Epochenschwelle?

Predigt zur Jahresschlussandacht 2015 im Hohen Dom zu Mainz

Datum:
Donnerstag, 31. Dezember 2015

Predigt zur Jahresschlussandacht 2015 im Hohen Dom zu Mainz

Ein Jahreswechsel bedeutet für uns Menschen immer einen Einschnitt. Er ist natürlich bei den einzelnen Menschen sehr verschieden: man blickt z.B. auf den Tod eines geliebten Menschen im zu Ende gehenden Jahr zurück oder ein bestandenes Examen, vielleicht auch auf einen Wechsel im Berufsleben. Aber insgesamt und über den Einzelnen hinaus haben wir über lange Zeit doch den Eindruck, es ändere sich nicht so viel. Freilich gibt es hier auch Ausnahmen, wie z.B. der Fall der Mauer mit dem Gewinn der deutschen Einheit 1989/90. Manchmal gibt es schon auch geradezu epochale Einschnitte, wie z.B. das Jahr 1968 mit geistigen Umwälzungen, die wir im Ausmaß oft erst später so richtig bemerkten.

Wenn nicht alles täuscht, dann ist das Jahr 2015 auch mit stärkeren Einbrüchen und Veränderungen verbunden als sonst. Ich möchte einige Perspektiven dieser Art hervorheben, bevor ich im Bistumshorizont auf einzelne Ereignisse zu sprechen komme. Ich verweise auf die ausführliche Chronik. Ich denke vor allem an folgende neue Akzente:

• Wir spüren immer stärker die Veränderungen unseres Klimas und des Wetters. Wir lassen uns jetzt nicht ein auf die manchmal törichten Streitereien, ob es nun einen Klimawandel gibt oder nicht. Es ist wohl unbestreitbar, dass durch die Veränderungen unseres Klimas unsere gegenwärtigen und vielleicht noch mehr künftigen Lebensbedingungen betroffen werden. Niemand weiß genau, woher im Einzelnen diese Wandlungen begründet sind. Gewiss haben die List und die Laune der Natur, die wir nicht durchschauen und schon gar nicht beherrschen, ihre Hand mit im Spiel. Aber genauso sicher ist auch, dass unsere Lebensweise, mehr und mehr auf der ganzen Welt, z.B. durch die CO2-Ausstoßungen, einen hohen Anteil daran hat. Auch bisher eher verschonte Länder spüren die stärkeren Belastungen. Der verdüsternde Smog in den Hauptstädten vieler Länder, nicht nur in China, erschreckt uns. Die Veränderungen sind ganz besonders groß am Nordpol, wo es zur Zeit über Null Grad Wärme hat, während sonst zu dieser Zeit -40 Grad fast selbstverständlich sind. Es ist keine Utopie mehr, dass manche Länder und besonders Inseln im Pazifik künftig von Wasser überdeckt sein werden. Nicht wenige Experten sind der Meinung, die Hitze könne in Teilen des Nahen Ostens und in Afrika so hoch werden, dass Menschen dort einmal nicht mehr werden wohnen können.
Wir wissen dies alles schon lange. Aber wir haben es verdrängt. Die weltweite Klimakonferenz gegen Ende dieses Jahres in Paris hat fast alle Staaten der Welt - ich meine, es wären am Ende 194 gewesen - vereint und ein schon lange gesuchtes Programm zur Eindämmung der Schäden vereinbart. Papst Franziskus hat mit seiner dritten Enzyklika „Laudato si" vom Mai 2015 die Alarmglocken schrillen lassen, dass man es überall hören musste, aber er hat auch den Luxus unseres Lebensstils gerade angesichts der Not der Armen in aller Welt gegeißelt. Zugleich hat er uns Maßstäbe aus unserem Glauben aufgezeigt, die es uns ohne Groll erleichtern sollen, unseren Machbarkeitswahn einzuschränken, bereit zu sein zum Schonen und Verzichten und die Ressourcen unserer Erde miteinander zu teilen, gerade auch im Blick auf die Zukunft und damit die kommenden Generationen.
• In diesem Kontext haben wir in diesem zu Ende gehenden Jahr auch die weltweite Flüchtlingskrise erfahren. Mehr als je nach dem Zweiten Weltkrieg sind nach Angaben der UNO zur Zeit 60 Millionen Menschen weltweit auf vielfach begründeter Flucht: Mangel an Wasser und Nahrung, kriegerische Auseinandersetzungen, totale Ungerechtigkeit, Hoffnungslosigkeit besonders junger Menschen im Blick auf Zukunftschancen, Verzweiflung wegen der Aussichtslosigkeit positiver Veränderungen; nicht zuletzt und leider mit steigender Tendenz die Flucht von aus religiösen Gründen Verfolgten. Gewiss, vom Anfang der Menschheit an gab es Vertreibung und Flucht. Aber wir haben mehr als bisher die Möglichkeiten zur positiven Veränderung. In Wirklichkeit sind jedoch die Reichen noch reicher und die Armen noch ärmer geworden. Jetzt spüren wir, wie die Menschen in den betroffenen Ländern sich nicht mehr einfach vertrösten lassen. Sie brechen auf und stürmen trotz aller Gefahren auf dem Meer und zu Land in Länder, die ihnen geradezu als Paradies versprochen werden. Wir werden an die Völkerwanderung erinnert. Bei uns erzeugen diese Menschenmassen - so muss man wohl schon sagen - aus der Fremde, anderen Kulturen und Religionen bei vielen Menschen Ängste und Protestbewegungen. Wie könnte es auch anders sein? Viele Menschen sind jedoch gerade angesichts unserer Lebensmöglichkeiten der Meinung, wir könnten diese Herausforderungen bestehen, auch wenn es nicht leicht festzusetzende Grenzen gibt. Viele Menschen in unserem Land - dies darf man gerade am Ende dieses Jahres sagen - haben durch ihre ungewöhnliche Hilfsbereitschaft gezeigt, wie viel Solidarität, manchmal verborgen, bei uns lebt und wachgerufen werden kann. Ein herzliches Vergelt's Gott vielen Haupt- und Ehrenamtlichen! Wir werden wohl auch in Zukunft damit leben können und müssen.
• Hinter dem Flüchtlingsdrama steckt noch ein tieferes Problem, das unsere Welt verändert. Wir haben jahrzehntelang immer wieder von der Globalisierung geredet: vor allem die modernen Medien haben uns kommunikativ näher zusammengebracht; wir wissen im Nu, wenn ein Unfall - wie immer er verursacht ist - irgendwo in der Welt geschieht, auch wenn es dabei wenige Opfer gibt; unsere wirtschaftliche Abhängigkeit ist eng verflochten mit sehr vielen anderen Weltregionen; wir bauen z.B. Autos mit vielen Bauelementen von beinahe überall her; bestimmte Konsumgewohnheiten verbreiten sich in der ganzen Welt. Aber rücken wir wirklich näher zusammen? Teilen wir glaubwürdig und ehrlich die Lebenschancen der Welt? Kann man dies überhaupt? Da wir fast alles wissen und täglich durch neue Nachrichten abgestumpft werden, mehren sich auch Gleichgültigkeit und mangelnde Sensibilität den Nöten der Welt gegenüber. Alle unsere Hilfen sind wie der berühmte Tropfen auf den heißen Stein.
Jetzt aber geschieht etwas, wenigstens in den bisherigen Dimensionen, Neues: Die globalisierte Welt ist nicht mehr statisch, weit von uns weg, irgendwie eine abstrakte Angelegenheit. Die benachteiligten und leidenden Menschen brechen auf und suchen selbst nach einer Verbesserung ihrer Lebenschancen. Angesichts der steigenden Not sind große Entfernungen für sie einschließlich der Gefahren unterwegs offenbar kein Grund zurückzuschrecken. Die Globalisierung zeigt ihre Auswirkungen nicht nur in fernen Ländern, sondern die betroffenen Menschen bringen sie in unsere Länder, ja sogar in unsere eigenen Häuser. Verzweifelt suchen viele nach Quartieren und Betten für sie. Ich bin fest überzeugt, dass damit etwas Grundlegendes in unserem Weltverhältnis erfolgt. Wir werden in vielem im Blick auf unsere Maßstäbe für ein gelingendes Leben umdenken müssen, nicht nur auf uns allein schauen dürfen, sondern diese „Fremden" an unseren eigenen Lebenschancen teilnehmen lassen müssen. Dies ist ein gewaltiger Schritt, der ohne so etwas wie eine biblische „Umkehr" wohl kaum gelingen kann.
• Dabei können wir schon entdecken, was sich bei uns selbst als Voraussetzung jeder Hilfe ändern muss. Europa macht bei diesen Herausforderungen eine jämmerliche Figur. Wir haben dabei besonders die Europäische Union im Blick. Waren schon die wirtschaftlichen Probleme in den letzten Jahren trotz vieler Erfolge durch die Einführung des Euro ernüchternd, so zeigen sich jetzt unverblümt fundamentale Risse in dem Grundgefüge nicht bloß der Euro-Länder. Viele sind auf den fahrenden Zug Europa weitgehend aus wirtschaftlichen Erwägungen aufgesprungen. Sie hatten weitgehend nur eine Besserung ihrer ökonomischen und finanziellen Verhältnisse im Blick, aber waren sie auch bereit, gemeinsame Aufgaben mitzutragen, wenn man dabei primär der Geber und nicht der Empfänger ist, vielleicht sogar einmal Opfer bringen muss? Jetzt zeigt sich, dass man weitgehend von solchen kollektiv-egoistischen Interessen ausgegangen ist, weniger von dem, was uns von der gemeinsamen Geschichte und dem geistigen Erbe sowie den ethisch-religiösen Werten trägt. Gewiss, auch Verfassungsgrundsätze stehen zunächst auf dem Papier. Aber spätestens heute müssen wir erkennen, wie jämmerlich die Diskussion z.B. um einen Gottesbezug in der Präambel europäischer Verfassungsdokumente erfolglos versandet ist. Haben wir nicht doch auf die Wirtschaft allein (dieses „allein" ist entscheidend) gesetzt? Wie schwach ist dieses Europa in Wirklichkeit? Muss man nicht um unsere Zukunft fürchten, wenn wir nicht aus dieser Ohnmacht herausfinden? Gerade die Ursprungskräfte Europas, besonders das Christentum (einschließlich des Judentums) und die klassische Antike, müssten uns zu einer neuen geistigen Gemeinsamkeit inspirieren, freilich im Durchgang durch Aufklärung und Moderne. Ich habe für mich leider oft den Eindruck, dass auch wir Kirchen zur Bewältigung dieser Krise bisher nicht viel beigetragen haben.

Mit diesen Perspektiven wollte ich zur Sprache bringen, was wir in diesem Jahr doch an wirklich Neuem erfahren haben. Gewiss, vieles war untergründig schon lebendig zu spüren. Aber es sind wohl Ereignisse und Faktoren, die auch unsere Zukunft prägen werden. Wir müssen uns geistig, spirituell und ethisch auf diese Sichtweisen umstellen und dabei wirklich von manchen Verirrungen abrücken und zu einem neuen Geist umkehren.

Dies ist für unsere Besinnung am Jahreswechsel am Ende wohl wichtiger als die Aufzählung unserer Verdienste vor Ort. Wir wollen diese gewiss nicht einfach vergessen. Sonst wären wir gegenüber vielen Menschen in Gesellschaft, Staat und Kirche undankbar. Ich will sie deshalb wenigstens ganz kurz nur aufzählen: Viele Menschen haben sich bei den PGR-Wahlen wieder zur Verfügung gestellt und an der Wahl teilgenommen. Wir haben viele Diakone und Priester, darunter auch jüngere, durch den Tod verloren. Wir spüren aber auch bei den Weihen, den Sendungen und Beauftragungen („missio canonica"), dass wir immer wieder die Bereitschaft junger Menschen erfahren dürfen, in den Dienst der Kirche einzutreten. Die Kirche bleibt jung, wie wir es auch bei vielen neuen Ideen und Bewegungen sehen können. Das neu formulierte kirchliche Arbeitsrecht hilft uns hoffentlich, persönliche und mehr kollektive Konflikte auszuhalten und zu lösen. Wir nehmen auch teil an den Bemühungen um den Abbau von Spannungen zwischen den Kirchen und um eine wachsende Einheit. Beim Reformationsgedenken im Jahr 2017 machen wir vor allem auch durch unsere große Ausstellung „Schrei nach Gerechtigkeit" im Dom- und Diözesanmuseum, die zeigt, wie die Menschen um 1500 lebten, mit. (Gehen Sie bitte bis zum 15. Januar 2016 hinein!) In den diözesanen Räten haben wir zwei größere Texte zur Taufpastoral und zu den Kindertagesstätten erarbeitet. Vor allem aber haben wir mit unserem Regens Dr. Udo Markus Bentz einen neuen Weihbischof, der den Weggang von Dr. Ulrich Neymeyr nach Erfurt ausgleicht. Größere Jubiläen stehen in den nächsten Jahren an: 1000 Jahre Wormser Dom, 1700 Jahre seit der Geburt des heiligen Martinus von Tours (*316), unseres Dom- und Bistumspatrons. Ja, und dann brauchen wir auch einen Nachfolger für mich, denn ich werde am 16. Mai 2016, dem Pfingstmontag, 80 Jahre, und dies ist auch eine unverrückbare Grenze für die Ausübung eines Amtes in der Kirche, abgesehen vom Papst. Bis dahin arbeite ich wie bisher gerne mit Ihnen zum Lob Gottes sowie zum Wohl und Heil der Menschen zusammen. Amen.

(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz