiderruflich (vgl. NA 4).“ Solche und ähnliche Gedanken tauchen immer wieder auf in den Grußworten von Papst Benedikt XVI. an die verschiedenen Pilgergruppen und besonders auch in den Generalaudienzen (so z.B. am 21. September 2005).

Es fügt sich gut in die Serie dieser Äußerungen, dass an der Pontificia Universitas Gregoriana vom 25. bis 28. September 2005 ein großer internationaler Kongress stattgefunden hat zum Abschluss der Erklärung Nostra Aetate. „Nostra Aetate Today / Nostra Aetate Oggi”. Die zahlreichen Interventionen bezogen sich sehr oft auf den Dialog mit dem Judentum. Man darf auf die Veröffentlichung der umfangreichen Akten gespannt sein. Bemerkenswert war hier auch eine Reihe von Äußerungen von Erzbischof Michael Fitzgerald, dem Präsidenten des Päpstlichen Rates für den interreligiösen Dialog. Kardinal Kasper, der Präsident des Rates für die Förderung der Einheit der Christen und Präsident der Kommission für die religiösen Beziehungen mit den Juden, hat den Kongress geschlossen.

Der Reigen schließt sich mit einer Äußerung des Papstes unmittelbar am 40. Jahrestag der Verabschiedung von Nostra Aetate, nämlich am 28. Oktober 2005. Benedikt XVI. hat in einer Botschaft an den Präsidenten der Kommission des Hl. Stuhles für die religiösen Beziehungen zu den Juden, Walter Kardinal Kasper, die bisher skizzierte Stellungnahme zusammengefasst und erhärtet. Der Wortlaut der Botschaft nimmt viele Elemente auf.

Damit ist wohl für alle ausreichend erhärtet, dass Papst Benedikt XVI. den vor 40 Jahren eingeschlagenen und bisher so erfolgreich weiterbeschrittenen Weg einer grundlegenden Verbesserung der Beziehungen zwischen Katholiken und Juden, Kirche und Israel mit Entschiedenheit fortsetzen will. Dies entspricht auch seinen eigenen Überlegungen, die er im Jahr 1994 in Jerusalem zum Ausdruck brachte. Mit diesen seinen Worten möchte ich auch schließen: „Juden und Christen sollten sich in einer tiefen inneren Versöhnung gegenseitig annehmen, nicht unter Absehung von ihrem Glauben oder gar unter dessen Verleugnung, sondern aus der Tiefe des Glaubens selbst heraus. In ihrer gegenseitigen Versöhnung sollten sie für die Welt zu einer Kraft des Friedens werden. Durch ihr Zeugnis von dem einen Gott, der nicht anders als durch die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe angebetet werden will, sollten sie diesem Gott die Tür in die Welt hinein auftun, damit sein Wille geschehe und es so auf Erden wie im Himmel’ werden könne: ‚Damit Sein Reich komme.’“

Jetzt muss die Kirche in allen Gliedern dem Konzil und den Päpsten der letzten 50 Jahre nur folgen.

(c) Karl Kardinal Lehmann

Es gilt das gesprochene Wort

Im Original sind eine Reihe von Fußnoten und Anmerkungen enthalten

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz