Eröffnung beim Ökumenischen Vespergottesdienst anlässlich des 50. Jahrestages der Unterzeichnung der Römischen Verträge

am Sonntag, 25. März 2007, in Berlin (Berliner Dom)

Datum:
Sonntag, 25. März 2007

am Sonntag, 25. März 2007, in Berlin (Berliner Dom)

Zum Menschen gehört das lebendige Gedächtnis. Wir leben in der Geschichte mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es ist nicht immer leicht, die verschiedenen Zeitdimensionen auf einmal gegenwärtig zu halten. Oft leben wir viel zu sehr vom Heute und haben nicht selten vergessen, was war, vor allem aber was uns auch heute und morgen noch bestimmt.

So ist es wohl auch mit der Europäischen Union. Wir leben nicht mehr in isolierten Nationalstaaten, sondern in einem größeren Verbund mit 27 Staaten. Am heutigen Tag sind es 50 Jahre, dass die sechs Gründerstaaten der heutigen Europäischen Union (Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und Niederlande) durch die sogenannten Römischen Verträge frühere Vereinbarungen (1951) über eine Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl mit einem gemeinsamen Markt (die „Montanunion“) auf alle Wirtschaftsbereiche ausgedehnt haben. Damit haben sie so etwas wie den Startschuss abgegeben für das Zusammenwachsen der heute in der Europäischen Union zusammengeschlossenen Staaten.

Dies ist nicht bloß ein äußerer Beginn. Es ist ein Anfang, der tief gründet, aber sich mit diesem zeitlichen Datum nicht erschöpft. Manches war gewiss schon während des Zweiten Weltkrieges und in der Nachkriegszeit vorbereitet. Aber die Idee der Europäischen Einheit, die z.B. Winston Churchill in der berühmt gewordenen Züricher Rede vom September 1946 forderte, nämlich „etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa zu schaffen“, war zuerst politisch nicht wirksam. Europa blieb nur eine Idee, ohne Unterstützung durch die Realpolitik. Der „Eiserne Vorhang“, der sich in dieser Zeit auf Europa niedersenkte, und die Wahrnehmung einer neuerlichen Bedrohung aus dem Osten haben aber nun eine erstaunlich rasche politische Dynamik eben bis zu den Römischen Verträgen in Gang gebracht. Die Verträge wurden heute vor 50 Jahren im „Kapitol“ geschlossen. Damit ist nicht nur das alte Rom beschworen worden, das einst weite Teile Europas beherrscht hatte, sondern kein geringerer als Reinhold Schneider bezeichnete den Ort der Vertragsunterzeichnung als „Brunnenstube gegenwärtiger europäischer Geschichte“.

Diesen Ursprung dürfen wir nicht vergessen. Ohne eine zündende Idee wäre diese Gemeinschaft nie zustande gekommen. Es waren vor allem Politiker, die zu einem großen Teil auch engagierte Christen waren und die sich nach den Erfahrungen der nationalsozialistischen und stalinistischen Gräuel zu einem neuen Europa verschworen haben: Jean Monnet, Robert Schuman, Konrad Adenauer, Alcide De Gasperi, Winston Churchill, Charles de Gaulle, Henri Spaak. Wir verdanken das neue Europa vor allem diesen Wegbereitern und Gründungsvätern. Die großen Frauen und Männer gestalten eben doch mehr Geschichte, als wir heute oft wahrhaben wollen. Sie haben aus dem blutigen Gegeneinander vor allem des 20. Jahrhunderts die Konsequenzen gezogen, unterstützt auch durch Schriftsteller, Dichter und Philosophen. Die Europaidee fand auch in den Kirchen schon früh und immer größere Unterstützung, vor allem auch bei allen Päpsten des 20. Jahrhunderts.

Der Schwung ist vielfach erlahmt. Freilich ist dennoch in diesen 50 Jahren viel erreicht worden. Viele nehmen freilich eine zunehmende Vorherrschaft ökonomischer Interessen wahr. Die Brüsseler Büro- und Technokratie wurde geradezu sprichwörtlich. Brüssel regiert bis in viele kleine Gesetze hinein, wurde unübersichtlich und beinahe anonym. Die politische Verantwortung im Parlament und in der Präsidentschaft des Rates wurde nicht so deutlich wie der mächtige Apparat. Kein Zweifel, es musste in diesem vielgestaltigen Europa durch eine effiziente Verwaltung auch nicht weniges koordiniert, ausgeglichen und korrigiert werden. Aber dass Europa am Ende besonders eine Gemeinschaft kultureller Errungenschaften und Werte sein muss, wurde mehr und mehr verdunkelt.

Aber lassen wir diese Klagen. Die Dinge sind auch hier immer komplizierter. Es gibt keine wahre Alternative zur tatkräftigen Verwirklichung der Europa-Idee. Aber woher nehmen wir am Ende die Kräfte und Motive für alle diese Bemühungen? Religion und Glaube helfen gerne mit am Anfange eines neuen Aufschwungs. Wir danken Ihnen, verehrte Frau Ratspräsidentin und Bundeskanzlerin, für Ihr klares Wort: „Für mich persönlich ergibt sich dieses Verständnis vom Menschen auch aus den jüdisch-christlichen Wurzeln Europas.“ In der Zwischenzeit sind wir aufgewacht, gewiss viel nüchterner. Aber wir brauchen mehr geistig-spirituelle Gemeinsamkeit, ohne dass die kulturelle Vielfalt zerstört werden dürfte. Manche Pioniere von damals meinten, wenn sie noch einmal anfangen könnten, würden sie es mit der Kultur versuchen.

Im 50. Jahr des Abschlusses der Römischen Verträge haben wir eine große Chance, die Europaidee von Grund auf vitaler und spiritueller zu begreifen. Wir müssen Europas fremd gewordene Fundamente dazu wieder neu entdecken. Es ist nach wie vor ein Wunder, dass dieser zerstrittene Kontinent in wenigen Jahrzehnten eine erstaunliche Einheit finden konnte und seit mehr als 60 Jahren in Frieden leben darf. (Sehen wir einmal auch als Zeichen und Mahnung vom Krieg im ehemaligen Jugoslawien ab!) Wirklich ein Glücksfall für Europa und die Welt (J.-Cl. Juncker)!

Die Übernahme der Präsidentschaft des Rates der Europäischen Union auf ein halbes Jahr durch Deutschland gab und gibt eine einzigartige Gelegenheit, um einen neuen Schwung zu versuchen. Dieser verlangt erneut das intensive Engagement aller Christen. In diesem Sinne darf ich Sie, zugleich im Namen meiner Brüder Bischof Prof. Dr. Wolfgang Huber und Seiner Eminenz Metropolit Augoustinos, auffordern, mit uns für das bisher Erreichte zu danken und um Gottes lebendigen Geist für die Zukunft zu bitten.

(c) Karl Kardinal Lehmann

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz