Predigt im Pontifikalgottesdienst am Ostersonntag, 8. April 2007 im Hohen Dom zu Mainz
In den letzten zweit Tagen haben wir auf das Kreuz geschaut. Es wird uns auch künftig begleiten. Denn der auferstandene Herr ist der Gekreuzigte. In aller Herrlichkeit zeigt er uns die roten Wundmale. Der Tod hat offenbar sein Werk getan. Die Jünger sind davongelaufen. Was soll jetzt werden? Wie geht es weiter?
Es ist gut wenn wir nicht zu rasch diese Fragen loslassen und nicht ein wenig unüberlegt in den Taumel der Osterfreude hineinspringen. Man muss den Karfreitag und auch den Karsamstag mit den eben gestellten Fragen aushalten. Besonders der Karsamstag ist eine einzige große Frage: Geht es überhaupt weiter? An Karsamstag wird selten gepredigt. Es ist eher ein stiller Tag, an dem nichts zu geschehen scheint. Wir warten und hoffen, dass Gott nun einen neuen Anfang setzt. Harren und Warten!
Aber der Eindruck eines Tages, an dem nichts geschieht, wäre doch falsch. Dann hätten wir nämlich eine wichtige Wahrheit unseres Glaubens einfach beiseite geschoben, die mit der Beantwortung dieser Frage ganz besonders zu tun hat. Wenigstens das Apostolische Glaubensbekenntnis (im Unterschied zum „Großen Glaubensbekenntnis“ der Konzilien von Nizäa und Konstantinopel) formuliert das, was in die Zeit zwischen Karfreitag und Ostern gehört: „Abgestiegen in das Reich des Todes“. Was ist damit gemeint?
Das „Reich des Todes“ hat am Ende gewiss mit den Verlorenheiten, auch der ewigen Verlorenheit des Menschen, der „Hölle“ zu tun. Aber zunächst ist das Reich des Todes (Scheol) beinahe eine Art von Niemandsland. Es ist dadurch gekennzeichnet, dass die Beziehungen zu Gott und zu den Menschen, zur Welt überhaupt, abgebrochen sind. Immer wieder formuliert es die Heilige Schrift des Alten Bundes, dass in der Unterwelt Gott nicht mehr gelobt wird. Aber auch Gott gedenkt der Toten nicht mehr. Von beiden Seiten her scheint die Beziehung zerbrochen zu sein. So ist es eher ein Ort der Hoffnungslosigkeit. Natürlich darf man sich dabei nicht irgendeinen umschreibbaren Raum vorstellen.
Wenn nun Jesus in das Reich des Todes kommt, dann hat dies ohne jede Frage eine grundlegende Bedeutung. Er bringt ja etwas mit, was diese Verschlossenheit des Totenreiches aufbricht. Wenn Jesus aus seiner Passion heraus in die Unterwelt kommt, dann bringt er ganz gewiss das mit, was sein ganzes Leben und besonders auch sein Leiden und seinen Tod ausgemacht hat, dass er nämlich sein Leben hingegeben hat für die Menschen, für alle Menschen. Dies kann er in keiner Situation, in der er sich befindet, draußen lassen. So bringt er auch in das Reich des Todes eine neue Beziehung zwischen Gott und Mensch. Die Beziehungslosigkeit im finsteren Reich des Todes wird aufgehoben. Jetzt kommt die ganze Kraft und Macht von Jesu Christi Auferstehung sogar in die Bereiche unseres Lebens, die als besonders verloren und preisgegeben, ja hoffnungslos erschienen. Der Sohn Gottes geht gerade dahin, wo oft die äußerste Leere und Verzweiflung herrscht. Es ist die Gottferne und die Einsamkeit. Ja, es ist so natürlich auch ein Platz für die Sünder. Jesu Liebe schließt – das haben wir in diesen Tagen immer wieder gesehen – niemand aus. Darum bringt er sogar in das Reich des Todes Bewegung. Die Heilige Schrift hat dies schon mit mehreren Bildern umschrieben, dass nämlich durch Jesu Auferweckung die Pforten der Unterwelt zerbrechen. Wir denken auch an das schöne Wort Jesu: „Ich war tot, doch nun lebe ich in alle Ewigkeit, und ich habe die Schlüssel zum Tod und zur Unterwelt.“ (Offb 1,18)
Jetzt verstehen wir auch, warum das Motiv vom Abstieg Jesu Christi in das Reich des Todes zur Osterbotschaft gehört. In den orthodoxen Kirchen spielt diese Wahrheit des Glaubens an Ostern sogar eine zentrale Rolle. Da geht es weniger wie im Westen um den Aufstieg aus dem Grab. So betet man in der Basiliusliturgie: „Indem er durch das Kreuz in den Hades hinabstieg, um alles mit sich selbst zu erfüllen, löste er die Schmerzen des Todes.“ Jesus geht gerade dahin, wo der unerlöste Mensch sich befindet, nämlich im Tod, um ihn von dort heraus mit sich selbst zum Leben zu führen. Jesus zieht in der Unterwelt den gefallenen Menschen mit sich zum Leben empor. So ist der so genannte Höllenabstieg in der Ostkirche das Bild der Auferstehung Jesu Christi.
In der Tat ist der Abstieg Jesu in das Reich des Todes eine ganz zentrale Aussage für die universale Hoffnung, die wir durch die Auferweckung Jesu gewonnen haben. Die Erlösung Jesu umgreift alle Zeiten und Räume. So trifft er im Reich des Todes auch auf alle Gerechten von Adam und Abel an und holt sie zu sich (vgl. LG 2). Dies hat ähnliche Bedeutung für uns. Kein Bereich unserer Wirklichkeit bleibt von dieser Rettung und Befreiung durch Jesus Christus ausgeschlossen. Auch die Mächte der Sünde und des Todes, die deswegen nicht verharmlost werden, können nicht mehr verhindern, dass die Zuwendung Gottes zu allen Menschen stärker ist.
Dies zeigt nochmals die intensive Zuwendung Gottes in Jesus Christus zu allen Menschen. Die Hingabe seines Lebens für alle bringt eine große Hoffnungskraft in die Verlorenheiten auch unseres heutigen Lebens. Wir dürfen nicht einfach Menschen aufgeben. Auch einer, der tief schuldig geworden ist, soll nochmals ein neues Leben beginnen dürfen. Dann können wir auch auf hoffnungslose Situationen und „Fälle“ zugehen und noch einmal gegen allen Anschein Zuversicht wagen. Darum sagt der Abstieg Jesu in das Reich des Todes die tiefste Solidarität Gottes auch mit dem „Verlorenen“ aus. Darum kann auch keine noch so große Gottferne irgendeinen Menschen ganz von der Liebe Gottes trennen. Wer freilich in dieser absoluten Beziehungslosigkeit und Kommunikationslosigkeit für immer bleiben will und sich so auch der befreienden Erlösungstat durch Jesus Christus endgültig verweigert, der wird erst die ganze erbarmungslose Tiefe der Unterwelt erfahren. Es gibt wirklich in diesem Sinne die Gottverlassenheit der „Hölle“. Jetzt erst wird das noch doppelsinnige Reich des Todes endgültig zur Hölle.
Wir dürfen also eine große Hoffnung haben. Auch da, wo wir eher skeptisch sind und Grund zu großer Enttäuschung haben, ist das letzte Wort von Gott her noch nicht gesprochen. Auf seine Weise sagt es der heilige Paulus im Brief an die Römer: „Aber auch wir, obwohl wir als Erstlingsgabe den Geist haben, seufzen in unserem Herzen und warten darauf, dass wir mit der Erlösung unseres Leibes als Söhne offenbar werden. Denn wir sind gerettet, doch in der Hoffnung. Hoffnung aber, die man schon erfüllt sieht, ist keine Hoffnung. Wie kann man aber auf etwas hoffen, das man nicht seiht? Hoffen wir aber auf das, was wir nicht sehen, dann harren wir aus in Geduld.“ (8,23-25) Von dieser Sehnsucht sprechen die Menschheit und besonders auch das Alte Testament, wenn es z.B. in Psalm 130 heißt: „Ich hoffe auf den Herrn, es hofft meine Seele, ich warte voll Vertrauen auf sein Wort. Meine Seele wartet auf den Herrn mehr als die Wächter auf den Morgen. Mehr als die Wächter auf den Morgen soll Israel harren auf den Herrn. Denn beim Herrn ist die Huld, bei ihm ist Erlösung in Fülle.“ (130,5-7)
Die schlechteste Antwort auf diese universale Heilshoffnung wäre ein leichtfertiges Spiel mit ihr, als ob Gott beliebig seine Güte verschleudert. Sie ist nie „billige Gnade“. Man würde sonst auch den Tod Jesu Christi, in dem er uns diese Hoffnung geschenkt hat, nicht ernst nehmen. Da wir uns selbst kennen und um unsere Schwächen wissen, dürfen wir gewiss auch Hoffnung haben für uns selbst. Aber dies ist nicht das Erste. Ich habe Hoffnung zuerst für die Anderen und darin eben auch, wenn ich mich in der Tat des Lebens so weit ausstrecke, auch für mich selbst. Aber für uns selbst müssen wir immer auch eine Hoffnung pflegen, „die der Furcht nicht entbehrt“ (Hans Urs von Balthasar). Dies wird unsere Bemühungen und Anstrengungen nicht mindern, sondern steigern. Die Osterfreude unterstützt diese große Hoffnung. Amen.
(c) Karl Kardinal Lehmann
Es gilt das gesprochene Wort
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz