Am 24. September wurde am Rande der Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz die Sonderbriefmarke "50 Jahre Zweites Vatikanisches Konzil" vorgestellt. Wir dokumentieren einführende Gedanken von Kardinal Lehmann dazu.
Viele und vielfältige Ereignisse bilden die Geschichte in unserem Land, in Europa und in der Welt. Dazu gehören auch große religiöse und kirchliche Begebenheiten. In unserer Zeit blicken wir auf den Beginn der Reformation vor 500 Jahren zurück (1517). Die Gründung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1948 in Amsterdam, der alle nicht-katholischen Kirchen - ca. 350 Kirchen aus 120 Ländern - versammelt, hat seither unsere Art des kirchlichen Zusammenlebens mitgeprägt. Das Zweite Vatikanische Konzil ist wohl das bedeutendste Ereignis in der Geschichte der katholischen Kirche im 20. Jahrhundert. Es begann vor 50 Jahren am 11. Oktober 1962 und dauerte vier Jahre bis zum 8. Dezember 1965. Die 20 Konzilien, die man in der katholischen Kirche seit der Antike (Nizäa I, 325) vor dem Vaticanum II zählt, gingen aus der Notwendigkeit hervor, gemeinsame Fragen des Glaubens oder der Kirchenordnung auch miteinander zu lösen.
Herausforderungen und Streitigkeiten im Blick auf Lehre und Kirchenordnung standen in der Regel im Vordergrund. Die Konzilien sind in ihrer äußeren Gestalt stark durch den jeweiligen kulturellen Kontext bestimmt. Die Grundidee hat sich jedoch bis heute durchgehalten. In der Sprache des heutigen Kirchenrechts heißt dies: Das Bischofskollegium mit dem Papst ist Träger der höchsten Vollmacht in der Kirche. Das Ökumenische Konzil ist eine Form, in der das Bischofskollegium in feierlicher Weise seine Vollmacht im Blick auf die Gesamtkirche ausübt. Deswegen gehören alle und nur die Bischöfe mit entscheidendem Stimmrecht zum Ökumenischen Konzil. Selbstverständlich kann es auch Berater, Beobachter und Gäste ohne Stimmrecht geben.
Vor diesem Hintergrund versammelte das Zweite Vatikanische Konzil ca. 2400 Bischöfe aus aller Welt. Es verabschiedete nach intensiven Beratungen mit vielen Entwurfsstadien der Texte und Zehntausenden von Abänderungsvorschlägen 16 verbindliche Beschlüsse, nachdem die Zahl der 72 vorgeschlagenen Beratungsthemen radikal reduziert worden war. Papst Johannes XXIII., der am 25. Januar 1959 überraschend die Einberufung des Konzils bekanntgab, sah das Konzil selbstverständlich in Kontinuität mit der großen kirchlichen Tradition, wollte es aber nicht auf die Aufgabe der Klärung aktueller Fragen der Lehre und der Disziplin beschränken. Er betonte den „pastoralen Charakter" und meinte damit eine umfassende Betrachtung der Erfordernisse des Lebens der Kirche in unserer Gegenwart. Die Kirche sollte bei Wahrung ihres verbindlichen Erbes Bereitschaft und Fähigkeit wieder zurückgewinnen, um das Evangelium sachgerecht und zeitgerecht in das Heute einzubringen („aggiornamento" = Heutigwerden). Papst Paul VI. setzte das Konzil nach dem Tod von Johannes XXIII. auf seine Weise, aber mit dieser Grundintention fort (Juni 1963). Der neue Papst widmete sich auch nach dem Konzil mit allen Kräften einer zielstrebigen Verwirklichung der Beschlüsse.
Alle 16 Texte haben die Autorität des Konzils, jedoch in gestufter Verbindlichkeit (4 Konstitutionen, 9 Dekrete, 3 Erklärungen). Auch wenn die einzelnen Beschlüsse recht vielfältig sind, so haben wir doch insgesamt folgende Ordnung und Aufteilung in den Texten: 1. Das grundsätzliche Selbstverständnis der Kirche, 2. das innere Leben der Kirche, 3. Die Sendung der Kirche nach außen. Mit Recht wurden für das Sonderpostwertzeichen die vier erstrangigen und wichtigsten Konstitutionen im Sinne grundlegender Basis-Dokumente ausgewählt und in zwei Zweiergruppen kreuzförmig angelegt. Dies ergibt eine sehr einleuchtende und tragfähige Struktur, in die sich auch die anderen Verlautbarungen des Konzils einzeichnen lassen.
Der senkrechte Längsbalken erinnert an zwei Konstitutionen, die den Anfang und den Abschluss des Konzils markieren. Die Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung „Dei verbum" vom 18. November 1965 zeigt die fundamentale Gründung der Kirche in der göttlichen Offenbarung auf, in der sich Gott radikal der Welt und den Menschen zuwendet. Dies erfolgt von Anfang an im Wort der Heiligen Schrift und schließlich in der Menschwerdung seines Sohnes Jesus Christus. Noch nie hat ein Konzil oder das höchste Lehramt in der Kirche so intensiv und so ausführlich über das Wort Gottes und die Heilige Schrift gesprochen. Das Ringen ging wirklich durch die ganze Konzilszeit. Der Gewinn für das ökumenische Gespräch ist auch heute noch groß. Leider ist dieser Text nicht so bekannt, wie er es verdient.
Der glaubende Mensch antwortet auf diese Einladung Gottes selbst durch Dank, Bitte und Lobpreis im Gebet und im Gottesdienst der Kirche. Darum wird im Längsbalken diesem Offenbarungstext die Konstitution über die heilige Liturgie „Sacrosanctum Concilium" vom 4. Dezember 1963 zugeordnet. Es ist der erste Konzilsbeschluss. Dies hatte gute Gründe. Man konnte bei der Erarbeitung auf viele Vorschläge und Erfahrungen der sogenannten „Liturgischen Bewegung" zurückgreifen, die im Lauf des 20. Jahrhunderts in den mitteleuropäischen Ländern segensreiche Früchte brachte (einschließlich der Bibelbewegung und der ökumenischen Bewegung). Vor allem wurden die oft in langer Zeit gewachsenen Riten und Formulare der Gottesdienste, besonders der Eucharistiefeier und der Sakramente, vereinfacht. Liturgiegeschichtliche Studien halfen bei der Erkenntnis von wenig sinnvollen Überlagerungen und Doppelungen im überkommenen Text. Von dieser Erneuerung gingen auch viele Bestimmungen aus zur konkreten Gestaltung des Kirchenjahres, der Kirchenmusik und der liturgischen Kunst. Der Text enthielt darum auch viele Generalanweisungen für die liturgischen Reformen der kommenden Jahre. Die Zulassung der Volkssprache in allen liturgischen Vollzügen brachte eine neue Nähe zu den Menschen und zum jeweiligen kulturellen Kontext. Es ist zwar bedauerlich, aber angesichts dieser sichtbaren Änderungen auch nicht sehr verwunderlich, dass nach dem Konzil mancher Streit bis heute über diese Erneuerung ausbrach. Hier wurde die Reform am meisten sichtbar.
Der kürzere Querbalken kennzeichnet zwei recht verschiedene, aber doch zusammengehörende Texte. Aus der Mitteilung der göttlichen Offenbarung in Jesus Christus und ihrer Bezeugung in der Schrift und der sie auslegenden Tradition wird die Kirche geboren, im Konzil die Dogmatische Konstitution über die Kirche „Lumen gentium". Damit ist nicht zuerst und allein die Kirche gemeint, sondern „Jesus Christus ist das Licht der Völker". Der Text wurde am 21. November 1964 verabschiedet. Als „Dogmatische Konstitution" will er wie „Dei Verbum" über die Offenbarung eine verpflichtende Lehraussage machen. Auch diese stärker theologische Art zu sprechen fehlt also im Konzil nicht. Im Unterschied zur jüngeren Lehre von der Kirche wird diese vom Konzil in ihrer ganzen Vielfalt, in den vielen biblischen Bildern, in ihrer ursprünglichen katholischen Weite und in ihrem differenzierten Verhältnis in sich selbst, zu den christlichen Nachbarkirchen, zum Judentum und zu den nichtchristlichen Religionen, ja sogar zum Atheismus umschrieben. Das Bischofsamt, besonders auch in seinem Verhältnis zum Papsttum, wird theologisch geklärt. Der Ständige Diakonat verheirateter Männer wird eingeführt. „Lumen gentium" ist ein ganz reicher Text, irgendwie schon so etwas wie die theologisch-spirituelle Mitte des Konzils.
Damit sind wir auch fast von selbst bei der vierten (Pastoral-)Konstitution über die Kirche in der Welt von heute „Gaudium et Spes", „Freude und Hoffnung", vom 7. Dezember 1965, dem letzten Tag des Konzils angekommen. Der Titel heißt - ganz neu - „Pastoralkonstitution": also eine Verlautbarung mit sehr hoher Autorität, aber eben mit einer fundamentalen „pastoralen Zielsetzung", wie wir dies schon früher erläutert haben. Vielleicht sagt der Anfang dieses Textes am besten das Wichtigste über sich selbst: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände." In der Folge wurden neben einer konzentrierten Darlegung des christlichen Menschenbildes in dem mit Abstand umfangreichsten Text des Konzils, der eine ganz neue literarische Gattung kirchlicher Lehre darstellt, viele Aufgabenfelder in Gesellschaft und Kirche behandelt, die grundlegend unsere Welt bestimmen: die Menschenwürde, die menschliche Gemeinschaft und ihre Baugesetze, die Arbeit des Menschen, Ehe und Familie, kultureller Fortschritt, das Wirtschaftsleben, die Förderung des Friedens, der Staat, der Aufbau der Völkergemeinschaft. Beeindruckend ist das oft übersehene Schlusswort (Art. 91-93), das alles nochmals zusammenfasst.
So zeigt sich wiederum im Verhältnis der vier großen Texte untereinander das Verständnis von Kirche: Sie ist keine eigene, selbstständige, abgeschlossene Größe für sich, sondern als Sakrament des Heils der Welt ausgespannt hin zum dreifaltigen Gott, der zu uns herabsteigt, und zugleich ausgestreckt zu den Menschen hin in aller Welt. In dieses Koordinatenkreuz lassen sich alle anderen Aussagen des Konzils einbeziehen und tiefer verstehen: nach innen (Themen: Bischöfe, Priester, Ordensleben, Laien, Erziehung) und nach außen (Staat und Völkerwelt, Medien, nichtchristliche Religionen, Judentum, Ökumene in Ost und West, Religionsfreiheit, Mission). Die Texte bauen aufeinander auf und ergänzen sich. Die später verabschiedeten Beschlüsse haben viel von den vorausgegangenen Verlautbarungen und den Erfahrungen des Konzils gelernt. Sie sind deshalb auch manchmal reifer.
Das Sonderpostwertzeichen baut dies alles auf und strukturiert es in Kreuzesform. Die beiden Balken des Kreuzes, längs und quer, ergänzen sich und tragen sich gegenseitig. Sie treffen und kreuzen sich in der Mitte, die auch für das Herz des gekreuzigten Herrn steht, der für das Leben der Welt seine eigene Existenz hingibt. Daraus entsteht die Kirche. Die Enden der Balken verbinden Himmel und Erde, Kirche und Welt. Aber wie schon für die Alte Kirche das Kreuz in alle Himmelsrichtungen zeigt und ihnen in ihrer Sendung folgt, so wollen die vier Konstitutionen auch allen Nöten und Bedrängnissen mit den Heilungschancen und Hilfen der Kirche überall in der Welt nachgehen. Er hat sein Leben hingegeben für alle.
Darum ist für uns das Zweite Vatikanische Konzil in der Geschichte und vor allem in der Gegenwart der katholischen Kirche das wichtigste Ereignis, aber nicht nur für das Binnenleben der Kirche, sondern für ihre Sendung in alle Welt. Deswegen soll die neue Konzils-Briefmarke auch in alle Welt hinausgehen. Wir danken über Sie, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Hartmut Koschyk MdB, dem Bundesminister der Finanzen, Herrn Dr. Wolfgang Schäuble, den zuständigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Ministerium, dem Designer und Künstler Andreas Ahrens und allen, die am Zustandekommen der Marke und an dieser Feier beteiligt sind und waren.
(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz
Zur Pressemeldung der Deutschen Bischofskonferenz und zum Manuskriptdownload auf den Seiten der DBK.
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz