"Du stellst meine Füße auf weiten Raum" (Ps 31,9)

29. Deutscher Evangelischer Kirchentag Gemeinsamer Eröffnungsgottesdienst des Dekanates Höchst am Mittwoch, 13. Juni 2001 auf der Höchster Schlossterrasse

Datum:
Mittwoch, 13. Juni 2001

29. Deutscher Evangelischer Kirchentag Gemeinsamer Eröffnungsgottesdienst des Dekanates Höchst am Mittwoch, 13. Juni 2001 auf der Höchster Schlossterrasse

Das Losungswort des Frankfurter Kirchentags 2001 "Du stellst meine Füße auf weiten Raum" ist ohne gegenläufige Erfahrungen und Aussagen im Psalm 31 nicht so recht erschließbar. Es gibt jedenfalls seine ursprüngliche Kraft nicht her, wenn wir diese vertrauensvolle Aussage nicht mit den zerstörerischen Mächten unseres Lebens konfrontieren. Der umfangreiche Psalm, der zwei Teile enthält (31,2-9, 10-25), besteht jeweils aus der Klage, dem Vertrauen und dem Dank des Beters. Auch wenn der Psalm die Form eines individuellen Klageliedes hat, so herrscht doch das Wunder der Erhörung und der Erfahrung des Heils vor. Der ganze Psalm ist von Dank und Vertrauen durchzogen. Für den Christen hat dieser Psalm eine besondere Bedeutung, weil in ihm das letzte Wort Jesu am Kreuz "Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist" enthalten ist (vgl. Ps 31,6 z.B. bei Lk 23,46).

Der Beter nennt gerade im Kontext unseres Losungswortes sehr deutlich das Elend und die Not (vgl. 31,8.11): "Meine Kraft ist ermattet im Elend, meine Glieder sind zerfallen." In solchen Erfahrungen taucht Angst auf. Die Lebensmöglichkeiten schrumpfen. Es wird immer enger. Angst und Enge gehören zusammen, nicht zufällig auch in unserer Sprache. Erst aus dieser Bedrängnis heraus bekommt das Losungswort seinen vollen Klang: "Du hast mich nicht preisgegeben der Gewalt meines Feindes, hast meinen Füßen freien Raum geschenkt." Es gibt verschiedene Übersetzungsmöglichkeiten: "Du stellst meine Füße auf weiten Raum" (Luther-Bibel), "Du hast mir Raum zum Leben verschafft" (Gute Nachricht-Bibel), "Du hast auf weites Feld meine Füße gestellt" (H.-J. Kraus).

Wir wissen nicht genau, in welcher Notlage sich dieser Beter befindet. Es ist nicht ausgeschlossen, dass hinter der heutigen Textgestalt ursprünglich einmal die Erfahrung von Krankheit und Heilung stand. Aber die Bedrängnis ist doch auch über eine einzelne bestimmte Situation hinaus "typisch". Es ist nicht überraschend, dass darum bei den Auslegern viele mögliche Situationselemente genannt werden: ein unschuldig Verfolgter, ein Mordanschlag, falsche Anklagen, vielleicht sogar ein Asylant. Auf jeden Fall spielen Schwachheit, Elend und wohl auch soziale Isolierung eine Rolle. Es hat seinen guten Sinn, wenn die konkrete Notlage etwas offenbleibt, denn so können viele, die leiden und Grund zur Klage haben, ihre Bedrängnis in der Sprache dieses Psalms finden. So hat man auch schon einmal den Psalm ein "Kompendium konkreter Nöte" genannt. Nicht zufällig gibt es hier auch eine große Verwandtschaft zu ähnlichen Texten des Alten Testamentes, z.B. zu Ps 6 und zu den Konfessionen des Jeremia. So dürfen auch wir heute den Psalm vor dem Hintergrund unserer Lebenssituationen und Notlagen lesen und verstehen.

Das Losungswort enthält eine bildhafte Aussage, nämlich die wiedergewonnene Weite. Jeder, der sich äußerlich und innerlich eingeengt und geradezu gefangen fühle, weiß um die Befreiung, wenn man wieder ins Freie kommt. Dies ist auch ähnlich wenn wir wieder Raum zum freien Atmen erhalten. Darum ist es auch nicht überraschend, dass die Bibel an anderer Stelle dieses Bild gebraucht: "Er führt mich hinaus ins Weite, er befreite mich" (Ps 18,20), "Du schaffst meinen Schritten weiten Raum" (Ps 18,37), "Befrei mein Herz von der Angst, führe mich heraus aus der Bedrängnis" (Ps 25,17), "In der Bedrängnis rief ich zum Herrn; der Herr hat mich erhört und mich frei gemacht" (Ps 118,5). Schließlich muss man hier noch in unmittelbarer Nähe zu unserem Psalm ein ähnliches Wort anführen: "Du hast mir Raum geschaffen, als mir angst war" (Ps 4,2). So lässt sich leicht überblicken, wie sehr die Befreiung aus Enge und Angst vielfältiger Art zur Heilsbotschaft der Bibel gehört. Es gehört zum freien Menschen, dass er einen weiten Lebensraum hat. Dies betrifft in gleicher Weise äußere Bedrängnis und innere Notlagen (vgl. weitere Beispiele bei 2 Sam 22,20; Ps 66,12; Jes 54,2 usw.).

In dieser Situation von Enge und Angst kommt es darauf an, dass man nicht mutterseelenallein und verlassen bleibt. Es ist schon ganz entscheidend, dass einer einem im Elend überhaupt sieht. Die Angst kann ja so weit gehen, dass der Bedrängte jede Hoffnung verliert, auch auf den Kontakt mit Gott. Wenn aber einer da ist, der keinen vergisst und über allem wacht, ist Rettung in Sicht. Unser Psalm umschreibt diese mit kräftigen Bildern, die heute eher verblasst sind: "Du wirst mich befreien aus dem Netz, das sie mir heimlich legten; denn du bist meine Zuflucht" (31,5), Gott ist wie ein schützender Fels und eine feste Burg (vgl. 31,3f.). Immer wieder taucht aber an entscheidender Stelle das Wort vom Antlitz Gottes auf. Er sieht den Menschen wirklich und wendet sich freundlich und gütig dem Bedrängten zu: "Lass dein Angesicht leuchten über deinen Knecht... du beschirmst sie (die Menschen) im Schutz deines Angesichts" (31,17.21).

Wenn man den befreienden Jubel und den überschäumenden Dank wahrnimmt, der in diesem Klage- und Danklied liegt – es ist beides zugleich – zur Sprache kommt, spürt man auch, dass hinter diesem Psalm Nöte stehen, die durch alle Zeiten und Epochen hindurch immer wieder den Menschen bedrängen und in Ohnmacht versetzen: Krankheit, Leid, Schuld, Lüge, Verleumdung, falsche Anklage, Lebensgefahr. Wir sollten auch heute nicht zu schnell in Kirche und Seelsorge aus der Konfrontation mit diesen individuellen Unheilsituationen flüchten und uns den mehr plakativen, großflächigen sozialen und politischen Dimensionen verschreiben. Es gibt mitten in unserem Wohlstand und auch mitten im Reichtum so viele unvermutete Situationen der Verlassenheit und des Elends, der Rücksichtslosigkeit und der Ungerechtigkeit. Viele Menschen warten darauf, dass jemand Zeit hat für sie, sie anhört und ihnen ein befreiendes Wort schenkt. Dies müsste in unserer Seelsorge eine viel größere Achtung und Anerkennung finden. Statistiken können auch die wirklichen Prioritäten, um die es geht, verdecken. Dies gilt besonders für unsere modernen Nöte. Ich bin fest überzeugt, dass die erstaunlich hohe Zustimmung zur aktiven Sterbehilfe viel zu tun hat mit der Angst vor dem Sterben, vor dem Verlassensein, der fehlenden Begleitung, der liebenden Hand, dem gütigen Blick. Durch unsere Präsenz im Glauben und unser Zeugnis von Gott können wir, wenn wir es selbst aushalten, viel Licht und Trost in das Dunkel bringen. Dann entdecken wir auch wieder ganz neu die Verheißung der biblischen Offenbarung: "Du hast mir Raum geschaffen, als mir angst war."

Hier darf uns freilich das Bild von der "Weite" nicht täuschen. Es geht nicht nur um gute Stimmung und die Luft zum Atmen. Wir kommen nicht zuletzt deshalb immer wieder in die Enge und auch in Angst, weil wir das Heil bei Götzen und Idolen suchen, die versagen. Der Beter entlarvt sie als "ohnmächtige Nichtse", als "Windhunde der Nichtigkeit" (vgl. 31,7). Diese Weite kann uns wirklich nur Gott selbst schenken, wenn wir uns auf ihn einlassen und allen schlechten Ersatz fahren lassen. Darum gehört zur Klage eben auch das Eingeständnis, das wir uns nicht selbst helfen können. Nicht zufällig finden wir in unserem Psalm das letzte Wort des sterbenden Jesus: "In deine Hände lege ich voll Vertrauen meinen Geist; du hast mich erlöst, Herr, du treuer Gott." (31,6).

Gerade hier kann man anknüpfen und weiterlesen im Neuen Testament. Die Theologie des Kreuzes kann uns lehren, dass die Kraft Gottes den Menschen unglaublich viel ertragen lässt. Wehe, wenn einer dies ausnützt. Der Heilige Paulus ist dafür selbst mit seinen verschiedenen Lebenssituationen ein eindrucksvolles Beispiel (vgl. 2 Kor 4,8-12; 6,4-10; 12,9f.). Hier wird das Vertrauen, trotz aller Engen und Ängste in Gottes Hand geborgen zu sein, gesteigert. Es gibt unglaublich kühne Aussagen, die wir in ihrer inneren Kraft noch längst nicht genügend entdeckt haben, wie z.B.: "Von allen Seiten werden wir in die Enge getrieben und finden doch noch Raum; wir wissen weder aus noch ein und verzweifeln dennoch nicht; wir werden gehetzt und sind doch nicht verlassen; wir werden niedergestreckt und doch nicht vernichtet." (2 Kor 4,8f.). Ähnlich heißt es in 2 Kor 6, 4-10: "In allem erweisen wir uns als Gottes Diener: durch große Standhaftigkeit, in Bedrängnis, in Not, in Angst, unter Schlägen, in Gefängnissen, in Zeiten der Unruhe, unter der Last der Arbeit, in durchwachten Nächten, durch Fasten...bei Ehrung und Schmähung, bei übler Nachrede und bei Lob. Wir gelten als Betrüger und sind doch wahrhaftig; wir werden verkannt und doch anerkannt; wir sind wie Sterbende, und seht: wir leben; wir werden gezüchtigt und doch nicht getötet; uns wird Leid zugefügt, und doch sind wir jederzeit fröhlich; wir sind arm und machen doch viele reich; wir habe nichts und haben doch alles."

 

Zu einer solchen Hoffnung sind wir gerufen. Sie kann nicht enttäuschen, auch nicht in tiefer Finsternis. Darum ist es wichtig, den Herausforderungen standzuhalten und nicht zu flüchten. Es gibt ja erstaunlich viele moderne Psalmen, die uns dies gerade von Dichterinnen und Dichtern bezeugen, die viel gelitten haben.

 

Bei Hilde Domin heißt es:
"salva nos ex ore leonis
den Rachen offen halten
in dem zu wohnen
nicht unsere Wahl ist"

(Psalmen vom Expressionismus bis zur Gegenwart, hg. P. K. Kurz, Freiburg 1978, 166)

 

 

Positiv gewendet darf man mit der unvergesslichen Nelly Sachs die Hoffnung haben:
"Im Geheimnis eines Seufzers
Kann das ungesungene Lied des Friedens keimen"

(Höre Gott. Psalmen des Jahrhunderts, hg. P.K. Kurz, Zürich 1997, 86)

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz