Alle Informationen, sofern sie für das Verständnis der Umfrage wichtig sind, finden sich in der Einleitung des Berichtes von Frau Ordinariatsrätin Dr. Barbara Nichtweiß, die von mir mit der Auswertung beauftragt worden ist. Ich danke ihr und ihren Mitarbeiterinnen sehr für ihre wertvolle Arbeit.
Ich habe mir selbst beim Vorgang der Organisation der Umfrage und bei der Kenntnisnahme der Auswertung einige Gedanken gemacht zur Umfrage und zur künftigen Verwertung der Ergebnisse. Diese Reflexionen sind vorläufig und unvollständig. Ich will jedoch einige Überlegungen festhalten.
1. Die aktiven Katholiken im Kern der Kirche haben trotz einiger harter Urteile die Umfrage mit Freude und Dankbarkeit auch deshalb begrüßt, weil sie einmal selbst gefragt werden
und ihre Meinung kundtun können.
2. Die Menschen sind jedoch oft sehr enttäuscht und manchmal auch verärgert über die oft schwer verständliche „technische" und unsensible Sprache der Umfrage, über dabei leitende
Perspektiven und Voraussetzungen sowie über den enormen Zeitdruck.
3. Wenn man wieder einmal eine solche Umfrage machen sollte, muss sie professionell vorbereitet, auf die einzelnen Bischofskonferenzen hin abgestimmt und mit weniger Zeitdruck verbunden werden.
4. Die Umfrage ist nicht repräsentativ, d.h. sie bietet keinen Querschnitt durch die ganze katholische Bevölkerung. Als Spiegelbild ist sie jedoch repräsentativ für einen aktiven
Kern der Katholiken; es antworten dabei eher die Schichten, die öfter schreiben und eher gewohnt sind, ihre eigene Meinung schriftlich niederzulegen. Es gibt aber durchaus gute,
treffende Antworten von „kleinen Leuten". Dabei zeigt es sich, dass die Menschen in vielem eine eigene, feste und z.T. auch begründete Meinung haben. Sie können wirklich in
en meisten Fragen mitreden. Jedenfalls gilt dies für die zentralen Anliegen. Dies muss beachtet werden.
5. Ein ganz hoher Prozentsatz der Zeugnisse bezieht sich auf die Fragen 4 „Zur Pastoral für Gläubige in schwierigen Ehesituationen", d.h. vor allem auf „Geschiedene Wiederverheiratete", und auf 7 „Offenheit der Eheleute für das Leben" („Humanae vitae", „Empfängnisregelung"), gefolgt von den Problemen um die Homosexualität.
6. Sehr viele Aussagen über diese Themen zeigen eine tiefe Kluft zwischen einem großen Teil des Kirchenvolkes und der „Hierarchie". Nicht zuletzt darum wird die Kirche im ganzen Bereich von Sexualität und Ehe/Familie kaum mehr ernstgenommen. Gewiss gibt es auch noch andere Ursachen (vgl. unten Nr. 9/10). Dies hat insgesamt eine große Vertrauenskrise geschaffen, vor allem ineins mit den Missbrauchsskandalen, „Limburg" usw.
7. Diese Situation offenbart eine echte Führungskrise auf der obersten Ebene, Bischöfe und Bischofskonferenzen eingeschlossen. Seit 40-45 Jahren tragen wir die Konflikte um die
„Pille" („Humanae vitae", 1968) und um die Geschiedenen Wiederverheirateten (vgl. z.B. Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, 1971-1975 und
Folgeversuche) mit uns herum, ohne eine entsprechende Antwort zu finden. Es war zu erwarten, dass die Priester, auf sich allein gestellt, ganz verschiedene Wege gehen.
8. Wie schon erwähnt, geht es hauptsächlich um
• eine kümmerliche, oft freilich entstellte Kenntnis des katholischen Eheverständnisses,
• einen erheblichen Rückgang der Teilnahme an Ehevorbereitungskursen, aber auch um
das Fehlen anderer Vermittlungsformen, um über Ehe zu sprechen,
• den Umgang mit Wiederverheirateten Geschiedenen (mit den notwendigen Differenzierungen!),
• die Offenheit für Kinder (Empfängnisregelung, „Pille", „Humanae vitae"),
• die Homosexualität von Menschen und Ausdrucksformen ihrer Gemeinschaft,
• Kinder aus kirchlich ungültigen Ehen und von Alleinerziehenden in der Kirche,
• Begleitung von konfessionsverschiedenen bzw. konfessionsverbindenden Ehen (es gibt dazu auch einige ökumenische Dokumente!).
9. Im Blick auf diese Situation haben wir gewiss viel Gegenwind vom Zeitgeist („Individualismus", „Subjektivismus", „Indifferenz", gesellschaftliche Trends wie „Liberalisierung", „Säkularisierung", „Pluralismus" usw.), aber sie dürfen Defizite in unserem Verhalten, in unseren Argumenten und in der kirchlichen Autoritätsausübung zu manchen Dingen nicht verdecken. Über manche Dinge haben wir auch zu lange geschwiegen. Wir brauchen jedenfalls eine offensive Strategie.
10. Beim Versuch einer Neuorientierung müssen wir auf folgende Themen eingehen, die zu den Voraussetzungen einer Sanierung gehören:
• stärkere Beachtung des einzelnen Menschen als Subjekt/Person und seiner Verantwortung (Grenzen jeder „Verbotsethik" heute),
• der Vorwurf der „Leibfeindlichkeit" im Umgang mit Sexualität, Ehe und Familie,
• Beurteilung des „Scheiterns" menschlicher Beziehungen,
• bleibende Spannung zwischen der Barmherzigkeit und (der fast immer vergessenen)
Gerechtigkeit,
• der Ort von Menschen aus gescheiterten ehelichen Beziehungen in der Kirche (ganz
grundsätzlich),
• Kurzschlüssigkeit beim unbedachten Ruf nach genereller Zulassung zur Eucharistie,
• stärkere Beachtung des Kindeswohls im pastoralen Handeln der Kirche,
• die Rolle von Segnungen für Menschen in schwierigen Situationen (in Abhebung von einer sakramentalen Trauung),
• mehr Kenntnis und mehr Rücksicht auf die heute oft schwierigen sozialen und arbeitsrechtlichen Bedingungen für junge Menschen, gerade wenn sie eine Ehe eingehen
wollen,
• mehr Wegbegleitung von Ehen in recht unterschiedlichen Situationen,
• mehr niederschwellige, vielstufige Angebote für Menschen in Konfliktsituationen bei intensiver Zusammenarbeit von Caritas und Pastoral (statt mangelnder Zusammenarbeit und kontaktlosem Nebeneinander),
• nochmals: vor allem Zurücktreten einer vorherrschenden „Verbotsethik" zugunsten einer menschenfreundlichen Ethik, die durchaus Weisungen und Verbote enthält.
Die Ergebnisse der Umfrage erzeugen und verstärken, auch wenn sie nicht repräsentativ sind, den Eindruck einer fatalen Situation. Eigentlich wissen wir schon lange darum. Vieles wurde
verdrängt. Jetzt bietet uns Papst Franziskus auf mehrere Weisen die Chance einer klaren Wahrnehmung und dann auch einer entschlossenen Heilung der aufgezeigten Mängel: Die
Umfrage öffnet uns nochmals die Augen und kann eine neue Offenheit und Ehrlichkeit erbeiführen helfen. Billige Parolen jeder Art und Herkunft helfen nichts. Dies gilt für autoritäre Wiederholungen und modernistische Anpassungen. Es braucht eine ethische und spirituelle Umkehr zur Wahrheit, zu einem differenzierten, wenn auch einfachen Denken. Die Leute wollen dies im Tiefsten ihrer Sehnsucht, wie auch andere Umfragen bezeugen (z.B. für die Jugend die seit Jahrzenten regelmäßig wiederholte Shell-Studie). Wir können wirklich wieder die oft verschüttete Schönheit und Größe des menschlichen Leibes, von Sexualität und von Liebe, aber auch ihre Abgründigkeit und ihr Elend, die zur Hölle werden können, neu entdecken. Unser Glaube hat dafür die Ressourcen. Es ist auch manches dafür vorbereitet worden, z.B. in der Theologie, in der Beratungspraxis usw. Eine Umkehr dazu kann neue Freude und frischen Schwung verschaffen. Papst Franziskus macht uns dazu Mut. Eine große Chance eröffnet sich in der Außerordentlichen und Ordentlichen Bischofssynode 2014/2015, zu denen die Umfrage einen Beitrag leisten soll. Ich erhoffe mir mit allen Teilnehmern der Umfrage-Aktion fruchtbare Ergebnisse.
Mainz, 16. Dezember 2013
Karl Kardinal Lehmann
Zu den ausführlichen Ergebnissen geht es als pdf-Download hier (Link)
Weitere Informationen auf der Internetseite www.bistum-mainz.de/umfrage
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz