Erbarmen in einer kalten Welt

Gedanken zu Weihnachten

Datum:
Donnerstag, 24. Dezember 1998

Gedanken zu Weihnachten

In den Tagen der Weihnachtszeit beten wir: "Wir bitten dich: Dein ewiges Wort komme und wohne unter uns mit seinem Erbarmen." Beim Wort "Erbarmen" sträuben sich vielen Menschen heute die Haare. Ihnen fällt eher das Wort "erbärmlich" und "erbarmungslos" ein. Wir sind gewohnt, daß wir vieles, besonders auch Unterstützung im Sozialstaat, als Anspruch und Recht einfordern können. Gleichheit ist die große Forderung unter den Menschen. Angewiesensein auf Erbarmen beeinträchtigt für viele die Würde des Menschen, es ist demütigend und verletzend. Erbarmen und Barmherzigkeit erscheinen als eine vielleicht großzügig gemeinte, aber für viele herablassende Geste aus, mit denen ungleiche Verhältnisse befestigt werden.

Weihnachten verbindet jedoch die Zukunft der Welt eng mit dem Erbarmen Gottes. In Jesus Christus zeigt er uns, daß wir nicht von uns aus - auch wenn wir uns noch so bemühen - eine vollkommen gerechte Welt herstellen können, sondern daß uns immer wieder die vergebende und versöhnende Liebe Gottes zuvorkommen muß. Jesus selbst, der von Anfang bis zum Ende (vgl. den Kindermord des Herodes und den Tod am Kreuz) in eine erbarmungslose Welt kommt, bringt in seiner "verrückten" Liebe, die alles auf den Kopf stellt, in diese Welt das Erbarmen Gottes. Im Licht des Erbarmens haben alle Menschen die gleiche Würde. Allein sie kann uns letztlich anspornen, mehr Gerechtigkeit in der Welt zu verwirklichen. Es ist nicht umgekehrt, wie wir oft denken, daß das Einfordern der Rechte von sich aus allein alles erreichen kann. "Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit ist Grausamkeit; Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit bedeutet Zerfall." (Thoms von Aquin) Eine Welt ohne Erbarmen wäre eine Welt kalter Gerechtigkeit. Die sich erbarmende Liebe Gottes, die mit Weihnachten sichtbar und greifbar in die Welt gekommen ist, ist in Wahrheit die stärkste revolutionäre Kraft der Welt. Sie kann auf die Dauer am meisten spröde und unbewegliche Strukturen der Macht aus den Angeln heben und so die Beziehungen unter den Menschen positiv verändern. Brutale Zerstörung hat keine Zukunft.

Wir brauchen heute dringend diese Anstöße des Erbarmens und der Liebe für mehr Gerechtigkeit in der Welt. Letztlich kann nur die unverdrossene Liebe die Gewalt in der Welt brechen. Wenn wir den anderen und oft fremden Menschen nicht stärker aus Mitmenschlichkeit annehmen, reicht unsere Kraft nicht, um ihn vom Elend und von unmenschlichen Abhängigkeiten zu befreien. Dies geht aber nur, wenn wir wirklich Mit-leid haben, also fremdes Leid, das in und durch Solidarität zu unserem eigenen wird, wahrnehmen und von da aus uns nicht von Versöhnung und Nächstenliebe abbringen zu lassen. Die Rettung des Menschen braucht diese unwiderstehliche Kraft des Erbarmens. Darum soll kein Mensch in der Not äußerer und innerer Armut, in Leid und Krankheit, in Gefängnis und Heimatlosigkeit, in Todesgefahr und Sterben mutterseelenallein bleiben, sondern immer soll ihn eine ausgestreckte, zuvorkommende Hand erreichen. Dies gilt erst recht für den Schutz des menschlichen Lebens am Anfang und am Ende unserer Existenz. Wer nicht Erbarmen hat mit der Ohnmacht des Kindes, der Hilflosigkeit des Kranken und der Schwäche des alternden Menschen, wird leicht rücksichtslos und ist versucht, sich an ihrer Würde zu vergreifen. Unsere Zivilisation des menschlichen Fortschritts und der technischen Möglichkeiten, die nicht selten gerade im Bereich des Menschlichen forsch und rücksichtslos ans Werk gehen, braucht Barmherzigkeit, wenn sie nicht zerstörerisch werden wollen. Nur so können wir die bedrohte Menschlichkeit retten und wieder herstellen. Erst recht gilt dies, wenn wir armen, bedrängten und im Elend lebenden Menschen selbstlos helfen wollen, wie dies in der diesjährigen Adveniat-Sammlung an Weihnachten für Kuba geschieht. Die Kultur der Liebe braucht die Barmherzigkeit als immerwährenden Stachel für neue Antriebe. Nicht zuletzt gilt dies auch für das zwischenmenschliche Verhältnis, vor allem zwischen Mann und Frau, in Ehe und Familie. Gestörte Verhältnisse können nur in der Vertiefung der Liebe und in der Vergebung geheilt werden.

Die Überlieferung hat, ohne die Werke der leiblichen und geistlichen Barmherzigkeit erschöpfend darstellen zu wollen, Grundelemente für dieses Verhalten vor Augen gestellt, die auch heute noch gültig sind. Als Werke der leiblichen Barmherzigkeit zählen: Hungrige speisen, Durstige tränken, Fremde aufnehmen, Nackte kleiden, Kranke besuchen, Gefangene befreien, Tote bestatten; die geistigen und geistlichen Werke der Barmherzigkeit sind nicht minder aufschlußreich: Unwissende lehren, Zweifelnden raten, Trauernde trösten, Irrende zurechtweisen, Unrecht ertragen, Beleidigungen verzeihen, für Lebende und Tote beten.

Barmherzigkeit ist nicht eine abstrakte Forderung. Gott selbst ist in Jesus Christus mit seinem ganzen Erbarmen und seiner vollen Menschenfreundlichkeit in die Welt gekommen.. Das Kind in der Krippe ist das Licht des Erbarmens Gottes für die Welt. Es ist nach wie vor die stärkste Kraft der Veränderung.

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz