„Wohin geht die Kirche?" - Wer diese Frage stellt, muss zugleich eine andere Antwort geben können oder zumindest versuchen: „Woher kommt die Kirche?". Die Fragen nach Herkunft und Zukunft verlangen auch das Nachdenken auf unsere Gegenwart hin: „Wo stehen wir?" Wir brauchen die Perspektive aller drei Fragen, gerade um die Gestalt der künftigen Kirche zu erahnen.[1]
Ich will nicht zu weit zurückfragen, woher wir kommen. Die Kirche selbst verbietet uns mit ihrer Geschichte eine zu rasche Antwort. Ich begnüge mich vorerst mit dem Hinweis auf das Zweite Vatikanische Konzil.
I. Der Aufbruch durch das Konzil
Das Erste Vatikanische Konzil der Jahre 1870/71 war seinerzeit nicht abgeschlossen worden; nicht zuletzt Kriege verhinderten dies. Als Johannes XXIII. im Januar 1959 das Zweite Vatikanische Konzil einberief, griff er wohl manche Überlegungen und Pläne seiner Vorgänger auf, das Erste Vatikanum abzuschließen. Die Zeit war dafür ungünstig. Inzwischen war jedoch auch eine andere Epoche angebrochen. Man empfand die Einstellung und Mentalität des neuzeitlichen Katholizismus vielfach als eng und gettohaft. Viele Bewegungen in der Kirche vor allem des 20. Jahrhunderts, zum Beispiel der biblischen und liturgischen Erneuerung, suchten mit neuen theologischen Impulsen einen Aufbruch in weitere Horizonte. Im Gefühl der Befreiung, das oft damit verbunden war, hat man freilich zum Teil übersehen, dass die Disziplin und Geschlossenheit der Kirche in der Neuzeit sie freilich auch vor einem Sichanpassen und Überrolltwerden durch die Moderne bewahrt hatte, auch wenn sie dadurch gewiss in mancher Hinsicht in ihrer Kontakt- und Kommunikationsfähigkeit gelähmt war. Die Kirche hatte vor allem im 19. Jahrhundert viel Unfreiheit erfahren, aber sie blieb unabhängig und in einem tieferen Sinne frei. Viele Aufbrüche waren auch nicht die Ergebnisse allein moderner Bemühungen, sondern die Frucht der Erneuerung durch eine Wiederentdeckung der Schätze aus der ganzen Geschichte der Kirche. Insgesamt war der Aufbruch im Sinne einer kritischen Öffnung zur Moderne hin und einer erhöhten Dialogfähigkeit mit der heutigen Welt zweifellos notwendig.[2]
II. Eine falsche Entgegensetzung
Diese gewiss nicht einfache Aufgabe führte recht bald zu relativ unversöhnlichen Gegensätzen. Es gab eine Kluft zwischen „Konservativen" und „Progressiven". Das Konzil selbst hat durch viele Bemühungen immer wieder eine verbindliche Mitte für alle gefunden. Man wehrte sich gegen den Verlust der wertvollen Schätze aus der Tradition, war jedoch zu einer tiefen Erneuerung des Ererbten bereit. Dies zeigte sich besonders in der Reform der Liturgie. Die vielfältigen Auseinandersetzungen waren nicht leicht, da man oft von starren Positionen ausging und man das faire innerkirchliche Ringen miteinander mühsam wieder lernen musste. Schließlich kamen auf diesem Weg in vier Jahren 16 richtungsweisende Verlautbarungen des Konzils zustande, denen die beteiligten Bischöfe in einem hohen Maße zustimmten, immer mit über 2000 Stimmen. Dafür sind wir heute noch dankbar, denn viele Menschen, gerade auch damals jüngere, erlebten diesen Aufbruch als einen Frühling der Kirche und engagierten sich in ihr mit neuer Freude. Dies gilt auch für die unmittelbar folgenden Generationen.
Jedes Konzil braucht Zeit zur Einwurzelung in den Teilkirchen auf der ganzen Welt. Dies gilt auch für das Zweite Vatikanische Konzil. Nach 1965 war seine angemessene Umsetzung auch deshalb nicht leicht, weil weltweit in Gesellschaft und Kultur - man denke an das Jahr 1968 - viele grundlegende Erschütterungen, radikale Zweifel und massive Absagen an alle Traditionen aufkamen. Wir sprechen heute im Blick auf diese Zeit von einem Kulturschock, jedenfalls von einem tiefgreifenden Wandel, den man in der Konzilszeit so noch nicht absehen konnte. Dieser Umbruch hat sich auch in der Kirche niedergeschlagen und eine kontinuierliche und ruhige Aufnahme der Konzilsbeschlüsse zum Teil empfindlich gestört. Manches wurde nun vergröbert und radikalisiert. Einige beriefen sich auf den „Geist" des Konzils und glaubten, das Konzil selbst sei nur der Anfang noch viel radikalerer Veränderungen. In einer manchmal blinden Begeisterung verachtete man den „Buchstaben" des Konzils, also den konkreten Wortlaut seiner Verlautbarungen. Das Konzil war sich selbst der Aufgabe bewusst gewesen, dass erneuernde Elemente mit der überkommenen Tradition noch stärker vermittelt werden mussten; es konnte und musste aber diese Vermittlung nicht selbst leisten. Manches sollte die künftige Theologie näher aufgreifen und aufarbeiten. Man darf sich sicher auch die Frage stellen, ob die eine oder andere Formulierung des Konzils einschließlich mancher praktischer Beschlüsse im Einzelnen immer geglückt war. Auf jeden Fall haben wir jetzt die große Chance, 50 Jahre nach dem Konzilsbeginn und vor allem in den nächsten Jahren (bis 2015) die Zeugnisse des Konzils neu zu lesen und vor allem auch für unsere Gegenwart auszulegen.[3]
III. Die gesprengte Einheit
In dieser Zeit sind manche Gruppierungen in der Kirche immer stärker auseinandergetreten und haben das vermittelnde Gespräch miteinander aufgegeben. So kam es zu Parteiungen, die es in dieser unversöhnlichen Form in der Kirche nicht geben sollte. Die einen glaubten, sich von fest zur verbindlichen Überlieferung gehörenden Einsichten, Normen und Bräuchen lösen zu können und warfen manches, was für die Kirche und für viele Menschen kostbar war, über Bord. Sie verloren ihre kritische Sensibilität, wurden einfach mehr vom Zeitgeist als vom Evangelium abhängig. Dies wiederum reizte andere Gruppierungen, die die Treue zum ererbten Glauben mit Festhalten an allem Althergebrachten gleichsetzten und dadurch in Gefahr gerieten, auch sinnvolle, erlaubte und in manchem notwendige Erneuerungen pauschal abzulehnen.
Obwohl die Päpste und zahlreiche Bischöfe nach dem Konzil immer wieder versuchten, die auseinanderstrebenden Kräfte in die gemeinsame Mitte zu führen - was in vielem auch gelungen ist -, so blieben doch einige radikale Splittergruppen, die sich dieser Gemeinsamkeit verschlossen haben. Im Kern waren dies wohl nicht so viele, aber sie fanden Sympathisanten, die in einzelnen Fällen über den Verlust von ihnen Liebgewordenem trauerten und über manche radikale Änderungen, die oft unerlaubt und disziplinlos geschahen, entsetzt waren. Im deutschen Sprachgebiet haben wir den nötigen Ausgleich in den 70er Jahren durch verschiedene Synoden von Laien, Priestern, Ordensangehörigen und Bischöfen versucht.[4] Doch es gelang nicht immer, alle auseinanderstrebenden Gruppen in dem einen Boot der Kirche zu halten.
In diesem Zusammenhang kam es zur Bildung, Abkapselung und späteren Abspaltung einer größeren Gruppe um den französischen Missions-Erzbischof Lefebvre, die sich 1969 im Anschluss an Papst Pius X., der sich Anfang des 20. Jahrhunderts gegen modernistische Verfälschungen des Glaubens gewandt hatte, „Priesterbruderschaft St. Pius X." nannte. Diese lose Gemeinschaft bildete einen Kreis von Menschen, die nicht nur mit der kirchlichen Entwicklung unzufrieden waren, sondern auch nicht selten eng mit gewissen traditionellen kulturellen, gesellschaftlichen und auch politischen Strömungen verflochten waren. Dies gilt besonders für Frankreich, wo man in der Stellung zur Französischen Revolution und zur völligen Trennung von Staat und Kirche („Laicisme", 1905) vielfach gespalten blieb. Der Streit ging nicht nur um einzelne liturgische Reformen, vor allem um die Erneuerung der Messe, sondern er erstreckte sich auch auf die Verneinung und Verweigerung gegenüber anderen Konzilsaussagen: vor allem zur Kollegialität der Bischöfe, wodurch man die päpstliche Autorität gefährdet sah; zur Ökumene, in deren Bemühungen man einen Verrat an der Wahrheit erblickte; zur erklärten Religionsfreiheit, die man als Aufgabe des eigenen Wahrheitsanspruchs und als Förderung religiöser Gleichgültigkeit verstand, sowie überhaupt zur Zuwendung zur Moderne, die als Verrat der Distanz zur „Welt" erschien. Diese Themen blieben in der öffentlichen Wahrnehmung jedoch oft eher im Hintergrund.[5]
Zum Bruch mit der Lefebvre-Bewegung kam es im Jahr 1988, als viele Bemühungen um eine volle Rückkehr der Lefebvre-Anhänger überraschend damit endeten, dass Erzbischof Lefebvre ohne Zustimmung des Papstes vier Priester gültig, aber unerlaubt zu Bischöfen weihte. Damit war die kirchliche Einheit gesprengt.
IV. Zur Aufgabe des Papstes in einer solchen Situation
Der heutige Papst Benedikt XVI. hatte als Präfekt der Glaubenskongregation von seinem Vorgänger Johannes Paul II. den Auftrag zu einer Wiederherstellung der kirchlichen Einheit erhalten. Diese konnte natürlich nicht um jeden Preis erreicht werden. Es war eine große Enttäuschung für Kardinal Joseph Ratzinger, dass Erzbischof Lefebvre die lange Zeit mit ihm gesuchten und vereinbarten Leitsätze für eine Aussöhnung Ende Mai 1989 nicht unterschrieb. Doch er sah es auch weiterhin als seine Aufgabe an, die Aussöhnung mit den Anhängern des 1991 verstorbenen Erzbischofs Lefebvre anzustreben, insbesondere, nachdem er zum Nachfolger Petri gewählt worden war. Es gehört ja zum Grundauftrag eines Papstes, dass er gerade mitten in Gefährdungen der Einheit die Gemeinschaft der Gläubigen zusammenhält und die Einheit zurückgewinnt, wo sie verletzt ist. Dies darf selbstverständlich nicht unter einer Preisgabe letztverbindlicher Gemeinsamkeit geschehen. Aber es ehrt jeden Papst, wenn er leidenschaftlich und auf allen Wegen den Verlust an Gemeinschaft verhindert und in die Irre gegangene Mitglieder wieder zurückzugewinnen bestrebt ist.
Der Papst hat durch die Aufhebung der Exkommunikation, die nicht zu verwechseln ist mit einer Rehabilitierung und noch keineswegs die volle Wiederaufnahme in die Kirche bedeutet, eine äußerste Einladung an die Lefebvre-Bewegung, ganz besonders ihre vier Bischöfe, gerichtet. Schließlich hatten sie ja auch ihren Ausschluss aus der Kirche in offenbar mehreren Briefen, zuletzt vom 15. Dezember 2008, bedauert. Es wäre gewiss besser gewesen, rechtzeitig diese Briefe zu veröffentlichen und die Kirche auf die Chance einer Aussöhnung besser vorzubereiten.
Man verkennt völlig die Einstellung von Papst Benedikt XVI., wenn man sein Verhalten an anderen Maßstäben misst als seinem Auftrag zur Sorge um die Einheit der Kirche. Er ist kein verkappter „Traditionalist" oder ein geheimer Förderer der Lefebvre-Bewegung. Absurd ist es geradezu, seine Treue zum ganzen Zweiten Vatikanischen Konzil anzuzweifeln, wo er doch einer der ganz wenigen noch lebenden Konzilstheologen ist und auch in der Zeit nach dem Konzil sich immer zum recht verstandenen Vatikanum II bekannte, ganz abgesehen von seinen theologischen Beiträgen schon vor dem Konzil, die wohl alle der Erneuerung dienten. Auch zu schweigen von den Vorwürfen einer unklaren Stellung zum Antisemitismus und zur Leugnung des Holocaust.
Dass der Papst mit der Aufhebung der Exkommunikation einen Schritt des äußersten Entgegenkommens gewagt hat, zeigt seinen Mut. Es ist ein Schritt, der sehr verletzlich macht, wenn die Angesprochenen eine solche extreme Geste nicht annehmen. Hier kann ich in manchen Worten und im Verhalten der sogenannten Pius-Brüder nur eine Beleidigung und höhnische Zurückweisung dieser Einladung des Papstes sehen: Ich erinnere an ihre Aussagen, z. B. dass dies alles nicht genüge. Rom müsse nun weitergehen und Buße tun. Man lasse nicht ab von den radikalen Bedenken gegenüber dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Indem man Bischof Williamson bei der geforderten Zurücknahme der Leugnung des Holocaust eine längere Frist zugestand, trieb man dieses unmögliche Verhalten weiter auf die Spitze.
Entgegen manchen Pressemeldungen habe ich selbst in der ganzen Auseinandersetzung nie die Haltung des Papstes selbst kritisiert, sondern ihn in dem, was er in Sorge um die Einheit der Kirche getan hat, in Schutz genommen. Wohl aber habe ich bedauert, dass das Management der Kurie im Umgang mit der Öffentlichkeit innerhalb und außerhalb der Kirche nicht besser im Stande war, den Papst selbst mit seinen Absichten zu schützen, rasch auf Missdeutungen zu reagieren und in solchen Konflikten zuverlässig die richtigen Maßnahmen zu ergreifen. Diese Kritik, die inzwischen von vielen geteilt wird, halte ich aufrecht. Der Papst sprach nicht zufällig in einem öffentlichen Brief an die Bischöfe in aller Welt von mehreren bedauerlichen „Pannen".
Vom Ausgang der derzeitigen Gespräche zwischen Pius-Bruderschaft und Kirche/Kurie weiß ich nichts Verbindliches. Es ist vergeblich, hier bloß zu spekulieren. Es gibt nur ein Abwarten in Geduld.
V. Die heutige Lage
Die eben geschilderten Konflikte und Spannungen haben eine zusätzliche Zuspitzung erfahren, nicht zuletzt durch das weltweit zutage tretende Phänomen des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen durch Menschen der Kirche, besonders durch Priester. Ich brauche nicht ausführlicher zu wiederholen, welche schändlichen Verhaltensweisen an den Tag kamen und wie die Kirche dadurch sehr viel Vertrauen verloren hat.[6]
Aber es gab auch eine ganze Reihe von anderen Problemen, die die öffentliche Diskussionen anregten: die Frage der Kirchenaustritte[7], der künftige ökumenische Weg, Bischofsernennungen. Es war nicht überraschend, dass in diesem Zusammenhang daraufhin viele Probleme wieder auftauchten, die in den letzten Jahren die Diskussionen in der Kirche mitbestimmten: der Priestermangel, die „viri probati", die Stellung der Frau in der Kirche, die Ermöglichung eines Ständigen Diakonates der Frauen, die Stellung der geschiedenen Wiederverheirateten, die Wertung der Sexualität und besonders der Homosexualität.
Die Bischofskonferenz hat in verschiedenen Phasen und Etappen darauf hingewirkt, sowohl in den Diözesen als auch auf der Ebene unseres Landes das verlorene Vertrauen wiederzugewinnen. Dazu gehört vor allem eine grundlegende Offenheit und eine neue Form der Kommunikation. Wenn man das Wort vom Dialog recht versteht, kann man dies wirklich auch als einen notwendigen Dialogprozess bezeichnen, der am 8./9. Juli 2011 in Mannheim seinen Auftakt genommen hat und im September 2012 mit einer zweiten Phase über „Diakonie" in Hannover fortgesetzt wird.[8]
VI. Die strukturellen Rahmenbedingungen des Christ- und Kircheseins heute
Damit sind wir wieder vor unser Thema gestellt: Wohin geht die Kirche? Die Zukunft des Christentums und der Kirche: Man könnte dieses Thema ziemlich individuell angehen. Dies geschieht vielleicht sogar zu wenig. Denn in der heutigen gesellschaftlichen Situation kommt es bei allen strukturellen Fragen doch sehr auf die Widerstandskraft und Selbstständigkeit des einzelnen Glaubenden an, der freilich immer wieder durch seine Zugehörigkeit zu kleineren, überschaubaren Gemeinschaften und zu größeren Gemeinden gestärkt werden muss. Aber es scheint mir nicht weniger wichtig zu sein, die strukturellen Rahmenbedingungen des Christseins präziser ins Auge zu fassen. Denn die Gestalt und die Potenziale des konkreten Christseins hängen zwar nicht in der individuellen Ausprägung, aber doch im Blick auf den Standort sowie seine Möglichkeiten und Bedingungen davon mehr ab, als wir uns vielleicht eingestehen.
1. Der gesellschaftliche Pluralismus als Grundstruktur
Der gesellschaftliche Pluralismus ist eine Tatsache, von der man heute bei allen Diagnosen und Prognosen über den Ort von Glaube und Religion in der Gesellschaft nüchtern ausgehen muss. Wir leben in Gesellschaften, die zwar durch manche Verfassungsnormen und Gesetze, Bedürfnisse und Interessen zusammengehalten werden, die auch durchaus ethische Implikationen in sich tragen, aber es gibt keine homogene Grundlage spiritueller, religiöser und ethischer Überzeugungen, von denen alle geleitet werden. Durch die unverzichtbaren Grundrechte auf Meinungs-, Gewissens- und Religionsfreiheit ist der weltanschauliche und religiöse Pluralismus in besonderer Weise legitimiert.[9]
Solange ein Gemeinwesen trotz dieser inneren Vielfalt faktisch genügend gemeinsame Substanz wahrt, wird es die Frage nach dem Pluralismus nur in relativ abgeschwächter Form geben. Man darf annehmen, dass dies auf der Basis eines Grundkonsenses der Nachkriegszeit, der sich vor allem auch in der Distanzierung und Abwehr der nationalsozialistischen Ideologie bildete, in Deutschland bis in die späten 60er und 70er Jahre der Fall war. Allmählich war der Vorrat an gemeinsamen Grundüberzeugungen jedoch erschöpft oder wenigstens verringert. Es ist nicht ausreichend gelungen, diese Grundüberzeugungen von der einen zur anderen Generation überzeugend weiterzugeben. Die umwälzenden Jahre nach 1968 haben dies an den Tag gebracht. Die Grundwerte-Debatte, vor allem im Jahr 1976/77, verebbte bald wieder folgenlos. Die Verlegenheit blieb. Die fortschreitende Pluralisierung der Lebensformen, vor allem im Bereich von Ehe und Familie, aber auch hinsichtlich ethischer Maßstäbe hat die grundlegenden Verschiedenheiten mehr und mehr mit einer prinzipiellen Schärfe an den Tag gebracht. Der gesellschaftliche Individualisierungsprozess hat dies beschleunigt. Nach der deutschen Einigung ist gerade die weltanschaulich-religiöse Neutralität unseres Gemeinwesens noch deutlicher geworden. Zusätzlich gab es durch die größere Mobilität der Menschen und durch den Aufenthalt vieler ausländischer Mitbürger mit bisher bei uns weniger bekannten religiösen Überzeugungen eine multikulturelle Grundstimmung, die auch die bisherigen kulturellen Standards in unserem Land veränderte. Der Tourismus und die Medien haben zusätzlich zu diesem Austausch beigetragen. Die Verfassungsdebatte nach der deutschen Einheit konnte diese Tendenzen gerade noch bewältigen.
In dieser Zeit beginnt auch stärker die Klage über Sinnleere und Sinnvakuum, abnehmende Bindekräfte und schwindende gemeinsame Wertüberzeugungen in unserer Gesellschaft. Auch liberale Stimmen äußerten sich besorgt. Besonders angesichts zunehmender Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft und vor allem auch der Jugendkriminalität ist die abbröckelnde Substanz gemeinsamer Wertüberzeugungen, die tradiert werden, immer wieder beklagt worden. Besonders die Individualisierung hat sich bis in den Bereich der religiösen Überzeugungen und des Glaubens massiv durchgesetzt. Inzwischen sind die Stimmungsschwankungen in der Gesellschaft noch viel größer geworden.
2. Die Auswirkungen des Pluralismus
Eine solche Situation, die gewiss noch differenzierter beschrieben werden kann, hat Auswirkungen auf Glaube und Religion sowie besonders auf die Kirchen als deren Träger. Die Kirchen dürfen dabei jedoch nicht ganz vergessen, dass unter anderen Faktoren auch die Kirchenspaltung des 16. Jahrhunderts durch die Pluralisierung geistiger Grundüberzeugungen in der Gestalt der Konfessionen ihren Teil zu der beschriebenen Entwicklung beigetragen hat. Dieser Pluralisierungsprozess ist jedoch weit über die Kirchen hinausgegangen und ist heute ein konstitutives Element moderner Gesellschaften, mit dem sich die Kirchen grundlegend auseinandersetzen müssen.
Eine erste Folge des radikalen Pluralismus ist eine gewisse Tendenz zur gesellschaftlich leichter akzeptablen Gleichgültigkeit aller Formen von Religiosität. Formal stehen sie - unbeschadet der verfassungsrechtlichen Ausgestaltung im Einzelnen - mit gleicher grundsätzlicher Legitimation nebeneinander. Jede Privilegierung oder Überlegenheit stößt auf Misstrauen oder eine ideologiekritische Beurteilung. Bei einer vorherrschend individuellen Betrachtung des Phänomens Religion und einer distanzierten Einstellung zu den Großinstitutionen erzeugte diese Sicht eine relativ undifferenzierte Nivellierung aller religiösen Phänomene. Ein Missbrauch der Religion und ihrer Zerrformen in Aberglauben, Satanismus usw. sowie gewiss auch eine historische Bürde des Christentums über fast 2000 Jahre und sicher auch Fehler in der Vergangenheit und Gegenwart haben eine kritische Grundeinstellung begünstigt und die Bindungen auch bei den Kirchengliedern gelockert. Dies hat militanten Gruppen und bisherigen Außenseitern neue Chancen gebracht und ihre bisher eher im Abseits verlaufenen Positionen hoffähiger gemacht. Die Geschehnisse um den „Missbrauch" verstärkten diesen Prozess und begünstigten auch - nicht allein - das Wiedererstarken eines militanten Atheismus. Auf die gestiegenen Zahlen bei den Kirchenaustritten will ich nur hinweisen.[10] Sie sind freilich, wenigstens in vielen Diözesen, wieder am Zurückgehen, was uns gewiss nicht falsch beruhigen darf.
Gottes Thron steht nicht leer, so ist der Titel eines bekannten Romans. Wo die Religion schwächer wird, ziehen problematische religiöse oder pseudoreligiöse Formen durch die Hintertür ein. Bedürfnisse, die nicht mehr vorwiegend durch die Religion erfüllt werden können, werden auf andere Weise besetzt, wie z.B. nach dem Ausfall der kommunistischen Staatsdoktrin am Weiterleben der Jugendweihe in den neuen Bundesländern abgelesen werden kann. So hat sich auch insgesamt eine Form vager Religiosität herausgebildet, die stark vom Einzelnen und seinen Bedürfnissen zusammengebastelt wird. Es kommt dann zu einem manchmal spannungsvollen oder auch widersprüchlichen Synkretismus mit allerhand Ersatz- und Versatzstücken aus allerlei Religionen. Dabei tritt besonders eine verbindliche Individualethik eher zurück, während die sozialethischen Ansprüche eher steigen. Sie sind ja auch meist an andere gerichtet. Zugleich besteht nach zahlreichen religionssoziologischen Untersuchungen kein Zweifel daran, dass eine solche freischwebende subjektiv gewendete Religiosität wenigstens auf mittlere Dauer wenig Überlebenschancen hat, zumal wenn sie kaum oder gar nicht durch stabile Gruppen oder im Anhalt an Institutionen gestützt wird. Sie zerfällt oft rasch wieder, weil ihr nicht selten auch die Verbindlichkeit und eine dazugehörende Lebensform fehlen. Hier gibt es viele Illusionen.[11]
Dieser Prozess hat die Kirchen selbst mitverwandelt. Ihr Anspruch in der Öffentlichkeit ist anders geworden. Manchmal wird er rücksichtslos absolut gesetzt. In jedem Fall ist der Anspruch der Kirche jedoch leiser, manchmal freilich auch unvernehmlich geworden. So existieren Überheblichkeit, Rückzug und Scheu nebeneinander und manchmal auch ineinander. In den Kirchen selbst ist dieser Pluralismus nicht nur deshalb lebendig, weil die Angehörigen der Kirchen selbst am gesellschaftlichen Pluralismus teilhaben und dadurch von selbst entsprechende Verhaltensmuster in die Kirche mitbringen, sondern das kirchliche Leben selbst ist im Blick auf Bewegungen, Spiritualität, Lebensordnung und Lebensformen bis hinein in grundlegende Auffassungen kirchlicher Lehre vielgestaltig, ja manchmal widersprüchlich geworden. Der Versuch der Integration vieler Gruppen in das Ganze verschlingt sehr viel Zeit, was freilich noch erträglich ist, lenkt aber sehr oft auch die Aufmerksamkeit in hohem Maß ab von den gesellschaftlichen Herausforderungen, denen sich die Kirchen gegenübersehen. Ich komme noch darauf zurück. Deshalb ist es nicht ganz unverständlich, dass unabhängige Beobachter nicht nur der religiösen Szene, sondern auch der kirchlichen Milieus nicht selten zur Feststellung kommen, die Kirche - nun in der Einzahl verstanden - löse sich immer mehr auf in viele Grüppchen, die beinahe einen sektenähnlichen Charakter haben. Ich halte eine solche Diagnose angesichts der Vielschichtigkeit des Phänomens Kirche letztlich für falsch, aber es gibt zu denken, dass durchaus wohlmeinende Beobachter einen solchen Eindruck gewinnen können.
3. Privatisierung von Religion und öffentliche Bedeutung
An dieser Stelle wird deutlich, wie die Individualisierung und der Pluralismus auch den öffentlichen Charakter von Glaube, Religion und Kirchen verändern. Die Sozialform der Kirchen verschwindet nicht, aber sie ändert sich. Wenn die Kirchen in diesem Pluralismus leben, schrumpft zunächst der Radius öffentlicher Anerkennung und Geltung. Auch wenn die staatskirchenrechtlichen Normen in Gültigkeit bleiben, erfolgt eine vielfache Verlagerung. Die Kirchen erscheinen zunächst in dem gleichgültigen Nebeneinander, von dem schon die Rede war. Dies nimmt ihnen zwar nicht ihre öffentliche Erscheinung und Tätigkeit, mindert sie aber allein schon durch ihre wachsende Vielzahl. Die Sympathie in der Gesellschaft gehört dann oft den Minderheiten, zumal wenn diese in ihrer Heimat oder in unserer Geschichte bedrängt sind bzw. waren. Andere gesellschaftliche Mächte benutzen freilich auch die Ko-Existenz vieler religiöser Gemeinschaften und religiöser Lebensformen, um dem Gewicht und dem Anspruch der größeren Kirchen Grenzen zu setzen. Hier sind gewiss rasch Machtfragen mit im Spiel. Es gibt aber auch eine andere Richtung der Verlagerung, indem nämlich Religiosität ganz in die Innerlichkeit verbannt wird. Darin liegt zunächst natürlich etwas Richtiges, weil der Glaube sich auf eine letzte personale Entscheidung stützt und in der Personmitte des Menschen wurzelt. Die neuzeitlichen Existenzbedingungen für Religion haben unter ganz verschiedenen Aspekten diese Eigenheit von Religion verstärkt, indem sie auf das Herz, das Gefühl, die Betroffenheit usw. eingeschränkt wird. Das Individuum wird so das letzte Maß aller religiösen Dinge. Problematisch wird diese partiell durchaus richtige Sicht, wenn der soziale Charakter menschlicher Lebensäußerungen und erst recht der Religion ausgeblendet wird. Dies ist zwar anthropologisch und soziologisch falsch, aber mindestens für einige Zeit kann eine solche Sicht vorherrschend werden und viele Menschen täuschen.
Damit ist ein zentrales Thema der Moderne angesprochen, das viele Facetten hat. Hiermit geht eine hochgradige Privatisierung der Religion einher, die nicht nur die öffentliche Betätigung der Kirche in ein anderes Licht rückt, sondern auch jeder sichtbaren, erst recht institutionellen Gestalt von Kirche gegenüber skeptisch ist. Religion erscheint als pure Privatsache, was sie - in einem noch ganz allgemeinen Sinne - zweifellos im Blick auf die Wahl einer religiösen Überzeugung und ihrer Ausübung auch ist, damit jedoch nicht den Anspruch im öffentlichen Raum verliert. Dies sind Positionen, die der Liberalismus immer schon vertreten hat, wenngleich dies auch in vielen Spielarten erfolgte.
Die Auflösung dieses Problems ist nicht ganz einfach. Zunächst hat der christliche Glaube von der Bibel her einen Anspruch auf rationale Vermittelbarkeit seiner Gehalte, was sich durch die Entwicklung einer argumentativen Theologie und einer vielfältigen missionarischen Inkulturation konkretisiert. Die Botschaft selbst ist universal ausgerichtet und betrifft zweifellos den ganzen öffentlichen Raum zwischen Himmel und Erde. Dass dieser Öffentlichkeitscharakter keine Zwänge erlaubt, die die Freiheit des Glaubens des Einzelnen verletzen, liegt auf der Hand. Dies ist eine wichtige theologische Voraussetzung, die in den letzten Jahrzehnten - nicht zuletzt im Kontext der verschiedenen theologischen Bewegungen der Hoffnung, der Befreiung, aber auch der politischen Theologie - verstärkt wiedergewonnen worden ist, heute jedoch eher in der Gefahr ist, an Verbindlichkeit zu verlieren.
Die Bewegungen von der Gesellschaft und vom Staat her laufen anders.[12] Da der Staat weltanschaulich und religiös neutral sein muss, jedoch auf Anerkennung von Wertüberzeugungen angewiesen bleibt, kann er selbst direkt keine ethischen Maßstäbe für das Zusammenleben der Menschen produzieren, von religiösen Überzeugungen ganz zu schweigen. Er kann freilich - in demokratischen Gesellschaften - vorwiegend indirekt durch sein Verhalten zur Erosion oder zur Pflege gemeinsamer Grundüberzeugungen beitragen. Jedenfalls darf mindestens im Sinne unseres Grundgesetzes die Religionsfreiheit nicht nur negativ verstanden werden im Sinne bloßer Duldung, sondern der Staat muss der Religion einen offenen Platz überlassen, den sie in eigener Verantwortung und durch eigene Betätigung in Anspruch nimmt und gestaltet. In dieser positiven Religionsfreiheit liegt erst die wahre Regelung, nicht nur in der halben, negativen.
Wenn der Staat angewiesen ist auf das Ethos seiner Bürger, das er jedoch nicht selbst grundlegend beeinflussen kann, so muss ihm diese positive Offenheit willkommen sein, denn nur im konkret gelebten Ethos, besonders auch dem religiös bestimmten Ethos, liegt die Möglichkeit einer wertgebundenen Unterstützung. Es wäre ja ein Irrtum zu glauben, dass man abstrakte „Grundwerte" gleichsam in einem direkten Zugang verwirklichen kann. „Grundwerte" sind relativ abstrakte Größen, denn sie leben auf die Dauer nur in einem bestimmten, fest verankerten Ethos, das auch mit einer konkreten Vorzugswahl für eine Religion oder für eine Weltanschauung zu tun hat. Es gibt eben keine abstrakten Träger von „Grundwerten", sondern viele Subjekte eines jeweils eigenen und konkret bestimmten Ethos, von dem her insgesamt das Gemeinwohl mitgetragen wird. Der Staat hat zwar deshalb zu den einzelnen Religionen und Kirchen eine gewisse Distanz, aber dies ist nicht zu verwechseln mit Indifferenz. Der Staat wird in den Wahrheitsfragen zwischen den Religionen, Konfessionen und Weltanschauungen nicht Partei ergreifen. Aber man darf nicht nur diese negativ abgrenzende Dimension sehen, sondern muss auch die dadurch bedingte „Armut" des Staates selbst erkennen. In geistigen und ethischen Fragen ist der Staat sehr geschwächt, und zwar konstitutiv, von seinem Ursprung her, nicht nur faktisch. Deshalb braucht es in einem fundamentalen Sinn wertorientierte Allianzen.
Dadurch ist auch klar geworden, dass die christliche Religion weder von ihrem eigenen Verständnis noch aufgrund unserer Verfassung in den Bereich bloßer Innerlichkeit eingeschlossen werden darf. Indem sie den ganzen Menschen mit Leib und Seele, als Individuum und in Gemeinschaft betrifft, besonders wenn es auch um Fragen der Erziehung und Bildung, der Sorge um den Menschen in Krankheit und Not geht, ist das Gemeinwohl im Spiel. Dadurch wird die Religion - von der Verfassung her mindestens indirekt - zu einer öffentlichen Angelegenheit. Dies ist auch letztlich der Grund, warum man die Kirche und mit ihr die Religion nicht nur als einen begrenzten Dienstleistungsbereich neben vielen anderen Sektoren ansetzen darf, sondern warum man gewahr bleiben muss, dass Glaube und Religion von Haus aus nach dem Sinn des Ganzen fragen, auch wenn dies vielleicht manchmal eine unzeitgemäße und unbequeme Frage ist. Es kann dann doch ein Dienst am Menschen sehr wohl auf der Höhe der Zeit werden.
VII. Grundlegende Imperative für Gegenwart und Zukunft der Kirche
Es braucht eine stetige Vermittlung zwischen der Antwort des Glaubens und den herausfordernden „Zeichen der Zeit". Dies war nie einfach. Oft sind die Signale der Zeit aufdringlich und laut. Und eine bequeme Anpassung an den Zeitgeist ist es gerade nicht, was von Kirche und Glaube gefordert ist, um von der bleibenden Neuheit des christlichen Glaubens Zeugnis zu geben. Eine angepasste Kirche, die nur die Verdoppelung dessen bietet, was schon ist, macht sich selbst überflüssig.
Notwendig sind vielmehr eine im Glauben begründete Diagnose und Interpretation der „Zeichen der Zeit". Unverzichtbar dafür ist die Gabe der Unterscheidung der Geister, die in der Kirche eine gute und lange Tradition hat. Unverzichtbar ist jedoch auch der Mut zum Spurenlesen: Nur wenn wir uns tief hineinbeugen in den Staub der Zeit, vermögen wir Spuren des Heils zu unterscheiden von Holz-, Ab- und Irrwegen. Nur auf diese Weise können wir die Karte unserer Zeit vermessen und uns als Kirche immer wieder erneuern.
Ich bin überzeugt: Die Kirche der Zukunft braucht die innere Kraft zum Dialog und zum Widerstand zugleich.
1. Mut zum eigenen Standort und zur geistigen Offensive
Wenn die Kirche und wenn Christen im gesellschaftlichen Pluralismus überleben wollen, dann brauchen sie Mut zum eigenen Platz und zum unverwechselbaren Profil des eigenen Standorts. Wenn wir dabei wirklich katholisch, das heißt universal sind und unserem Glauben sowie unserer Vernunft einiges zutrauen, gelangen wir dabei nicht in eine bornierte Enge. Absolutistisches und fundamentalistisches Gehabe ist hier ebenso schädlich wie Anpassung und blinde Gefolgschaft im Blick auf den Geist der Zeit. Aber wir müssen aufbrechen und stärker in einen geistigen Wettbewerb treten als bisher. Warum befragen wir andere nicht mehr nach ihren Konzepten und Lösungen, nach ihrem Menschenbild und Weltverständnis? Bei aller Anerkennung von Demokratie und Religionsfreiheit, freier Ordnung und bürgerlicher Welt müssen wir doch auch die inneren Gefährdungen und Schwächen unseres Gemeinwesens erkennen: die tiefe Gleichgültigkeit gegenüber den Sinnfragen des Menschen, die Überdehnung der Freiheit im Namen der Freiheit, den Abbau von Normen und Verbindlichkeiten, die Ermüdung der Institutionen. Die Kirche wird ihrer Sorge um die Welt nur gerecht, wenn sie diese inneren Gefährdungen aufsucht und nach Möglichkeit zu heilen sucht, nicht indem sie sie hämisch aufdeckt und sich abwendet. Haben wir den Mut, den Anspruch und den Trost des Evangeliums offensiver zu vertreten!
2. Mut zur konkreten Alternative
Der Kern der christlichen Zuversicht ist nicht eine Hoffnung nur für dieses irdische Leben, sondern geht über dieses Leben hinaus. Man lernt die Belange des geschichtlichen Lebens anders zu betrachten, wenn man aus einer solchen Hoffnung lebt. In vielem trauen wir uns nicht mehr, die ganze Wahrheit des Evangeliums zu sagen, weil wir dieser Botschaft selbst nicht trauen oder ohnmächtig vor ihrer Vermittlung stehen. Es genügt eben nicht, das Elend und den Jammer, die Verführungen und die Versuchungen der Welt zu wiederholen oder zu beklagen. Aufmerksamkeit kann nur eine als konkrete Alternative bezeugte Herausforderung erfahren. Die Kirche braucht den Mut, inmitten der offenen Gesellschaft verbindlich und entschieden Zeugnis zu geben von ihrer Botschaft. Nur wenn wir ein hohes Maß an begründeter Zuversicht zum Kerngehalt des christlichen Glaubens haben, können wir überzeugen. Es sollte uns noch besser gelingen, aus dieser Alternative des Glaubens eine Einladung an alle werden zu lassen. Der Glaube an das ewige Leben ist in diesem Zusammenhang ein eminenter Prüfstein.
3. Mut zum persönlichen Zeugnis
Glaube hat von Anfang an mit dem mutigen, gerade auch öffentlichen Bekenntnis zu tun. Noch setzen wir oft zu sehr auf das Amt und die Institutionen allein. In Zukunft kommt es noch viel entscheidender auf das persönliche Zeugnis des Lebens und des Glaubens an: Der künftige Christ wird ein Zeuge sein, oder er wird bald nicht mehr sein. Als Zeuge vermittelt er und ist selbst jemand, der hinter seiner Sache zurücktritt, aber gerade dadurch wirkt. Es wird ein missionarisches Zeugnis sein, das in viele Winkel des Lebens hineinleuchten kann, wo eben der Arm des Amtes nicht hinreicht. Dann verwirklichen wir die viel zitierte Mündigkeit der Christen und das gemeinsame Priestertum.
4. Neues Miteinander der Christen
Wir haben nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil eine gute Zusammenarbeit von Laien, Ordensangehörigen und allen Diensten und Ämtern der Kirche, Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen. Wir sollten dieses Geschenk nicht gering schätzen. Dabei müssen wir uns doch stets bewusst bleiben, dass nicht wir die Kirche „machen". Die Kirche ist der Ort für Gottes Kommen in unsere Welt durch Jesus Christus und sie hat von Anfang an eine fundamental spirituelle und eine sakramentale Struktur. Bei aller Eigenständigkeit dürfen wir uns nicht vom gemeinsamen Leben der Gesamtkirche entfernen.
Auch im Blick auf die Ökumene konnten in den letzten Jahrzehnten viele Hindernisse überwunden werden. Sie ist - da bin ich mir sicher - ein Geschenk des Geistes und wird deshalb auch nicht mehr untergehen. Aber Krisen, Rückschläge und Bewährungsproben wird sie gewiss durchmachen und überstehen. Vielleicht haben wir uns ökumenisch manchmal auch in unseren Schwächen zu sehr angepasst und sind zueinander geflüchtet wie Kinder, die bei Kälte ein gemeinsames Nest aufsuchen. In Zukunft müssen wir viel mehr in Auseinandersetzung mit der Stärke des Anderen wachsen und dürfen uns nicht mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner zufrieden geben.
VIII. Konkrete Herausforderungen heute
Diese Grundhaltungen brauchen wir, um uns den geistigen und gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Gegenwart zu stellen. Ich bin fest überzeugt, dass wir dabei nicht nur unsere innerkirchlichen Probleme immer wieder von neuem behandeln dürfen. Wir dürfen ihnen freilich auch nicht ausweichen, sondern müssen Wege suchen, um auch innerhalb einer großen Weltkirche unsere Sorgen und Erfahrungen, Nöte und Vorschläge zu Gehör zu bringen, wie dies zu einem guten Teil bei der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland der Fall war (vgl. z. B. die Formulierung von „Voten"). Aber es gibt gerade heute eine Fülle von gesellschaftlichen Problemen, auf die wir uns viel mehr als bisher einlassen müssen. Ich will hier kurz einige besondere Herausforderungen nennen:
In unserer Gesellschaft zeigt sich immer stärker eine militante Bestreitung von Religion und Kirche. Trotz aller Anerkennung von Religionsfreiheit gibt es wieder eine hohe Aggressionsbereitschaft sowie auch eine Neigung zu Gewalt, und zwar in vielen Formen.
Die Jugendarbeitslosigkeit in Europa - ganz zu schweigen von der übrigen Welt - ist eine ausgesprochene Katastrophe. Wir kennen die Zahl aus der Diskussion der letzten Wochen. Wenn in Spanien über 45 Prozent der jungen Menschen keine feste berufliche Tätigkeit finden - in Griechenland ist es nicht sehr viel besser -, darf man sich über den Zustand dieser Gesellschaften, gerade auch in Zukunft, nicht wundern. Ich weiß um die Interpretationsbedürftigkeit dieser Zahlen. Hier sind offensichtlich ganz andere Anstrengungen nötig. Im vereinten Europa dürfen wir uns nicht auf die viel bessere Situation in Deutschland selbst zurückziehen und uns dabei beruhigen.
Wir sind nach einigen ermutigenden Zeichen der letzten Zeit in der Statistik der Geburten in unserem Lande nun wirklich am Ende der Leiter in Europa. Dies stellt gravierende Fragen an die Wege und Mittel unserer Familienpolitik, wo wir seit Jahren die Anreize zu Kindern bloß durch finanzielle Hilfen offensichtlich weit überschätzen. Es geht dabei gewiss auch um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Aber es geht ganz sicher um unsere eigenen, individuellen und gesellschaftlichen Zukunftsentwürfe.
Große Nachdenklichkeit muss uns überkommen, wenn wir feststellen, dass in unserem Land jedes dritte Kind außerhalb einer Ehe geboren wird, in den neuen Bundesländern sind es sogar 60 Prozent. Warum gelingt es den vielen glücklich verheirateten Ehepaaren und allen Institutionen unserer Gesellschaft, einschließlich der Kirchen, nicht, das Programm „Ehe" für junge Menschen überzeugender zu machen? Was wir erleben, ist doch im Blick auf die Attraktion Ehe eine wahre Katastrophe!
Ein weiterer Beleg: Ein Viertel der Menschen in unserem Land lebt allein, gewiss in vielen Formen und aus allerlei Gründen. Dabei gibt es um die Ecke herum oder in größerer Entfernung auch Partner und sogar Kinder. Was bedeuten die 17 Millionen Singles für unser Miteinander, für unsere Zukunft und für die Rentenkassen?
Viel grundlegender in diesem Zusammenhang ist freilich auch die Frage nach dem Sinn und den Vollzugsweisen menschlicher Sexualität. Ich erwähne hier nur zwei Phänomene, nämlich einerseits die bekannten Fragen nach der Wertung der Homosexualität, aber auch nach der Sexualität überhaupt, wie z.B. aus dem zweiten Buch der Schriftstellerin Charlotte Roche „Schoßgebete", das kurz nach der Auslieferung in 600.000 Exemplaren verbreitet wird und in kürzester Zeit unangefochten an der Spitze der Beststellerlisten stand, hervorgeht. Vielleicht erkennen wir in diesem Zusammenhang, wie unglücklich und wenig hilfreich es ist, wenn wir alle diese Fragen auf die Stellung der Kirche allein zur „Pille" reduzieren. Es stehen sehr viel grundlegendere Dinge an.
Seit einiger Zeit wissen wir, dass in unserer Gesellschaft oft und lange unerkannt eine intensive Umverteilung von Vermögen stattfindet. Paul Kirchhof, gewiss kein Linker, hat in der FAS (21.8.2011) beschwörend dargestellt, wie sehr die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher werden. Er hat bis in die Steuergesetzgebung hinein aufregende und herausfordernde Thesen vertreten.
Dabei ist es zu billig, wenn man auf Reichtum und Armut nur in einem finanziellen Sinne zurückkommt. Wie nicht zuletzt viele Unruhen unter Jugendlichen zeigen, gibt es schlimme Folgen des Zusammenbruchs vieler Familien, der Lerndisziplin in den Schulen, des Sozialsystems, des Verantwortungsbewusstseins z.B. von Eltern für ihre Kinder. Der englische Premierminister Cameron hat sicher eine wichtige Feststellung getroffen, wenn er sagt, dass z.B. die Krawalle in England nicht einfach Ausdruck von äußerer Armut und Verelendung sind. Auf die Spitze getrieben sagte er: „Das hat nichts mit Armut zu tun. Es geht um eine Sozialkultur." Wir leben tatsächlich in einer vielfach zerbrochenen Gesellschaft, die gerade auch durch die Probleme in der Bankenwelt, sowohl in Amerika als auch in Europa an den Tag kommt. Die Wirtschafts- und Bankenkrise, die wir vor einigen Jahren erlebten, ist letztlich überhaupt nicht von innen her aufgegriffen worden.
In diesem Zusammenhang muss auch die Rede sein von der nach wie vor himmelschreienden Ungerechtigkeit und Ungleichheit in der Welt. Mit Bestürzung muss man an die Lager hungernder Menschen in Ostafrika denken. Dies kann man aber nicht tun, wenn man nicht an die verheerenden ökologischen Folgen eines falschen Umgangs mit der Schöpfung denkt, der dann mit außerordentlicher Härte besonders auf die Ärmsten der Armen zurückschlägt. Hier haben wir unsere weltweite Solidarität weithin verloren, sie eingeschränkt auf - gewiss wichtige - Almosen. Aber es geht um viel grundlegendere Zeichen und politische Akzente in der Einstellung zu einer globalisierten Welt. Ich will unsere Hilflosigkeit gegenüber der Gewaltanwendung in vielen Ländern, z.B. in Syrien, nur nennen.
Wir dürfen nicht den vielbeschworenen Dialogprozess so betreiben, dass er sich innerkirchlich erschöpft oder auch nur darauf konzentriert. Wir müssen die Augen öffnen für die genannten grundlegenden Probleme unserer tief gefährdeten Gesellschaften. Wir haben uns schon viel zu lange von diesen dringenden Problemen unserer Zeit zurückgezogen. Wie steht es um uns und unsere Gesellschaft, wenn viele Menschen keinen Sinn in der Gegenwart und in der Zukunft erkennen können?
IX. Worauf es ankommt
Zwei Dinge sind mir besonders wichtig, die ich nun bewusst an den Schluss setze. Wir müssen radikal umkehren zur letztlich einzigen Herausforderung. Oft beschäftigen wir uns mit vielem, allzu vielem. Dann passiert es leicht, dass wir die Radikalität und Einfachheit des Glaubens und die Leidenschaft für Gott verlieren. Sie gilt es wiederzugewinnen. Dann müssen freilich auch Besinnung, Meditation, Gebet und Anbetung einen ganz neuen Rang bekommen. Wir sind immer wieder versucht, Gott wie andere Dinge unseres Lebens zu verwalten, aber wir müssen ihn täglich von ganzem Herzen und mit allen Kräften neu suchen. Wenn wir Gott allein anbeten und alle Götzen fahren lassen, schützen wir auch am meisten unsere stets gefährdete Freiheit.
Zur Gottesliebe gehört die Nächstenliebe. Das Neue Testament ist hier eindeutig. Die Suche nach Gerechtigkeit ist ein konstitutives Element der Verkündigung des Evangeliums. Dennoch entscheidet sich die Existenzberechtigung von Glaube und Kirche nicht vorwiegend an einer messbaren sozialen Nützlichkeit. Wir müssen dafür sorgen und zeigen, dass es Kirche zuerst als Botin des Evangeliums und als wirksames Zeichen des Heils gibt. Alles Übrige entspringt hieraus. Die so geborene Liebe zu Gott und den Menschen ist die wichtigste Frucht, die daraus hervorgeht.
Der größte Sündenfall für die Kirche ist die Selbstgenügsamkeit. Wenn wir begreifen, dass das Gesendet-Werden und Über-Sich-Hinausgehen zum Wesen der Kirche gehört, wird die bleibende Neuheit des Christentums auch in Zukunft alle Grenzen durchbrechen. Kirche ist immer im doppelten Sinne über sich hinaus: auf Gott und die Menschen hin.
Wie soll es weitergehen? Es besteht kein Zweifel, dass das Zweite Vatikanische Konzil uns eine erneuerte und vertiefte Vision der Kirche geschenkt hat. Dass diesem Verständnis auch die überzeugende Verwirklichung folgt, ist immer noch eine Aufgabe, und zwar für alle. Wenn die Kirche den ihr vom Zweiten Vatikanischen Konzil vorgezeichneten Weg geht, vor allem wenn sie ihn mutig und folgerichtig geht, wird sie nichts von ihrer bisherigen großen Tradition verlieren. Im Gegenteil. Die Kirche wird ihr Katholischsein voller und lebendiger ausprägen als es oft in den vergangenen Jahrhunderten möglich war. Ein tieferes Verständnis des Konzils ist eine große Aufgabe der Theologie und der Verkündigung. Die Kirche wird gerade so mehr als bisher das ganze Evangelium für den ganzen Menschen in der ganzen Welt und mit ganzer Kraft bezeugen.[13]
Dann entdecken wir auch die Kirche neu. Es ist eine tiefe Tragik in den letzten 50 Jahren, dass das Konzil mehr als jede andere Kirchenversammlung unserer Geschichte die Einsicht in das Wesen und Wirken der Kirche förderte. Aber dies ist auch nicht ungefährlich, wie wir 50 Jahre danach sehr gut sehen. Die Kirche ist nicht um ihrer selbst willen da. Sie ist kein Selbstzweck. Sie muss sich hingeben an ihre Sendung wie ihr Herr. Sie weiß deshalb auch, dass Er sie durch die Geschichte führt. Sie ist darum immer unterwegs, Pilgerin, wie ein flüchtiges Zelt, das trotz verlässlicher Fundamente immer wieder an einem neuen Bauplatz errichtet werden muss. Dies kann die Kirche nicht ohne den stetigen und festen Blick auf das Kreuz des Herrn, mit dem sie das Leid der Welt und ihre eigene Unvollkommenheit und Sündigkeit ertragen und zugleich überwinden muss. Sie braucht die Barmherzigkeit des vergebenden Gottes und das Geschenk der Erneuerung von innen und außen.
Der Kirche ist nicht verheißen, dass sie auf diesem Weg immer strahlender und mächtiger wird. Es kann eine teuflische Versuchung auf diesem Weg sein, die Kirche immer anziehender sehen zu wollen. Sie ist und bleibt in vielfacher Bedrängnis, sie bleibt auch immer die verfolgte Gemeinde, bis sie am Ende der Tage von allem Bösen, gerade auch in ihr selbst und damit auch in uns, befreit wird. Die Kirche geht den Weg ihres Herrn. Dem Evangelium Jesu Christi in Wort und Tat, durch unser Lebenszeugnis treu zu dienen, in aller Bescheidenheit und Demut, und zwar mittels der Kirche als Sakrament des Heiles der ganzen Welt, ist die froh machende Berufung für uns Christen, wo immer wie stehen.
(c) Karl Kardinal Lehmann
Anmerkungen und Fußnoten
[1] Dieser Vortrag wurde zu einem Teil bei der Diözesanversammlung des Bistums Mainz am 27.8.2011 in Mainz und anlässlich des 20-jährigen Bischofsweihejubiläums von Bischof Dr. Franz-Josef Bode am 1.9.2011 in Osnabrück gehalten. Er ist nicht veröffentlicht und wurde aktualisiert.
[2] Ausführlicher dazu K. Lehmann, Neuer Mut zum Kirchesein, Freiburg i. Br. 1982 u.ö.
[3] Vgl. meinen Beitrag in: K. Rahner/K. Lehmann (Hg.), Marsch ins Getto?, München 1973, 107-116.
[4] Vgl. dazu K. Lehmann, in: L. Bertsch u.a. (Hg.), Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, Band I. Freiburg i. Br. 1976 u.ö. 21-67.
[5] Vgl. die von mir bearbeitete und aktualisierte deutsche Übersetzung von Y. Congar, Der Fall Lefebvre. Schisma in der Kirche?, Freiburg i. Br. 1977.
[6] Vgl. K. Lehmann, Kirche der Sünder, Kirche der Heiligen, in: FAZ Nr. 77 (2010) v. 1. April 2010, 6.
[7] Dazu mein Hirtenwort zur Österlichen Bußzeit „Was bedeutet ‚Kirchenaustritt'?", Mainz 2011 (mit Anhang und Literatur); dazu auch Bistum Mainz, Planen im Sparen = Mainzer Perspektiven. Berichte und Texte aus dem Bistum 18, Mainz 2011, 7-17, 60-71, 72ff.
[8] Zum Verständnis von Dialog vgl. K. Lehmann, Zuversicht aus dem Glauben, Freiburg i. Br. 2006, 205-219.
[9] Dazu vgl. meine grundlegenden Studien in: K. Lehmann, Zuversicht aus dem Glauben, 224-238, 504-537 (Lit.).
[10] Dazu auch K. Lehmann (Hg.), Weltreligionen. Verstehen - Verständigung - Verantwortung, Frankfurt 2009, 19-41, 252-273 (Lit.).
[11] Vgl. K. Lehmann, Signale der Zeit - Spuren des Heils, Freiburg i. Br. 1983, 58-82, 183-185.
[12] Vgl. K. Lehmann, Wahrheit und Toleranz, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 262 (2010), Heft 1-2, 111-126 (Lit.).
[13] Vgl. dazu ausführlich meinen Beitrag „Das Konzil - Aufbruch oder Abbruch", vorgetragen am 29.10.2010 in Aachen und am 7.4.2011 in Lingen [im Druck].
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz